Kultur

Melancholie und Schauspielkunst

Giganten der Filmbranche, darunter etliche Genies ihres Fachs, haben nie einen Oscar bekommen. Musterbeispiel der Regisseur Stanley Kubrick, der 1969 mit dem Jahrhundertfilm „2001: A Space Odyssey“ leer ausging. Den Oscar als bester Regisseur bekam damals der ehrenwerte Carol Reed für eine hausbackene Oliver Twist Verfilmung. Auch solche Regie-Koryphäen wie Sergio Leone oder Alfred Hitchcock haben keinen Oscar gewonnen. Mimen wie Edward G. Robinson, Peter Sellers, Richard Burton, Harvey Keitel, Albert Finney und weitere Edle der Zunft gingen ebenfalls leer aus. Die große Schauspielerin Deborah Kerr in früheren Jahren, die gigantische Helena Bonham Carter und die geniale Isabelle Huppert heutzutage blieben allesamt ohne Oscar. Die Liste ließe sich spielend fortsetzen. Durch die Namen, die den Preis nicht bekommen, relativiert sich der künstlerische Wert dieser Krone aller Filmpreise dann doch etwas. Eine, die bisher ohne Oscar, die famose Annette Bening. Ginge es um Können, hätte sie die Statue allemal für mehrere Rollen längst im Schrank. Besonders wegen ihr, doch nicht nur wegen ihr soll hier an einen Film erinnert werden, der 2017 in die Kinos kam, diese eher beiläufig durchlief und in unserem schnelllebigen Streamingdienst-Zeitalter wahrscheinlich längst vergessen. Dennoch empfiehlt es sich für jeden, der diesen kleinen und äußerst gelungenen Film nicht kennt, diesen zu entdecken und damit eine gute Zeit zu haben. Ironie der Geschichte, Annette Bening spielt darin eine ehemalige reale Oscar-Gewinnerin.

Glanzrolle: Annette Bening als Gloria Grahame in „Stars Don’t Die in Liverpool“

Die Rede ist vom Film „Stars Don’t Die in Liverpool“ (Deutscher Verleihtitel: „Filmstars sterben nicht in Liverpool“). Wer immer sich den klobigen Titel ausdachte, er trifft den Kern, bleibt sperrig und klingt nicht unbedingt einladend. Er mindert allerdings nicht das Vergnügen an einem außerordentlichen Schauspielfilm, der aufzeigt, was Schauspieler, Film und Kino einmal waren und immer noch sein könnten, bevor Computeranimation und Special effects Leinwand und Köpfe eroberten. Es lässt sich ein grandioses Schauspielerensemble bei der Arbeit bestaunen, selbst kleinste Rollen sind Schauspielerrollen. Das Drehbuch ist stimmig, eine makellose Regie hält die Handlung gut zusammen, Kamera und Schnitt glänzen durch manchmal schmerzhafte Nähe, ohne dabei je voyeuristisch zu sein, die Ausstattung macht Zeit und Orte glaubhaft. Der Film spielt Ende der Siebziger-/ Anfang der Achtzigerjahre in London, Liverpool, New York und Kalifornien. Zuschauer bekommen hohe Qualität geboten. Der Versuchung, eine triviale Beziehungsschnulze zu erzählen und Trivialitäten von der Leinwand zu gießen, ist niemand in dieser Filmcrew erlegen. Der Streifen umschifft jeden Zuckerguss und die übliche klischeehafte Eindimensionalität bravourös. Man wohnt stattdessen dem Leben von Menschen bei und keiner handelsüblichen Schmiere von Liebe, Leid und Happy End. „Stars Don’t Die in Liverpool“ spiegelt die letzten zwei Jahre aus dem realen Leben der Schauspielerin Gloria Grahame (1923 – 1981), die 1948 einen Oscar gewann, mit berühmten Kollegen wie Humphrey Bogart, Kirk Douglas, Joan Crawford und Lee Marvin vor der Kamera stand und unter Regisseuren wie Fritz Lang und Vincente Minnelli drehte. Gloria Grahame hatte ein erstklassiges Filmjahrzehnt, dann folgte der schleichende Abstieg aus Glanz und Ruhm. Dabei bewahrte sie dennoch ihre Würde und eine eiserne Professionalität. Am Ende des Lebens von Gloria Grahame, zu dem auch vier Ehen und vier Kinder gehörten, stand eine intensive Affäre mit dem britischen Bühnenschauspieler Peter Turner. Er Ende zwanzig, sie Mitte fünfzig. Ihre letzte Affäre. Im Alter von 57 Jahren erlag Grahame ihrem Brustkrebs.

Kein Entrinnen vor Leben und Tod: Gloria Grahame (Annette Bening)

Annette Bening haucht Gloria Grahame schon mit der ersten Szene Leben ein und gibt dem Film seine eindringliche Richtung vor. Eine einstige Diva des Kinos in mittleren Jahren, im frühen Hollywood schlichtweg als Sexbombe tituliert, arbeitet längst an der Peripherie des großen Films in Nebenrollen. Mit dem verblassenden Ruhm schwindet zeitgleich die Gesundheit. Bening/Grahame sitzt irgendwo in England in einer Theatergarderobe, packt ihre Schminktasche aus, drückt einen alten Kassettenrekorder. Es erklingt Elton Johns Instrumentaltitel „Song for Guy“. Dieser wird im Film noch oftmals anklingen, Bening/Grahame und uns begleiten. Wie sie die Utensilien aus ihrer Tasche holt und betrachtet, darunter ein Etui mit Widmung von Humphrey Bogart, lässt den früheren Glanz erahnen. Eher beiläufig landet eine Morphiumtablette im Milchglas. Vergangenheit und Gegenwart spiegeln sich in Benings Gesicht, ihr Lächeln wirkt dabei melancholisch, eher dankbar als verzweifelnd. Gloria Grahame ist Profi und für den Auftritt bereit, ein letzter Zug an der Zigarette, dann der Zusammenbruch unter Schmerzen. Im Krankenhaus will sie nicht bleiben, lieber zu einem ihr emotional abhandengekommenen Peter Turner in das Haus von dessen ehrlichen und herzlichen Eltern, Teil einer klassischen Arbeiterfamilie in Liverpool. Die Mutter des Hauses wird von Julie Walters gespielt, wie üblich mit großer Zurückhaltung aus der Intensität wächst. Dieses Liverpooler Refugium wird Grahame nur noch zum Sterben Richtung New York verlassen. Der unvermeidliche wie endgültige Abschied zeigt ein Schauspielerensemble auf der Höhe seiner Kunst. Kein Zuckerguss, kein billiges Klischee, keine Tränendrüse, keinerlei Trivialität, nur pures Leben und ganz großes Kino, geschaffen von Schauspielern, die diesen Namen noch verdienen.

Glück kann eine einfache Sache sein. (Peter und Gloria in der Londoner U-Bahn)

Jener letzte Besuch im Hause Turner löst in der Folge mehrere Rückblenden aus, um den Zuschauern die Geschichte von Gloria und Peter zu erzählen. Die Zeitsprünge und Ortswechsel gehen nahtlos wie verständlich ineinander über. Eine Meisterleistung von Regisseur Paul McGuigan. In einer Rückblende die erste Begegnung. Peter sieht Gloria als neue Bewohnerin in einer abgewetzten Londoner Pension. Sie sprüht vor Lebensfreude, macht Tanz- und Sprachübungen. Sie lädt ihn spontan zum Tanz in ihr Zimmer und später ins Kino ein. Danach geht’s in einen Pub. Dort sagt sie ihm: „Ich mag Gewohnheiten, besonders die schlechten.“ Nach der Heimfahrt mit der Londoner U-Bahn tanzen sie Boogie-Woogie und landen in ihrem Bett. Die Anziehungskraft wirkt weder gespielt noch aufgesetzt, sie scheint real. Irgendwann gesteht Gloria diesem sympathischen Peter sogar ihren unerfüllten Lebenstraum, die Julia auf der Bühne des Royal Shakespeare Theaters zu spielen. Aus diesem Geständnis erwächst später einer der emotionalen Höhepunkte des Films. Ein seltsames und sehr menschliches Paar entsteht da vor unseren Augen. Liebe und Streit, Zuneigung und Zorn halten zwei Menschen in Atem, die sich magnetisch anziehen. Wo er kämpft für diese Liebe, schwinden bei ihr die Kräfte. Alles ist auf zu wenig Zeit gebaut. Eine schöne und gleichermaßen tragische Romanze ohne jeden Anflug von falscher Süße nimmt ihren Lauf. Ein Verdienst auch von Jamie Bell, der als tanzendes Kind in „Billy Elliot“ frühen Weltruhm erlangte und verkraften musste, hier nun zeigt, welch brillanter Charakterschauspieler aus ihm geworden ist. Er spielt sich auf die Höhe von Annette Bening.

Die Unbeschwertheit des Seins. Jamie Bell und Annette Bening als Peter und Gloria.

Im Verlauf der Handlung erleben wir Peter und Gloria in Los Angeles. Dort treffen sie die Mutter und Schwester von Gloria. Mutter Jeanne war auch die Schauspiellehrerin von Gloria und bedauert, dass diese nie Shakespeare spielte. Dargestellt von der legendären Vanessa Redgrave wird dieser Mutterauftritt eine Hommage an geplatzte Träume und zeigt den Fluch erdrückender Erwartungen. Am Tisch dabei Glorias ältere Schwester Joy, von der Schauspielerin Frances Barber mit ätzender Verbitterung und tiefer Missgunst gezeichnet. Der Film ist jederzeit voller großer Momente, die sich wie bei einem Puzzle zu einem einheitlichen Bild fügen. „Stars Don’t Die in Liverpool“ feiert das Leben und die Liebe, ohne den Tod zu missachten. Für eingefleischte Cineasten die wohl unvergesslichste Szene des Films in der Mitte der Handlung. Gloria drückt den Rekorder und es erklingt wieder „Song for Guy“. Dann tritt sie mit einer Zigarette auf den Balkon, im Hintergrund die Großstadtsilhouette. Peter kommt dazu: „Hat dir schon jemand gesagt, dass du aussiehst wie Lauren Bacall wenn du rauchst?“ Sie: „Ja. Humphrey Bogart. Und schon das fand ich nicht nett.“ Mehr soll hier nicht erzählt werden. Der Film bringt viele große, schöne, traurige und nachdenkliche Erlebnisse auf die Leinwand und zieht seine Größe aus der Leichtigkeit der Übergänge zwischen Tragödie und Komödie. Der melancholische Unterton im Film ist nie düster, er ist einfach das Leben. Manche Dinge mögen in einem Leben nicht funktionieren. Die Menschen probieren es dennoch. Peter und Gloria haben es auch versucht. Sie dabei ein Stück des Weges begleiten zu können, beschert großes Kino durch einen eher kleinen Film. Annette Bening ist dieser Film, ihre Leistung zum Niederknien und mehr als einen Oscar wert. Schauspiel auf großer Höhe mit einem kongenialen Jamie Bell an ihrer Seite. Anschauen, hinsehen, zuhören und genießen. Es lohnt.

Balkonszene. Rauchen wie Lauren Bacall.

PS: Der inzwischen fast siebzigjährige Peter Turner hat in dem wunderbaren Film eine kleine Gastrolle, schlägt damit eine Brücke zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Annette Bening:

Warum ich die Schauspielerei liebe? Sie ist total subjektiv und das mag ich. Ich mag es.

Stars Don’t Die in Liverpool („Filmstars sterben nicht in Liverpool“)
Produktionsland: Großbritannien
Premiere: 2017
Regie: Paul McGuigan
Drehbuch: Matt Greenhalgh
Musik: Joshua Ralph
Kamera: Urszula Pontikos
Schnitt: Nick Emerson

*Titelbild  (Annette Bening und Jamie Bell) Dieses und alle Beitragsbilder sind Screenshots aus dem Film „Stars Don’t Die in Liverpool“ (Die Bildrechte liegen bei Sony Pictures Home Entertainment.)

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