Gesellschaft

Ampel in die Ungewissheit

„Die Bekämpfung der COVID 19 Pandemie ist das größte Versagen der politisch Verantwortlichen seit Bestehen der Bundesrepublik. Und das in dem Land, in dem der beste Impfstoff entwickelt wurde.“

(Ulrich Deppendorf, ehemaliger Leiter ARD-Hauptstadtstudio, 19. November 2021, Twitter)

Man kann Deppendorf nicht völlig widersprechen. Sein hartes Urteil trifft gleichermaßen die alte wie die neue Regierung. Doch verteilt er den Schwarzen Peter zu einseitig an die Politik. Das in Deutschland gewachsene Pandemiedesaster ist auch ein trauriges Bürger- und Gesellschaftsversagen. Unsere Zivilgesellschaft gibt in der Pandemie kein gutes Bild ab. Das meint uns alle. Auch jeder geimpfte Bürger muss sich hinterfragen. Was hat man zur Vorsicht beigetragen, wo war man nachlässig? Impfgegner und Verweigerer müssen sich die Frage gefallen lassen, wo ihr Irrweg enden soll? Wenn nur eine Impfpflicht den lebensbedrohlichen Wahnsinn einer verbohrten Minderheit beenden kann, dann brauchen wir genau diese Impfpflicht eben sofort. Bevor man nun über die künftige Regierungskonstellation redet, muss natürlich an die Vorgängerregierung und auch an den aktuellen Bundesrat erinnert werden, die beide in der Pandemie ein ziemliches Versagen verantworten und dieses nicht in den Skat drücken können. Dabei ist die Kanzlerin Angela Merkel zumindest im Fall der Pandemie sogar etwas in Schutz zu nehmen. Sie warnte und mahnte von Beginn an, war an der Seite von Ratio und Wissenschaft. Doch gegen die Unfähigkeit mancher Minister, die ihr natürlich anzurechnen und welche sie verantwortet, sowie die teilweise freche Ignoranz einiger wissenschaftsferner Ministerpräsidenten kam auch sie nicht an. Was die gelernte Physikerin oftmals fast verzweifeln ließ.

Nun der Neuanfang. Wirklich? Die baldige politische Ampel hat das Kunststück vollbracht, auf offener Bühne schwach anzufangen und dann noch nachzulassen. Sie trägt gerade die letzten Hoffnungen und Träume der jungen Generation zu Grabe. Den Wählern von SPD und Grünen wird dabei relativ schamlos der Mittelfinger gezeigt. Eine historische Chance wurde verspielt und was noch schlimmere Folgen nach sich ziehen wird, Land und Leute sind der FDP und deren Politik ausgeliefert. Der FDP Chef begnügt sich nicht mit dem persönlichen Triumph als künftiger Finanzminister. Weitere Schlüsselministerien holte er unter das Dach dieser kleinsten Partei im Ampelbündnis. Nie war eine 11 Prozent-Partei mächtiger. Grundlage dafür die dilettantische Leistung von SPD und Grünen in Sondierungsgesprächen und den Koalitionsverhandlungen. Amateurhaftes Verhandlungsungeschick, welches noch in Jahrzehnten für Verwunderung sorgen wird. Heribert Prantl, langjähriger Autor und erfahrener Politikbeobachter für die Süddeutsche Zeitung, brachte es unter der Überschrift „Gedeih für die FDP, Verderb für die Grünen“ auf die Formel: „Wenn die Grünen das Finanzministerium der FDP überlassen, haben sie schon verloren. Klima-, Verkehrs- und Agrarwende werden verhungern. Sie sind die Partei der programmierten Enttäuschung.“ Genau so wird man künftig die grüne Partei in ihrer eigenen Wählerschaft sehen: „Programmierte Enttäuschung“

Robert Habeck. Die Grünen kläglich an der FDP gescheitert. (Foto: Jörn Eichenauer auf Pixabay)

Was treibt derweil den designierten Kanzler Olaf Scholz um und an, wenn er sehenden Auges die nächste Regierung zum Werkzeug von FDP Politik macht? Wo bleibt der Aufschrei der SPD bei diesem Possenspiel? Olaf Scholz hat einen historischen Moment verpasst. Das Land benötigt den entschlossenen Versuch eines Befreiungsschlages aus der Pandemie. Mit Tatkraft dieses Land aus der Lethargie eines völligen Politikversagens und der daraus erwachsenden Pandemiekatastrophe zu zerren, hätte eines Regierungschefs mit Statur benötigt. Olaf Scholz ist aber kein Helmut Schmidt, was auch Angela Merkel leider nie war. Beiden ist dies nicht vorzuwerfen, sie sind durch andere Zeiten geprägt. Schmidt wurde am 16./17. Februar 1962 als Hamburger Innensenator zum Retter von Zehntausenden Menschen durch seine Entschlossenheit und ein unbürokratisches Krisenmanagement. Er schaffte in jenen Katastrophentagen Fakten, nahm sich Befugnisse, die er nicht hatte, brach zur Rettung von Leben auch Gesetze. Der Einsatz der Bundeswehr war wohl rechtlich nicht erlaubt, Schmidt setzte sie dennoch ein. Helmut Schmidt ließ sich im Angesicht einer Katastrophe nicht von Vorschriften, Behördenregeln, Zuständigkeiten oder gar Paragrafen hindern, Bürokraten wagten sich nicht in seinen Weg. So rettete er Leben. Getreu seinem Motto: „Denn keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft.“ Diese hohe Professionalität in der Krise ließ ihn als Kanzler auch die spätere Herausforderung im Kampf um das Leben der Geiseln in der Landshut-Maschine bewältigen. Das Wort Macher passte ihm stets wie ein Maßanzug.

Olaf Scholz erinnert und bezieht sich bei Gelegenheit gern auf die Altvordern in seiner Partei. Offensichtlich leider nicht als Vorbild und Ansporn. „Da wächst was zusammen“ lehnt sich an ein legendäres Wort von Willy Brandt. Scholz wandelt es ab und bezieht es auf das künftige Ampelbündnis. Das Trio, welches da angeblich zusammenwächst, in dem die an Wählerstimmen schwächste Partei das Regiment führt und deren Vorsitzender sich schon seit Wochen wie ein allmächtiger Schattenkanzler gebärdet, wuchert eher ineinander. Den Grundton bestimmt dabei ein Klassiker der FDP Drohkulisse „wenn ihr nicht macht, was wir wollen, spielen wir nicht mit“. Erstaunlich daran, wie einfach es ist, die SPD und die Grünen zu degradieren. Manifestiert wird die sich ankündigende FDP Herrschaft durch Meldungen, die FDP werde wohl das Gesundheitsministerium bekommen. Man muss es sich einmal vor Augen führen. Jene Partei, die in der gesamten Pandemie den Freiheitsbegriff ständig mit Verantwortungslosigkeit verwechselte und diesen gefährlichen Irrtum noch propagierte, wird künftig federführend über die Corona-Politik und unsere Gesundheit entscheiden. Es war die FDP, die im März dieses Jahres am eifrigsten das Ende der Pandemie ausrief, gleichzeitig viele der notwendigen Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen, heftig kritisierte und ablehnte. So agieren also künftige Hüter des Gesundheitswesens. Eine Bankrotterklärung für die SPD und die Grünen, ein totales Fiasko für unser Land. Sollte es wirklich dazu kommen, ein persönliches Scheitern von Olaf Scholz schon vor Amtsantritt.

Olaf Scholz. Kapitulation vor der FDP. Historische Chance vertan. (Foto: Tobias Rehbein auf Pixabay)

Was Stefan Zweig 1927 in die Feder floss, die „Sternstunden der Menschheit“ sind Weltliteratur. Darin finden sich Sätze, die frappierend an Olaf Scholz erinnern und staunen machen: „Das Schicksal drängt zu den Gewaltigen und Gewalttätigen. Jahrelang macht es sich knechtisch gehorsam, einem einzelnen hörig: Cäsar, Alexander, Napoleon; denn es liebt den elementaren Menschen, der ihm selber ähnlich wird, dem unfassbaren Element. Manchmal aber, ganz selten in allen Zeiten, wirft es in sonderbarer Laune irgendeinem Gleichgültigen sich hin. Manchmal – und dies sind die erstaunlichsten Augenblicke der Weltgeschichte – fällt der Faden des Fatums für eine zuckende Minute in eines ganz Nichtigen Hand. Immer sind dann solche Menschen mehr erschreckt als beglückt von dem Sturm der Verantwortung, der sie in heroisches Weltspiel mengt, und fast immer lassen sie das zugeworfene Schicksal zitternd aus den Händen. Selten nur reißt einer die Gelegenheit mächtig empor und sich selber mit ihr. Denn bloß eine Sekunde lang gibt sich das Große hin an den Geringen; wer sie versäumt, den begnadet sie nie mehr ein zweites Mal.“ Scholz hat es versäumt. Mit der politischen Tat, die FDP an Bord zu holen, hat er seine und unser aller Chancen vertan. Im Angesicht der Herausforderung entpuppte er sich leider als Gleichgültiger, wo er ein Gewaltiger hätte sein müssen. Willy Brandt zitierte oft einen Satz von Julius Leber, eines aufrechten Sozialdemokraten, Hitler-Gegner und Widerstandskämpfer, am 5. Januar 1945 von den Nazis ermordet. Leber sagte einmal: „Große Führer kommen fast immer aus dem Chaos, aus der richtigen Ordnung kommen sie selten, aus der Ochsentour nie.“ Brandt fügte dem in seinem Buch „Erinnerungen“ hinzu: „Leber selbst, hätte er überlebt, wäre ein großer Führer geworden. Aus dem Chaos kam er allemal.“ (Das Wort Führer mag unglücklich gewählt, hat jedoch weder bei Brandt noch bei Leber etwas anrüchiges, dafür steht ihr beider ganzes Leben, einer bezahlte sogar damit.) Keine Ahnung, ob Olaf Scholz die Passage kennt, die „Erinnerungen“ von Brandt gelesen hat. So etwas kann man bei Sozialdemokraten der Schröder-Ära leider nicht mehr voraussetzen.

Olaf Scholz hätte vor den Deutschen Bundestag treten sollen und dort eine auf ein Jahr begrenzte Allparteienregierung vorschlagen, natürlich unter Ausschluss der AfD. Für solch ein Bündnis gibt es einige historische Vorbilder. Winston Churchill hat mit Amtsantritt im Angesicht der Bedrohung Großbritanniens vor der Nazibarbarei sofort eine Allparteienregierung gebildet. So eine Formation der Regierung unter dem Kanzler Scholz hätte sich dem Kampf gegen die Pandemie und deren Folgen verschreiben müssen. Alle Fraktionen einbeziehen, um damit ein großes Bevölkerungsspektrum abzudecken, damit auch alle Parteien zu binden, die im Bundesrat vertreten, um der Länderkammer ihre Blockadefreude und Kleinstaaterei zu nehmen. Dieses Bündnis aus SPD, FDP, Grünen, CDU und auch Linke hätte die FDP um ihr Erpressungspotenzial gebracht. Sich ausschließen wäre der FDP dennoch schwerlich möglich gewesen. In so einem nationalen Notstand hätte auch die CDU sich kaum verweigern können, egal ob ihre Motive zum Mitmachen edel oder eher Eigennutz. Sicher hätte es allerhand Budenzauber wegen der Linken gegeben. Wobei es gerade Die Linke mit ihrer Sektiererei war, die mit einem desaströsen Wahlergebnis die Steilvorlage für Lindners Siegtreffer zur Macht lieferte. Die Grünen wären wohl dabei gewesen. Welche Partei hätte ohne Schaden zu nehmen, vor Augen und Ohren der Öffentlichkeit weiter Parteigezänk betrieben und den Ruf zur vorübergehenden Einheit im Angesicht einer drohenden Katastrophe verweigert?

Christian Lindner. Deutschlands künftiger Schattenkanzler. (Foto: Kevin Schneider auf Pixabay)

Solch eine Überlegung mag reichlich naiv klingen, allen üblichen Politikbräuchen absolut widersprechen, dennoch scheint es ein Weg aus der Sackgasse eines vorgezeichneten Politikversagens. Es wäre ein neuer Weg in unserem Land, aber mit einer kühnen und mutigen politischen Tat möglich. Am Anfang dann sofort zusammenraufen und eine Impfpflicht über Deutschland bringen, ein Signal, dass nicht hätte stärker sein können. Wir stellen alle das Land und die Menschen über unser Parteigezänk wäre ein gutes Motto für einen starken Aufbruch gewesen. Hätte, hätte Fahrradkette. Scholz ist nicht Schmidt, Brandt oder Churchill, woraus man ihm, wie schon gesagt keinen Vorwurf machen darf. Er mag redlich sein und honorig, ist dennoch kein Macher. Wo ein Staatsmann erforderlich, da ist Olaf Scholz Politiker geblieben. Für eine historische Chance oder die Bewältigung einer Katastrophe ist das leider zu wenig.

*Titelbild: WikimediaImages auf Pixabay

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