Gesellschaft

Heiligsprechung

„Sturm über Washington“ ist ein Film des Regisseurs Otto Preminger aus dem Jahr 1962. Darin geht es um Machtkämpfe, Intrigen und Mauschelei im US-Kongress bei der Vergabe eines hohen Postens. Kommt einem nicht sehr fern vor dieses Sujet. Der „Sturm über Washington“ wird dieser Tage sehr oft dramatisch bemüht. Dabei allerdings nicht der ausgezeichnete Film mit Schauspielgrößen wie Henry Fonda und Charles Laughton gemeint. Es geht um den 6. Januar 2021 und den tobenden Mob vor und im US-Kongress. Von 330 Millionen US-Bürgern waren etwa 800 Leute, auch „Aufrührer“ genannt, illegal wie unbefugt und tobend, dabei klauend und pöbelnd in das Gebäude von Senat und Repräsentantenhaus eingedrungen. Was ein Jahr später in den USA nur noch Medien und die politische Elite in Washington beschäftigt, wird hierzulande wieder ausgeschlachtet, als hätte man eben den Mann im Mond entdeckt. Den Durchschnittsbürger in den Staaten treibt es eher weniger um, was in der Politikblase am Potomac River so brodelt. Schon gar nicht, was da vor einem Jahr kochte. Man hat dort drüben wahrlich andere Sorgen und Nöte. Bei uns offensichtlich nicht. Der sogenannte Kapitol-Sturm zu Washington durch eine Horde von durchgeknallten Idioten ist in unseren Gefilden epochales Wochenthema. Derweil wird übrigens eine Machart des sich im Januar 2021 in Washington gerierenden Mobs, so dieser sich in unseren deutschen Breitengraden in anderen Zusammenhängen zeigt, von Medien als „Spaziergänger“ verharmlost. (Dadurch nebenher noch eine ehrwürdige Form der Entspannung und Fortbewegung unschuldig in den Schmutz gezogen.) So flott ändern sich Perspektiven, sobald man auf den Dreck vor der eigenen Haustür blickt.

Sogar die seriöse wie geschätzte Süddeutsche Zeitung holt weit aus: „Anschlag auf ein Heiligtum der Demokratie“. Meinte damit, was über Personal und Gebäude des US-Kapitols (Kongress: Senat/Repräsentantenhaus) am 6. Januar 2021 durch jenen Mob und dessen Haltung/Gesinnung gebracht wurde. Über das selbige „Heiligtum“ schrieb die SZ schon im Jahr 2014 ernüchternd und sachlich: „Zeitenwende in Washington: Erstmals haben mehr als die Hälfte der Senatoren und Abgeordneten ein Vermögen von mehr als einer Million Dollar. Schuld an der Geld-Obsession sind vor allem die teuren Wahlkämpfe. Die negativen Folgen spüren die US-Bürger jeden Tag.“ Hört sich weder groß nach Demokratie noch nach „Heiligtum“ an, eher nach „Goldenes Kalb“. Einen Ort von Multimillionären, an dem aktuell fast nur noch Lobby-, Milliardärs- und Millionärsinteressen gewahrt und wahrgenommen werden, als „Heiligtum der Demokratie zu stilisieren, ist einige Nummern zu dicke. Es sei in Erinnerung gerufen, was Abraham Lincoln 1863 sagte: „Demokratie: die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk.“ Solche Worte verdienen Erinnerung und Bewahrung. Die dahinter zu erkennende Gesinnung darf man getrost als ein „Heiligtum der Demokratie“ bezeichnen. Aber einen Versammlungsort von Multimillionären und Lobbyisten so zu überhöhen, dessen Arbeit täglich „negative Folgen für US-Bürger“ spürbar macht? Eine Nummer kleiner wäre auch im Fall einer berechtigten Empörung passender und ein Stück weit ehrlicher.

*Beitragsbild: Francine Sreca auf Pixabay

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