Kultur

Normale Menschen

Ein offenbar begeisterter Zuschauer schrieb unter eine britische TV-Kritik, diese irische Serie wäre so gut wie das Beste, was es in Großbritannien je gegeben hätte, und verglich die 2020 auf den Markt gekommene Koproduktion von BBC, Screen Ireland und Hulu „Normal People“ mit dem Musikfestival Glastonbury, dem Fußballer George Best und sogar mit der Queen. Wenn man dadurch neugierig geworden, die 12 halbstündigen Episoden von „Normal People“ hinter sich hat, muss man sich dem staunend und bereichert anschließen. Die Serie „Normal People“ nach dem gleichnamigen Roman der irischen Autorin Sally Rooney ist ein grandioses Stück TV und eine atemberaubende Hommage an die Liebe ohne Verklärung und Zuckerguss. Eben aus dem Leben normaler Menschen und nicht aus einer Hollywoodschmiede.

Wir erleben Marianne Sheridan und Connell Waldron aus der irischen Kleinstadt Sligo vom Ende ihrer Schulzeit über ihre Studienzeit am legendären Trinity College Dublin bis zum Punkt einer wichtigen Lebensentscheidung. Beide sind extrem kluge Individuen, kämpfen um die eigene Identität und schleppen viel unerledigten Frust durch ihr Leben. Sie passen dennoch gut zueinander und sind tatsächlich so etwas wie seelenverwandt. Mit welcher Leidenschaft der Ire Paul Mescal (26) als Connell und die Londonerin Daisy Edgar-Jones (24) als Marianne im Jahr 2020 ihre Rollen spielten, ist schier unglaublich. Zumal es galt, zwei komplexe und komplizierte Charaktere in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Verletzlichkeit einzufangen. Was grandios gelungen. Dieses Paar hat mit dem, was sie in ihren Rollen bieten, TV-Geschichte geschrieben und in ihrer Generation Maßstäbe für schauspielerische Qualität gesetzt.

Die Stadt Sligo in Irland. Heimat von Marianne und Connell. Ausgangspunkt von „Normal People“.

Euphorie und Schmerz einer wahrer Liebe im Zusammenstoß mit der Realität des Lebens und den darin enthaltenen Fallgruben menschlicher Fehlbarkeit zeigt die zutiefst humane Serie „Normal People“ anschaulich. Beglückend und tieftraurig gleichermaßen, vor allem sehr wahrhaftig. Die anständig einfachen Verhältnisse, aus denen er kommt und die unanständig elitären Verhältnisse, aus denen sie kommt, machen es beiden nicht unbedingt leichter. Doch davon lassen Marianne und Connell sich nicht hindern. Die so schrecklich überstrapazierten und für allen möglichen Unfug oder fadenscheinige Anlässe missbrauchten und verwursteten Worte „romantisch“ und „herzzerreißend“, hier treffen sie in ihrer schönen und anständigen Form tatsächlich noch zu.

„Normal People“ entpuppte sich als Meisterwerk und sorgte vernehmlich und nachhallend für Furore. Die beiden Hauptakteure, Daisy Edgar-Jones und Paul Mescal, haben daran gewaltigen Anteil. Auch außerhalb vom Schauspieljob und Rollen sind sie absolute Sympathieträger, sozial engagiert und ohne Starallüren durch den frischen Ruhm völlig unaffektierte und angenehme Zeitgenossen. Beide haben inzwischen nach „Normal People“ jeweils beeindruckende Filme gedreht und sind dennoch auf dem Teppich geblieben. Als Paul Mescal 2021 für „Normal People“ den britischen Filmpreis BAFTA für die beste Hauptrolle erhielt, widmete er den Preis sofort seiner Kollegin Daisy Edgar-Jones.

Paul Mescal gewinnt den BAFTA und denkt an seine Kollegin Daisy Edgar-Jones. (Screenshot: BBC News)

Eine kleine Randgeschichte in Sachen der Wirkung von „Normal People“ gibt es unbedingt zu vermerken. Kein Geringerer als Mick Jagger war von „Normal People“ und dem Schauspieler Paul Mescal so begeistert, dass die Rolling Stones Paul Mescal sofort zum einzigen Akteur in ihrem Musikvideo zum Song „Scarlet“ machten. Darin besonders Mescals Treppensprung äußerst erstaunlich. Der Titel entstand schon 1974, als Keith Richards und Ronnie Wood mit Led Zeppelin Gitarrist Jimmy Page jammten und lag seither unveröffentlicht im Studio. Nun gibt es ihn nicht nur als Rolling Stones Titel zu hören, sondern im kreativen und witzigen Auftritt von Paul Mescal auch optisch zu erleben.

Szene aus „Normal People“. (Screenshot: Normal People | © BBC Three and Hulu )

Bei „Normal People“ wirken die kleinsten Dinge und die größten Gefühle vollkommen ehrlich und normal. Die Achterbahnfahrt des Lebens, auf die Marianne und Connell mit ihrer Liebe geraten, wirkt immer glaubhaft, real und absolut authentisch. Kein Kleister und keinerlei Süßstoff der Gemütlichkeit. Er kommt aus kleinen Verhältnissen und hat das Glück einer wunderbaren Mutter. Sie kommt aus wohlhabendem Haus, mit einer eiskalten Mutter und einem brutalen Bruder. Dennoch beginnt langsam, kompliziert und schüchtern etwas, das bald wie gefundenes Glück aussieht und doch flüchtig ist. Ein menschliches Versagen von Connell gegenüber Marianne lastet lange auf beider Leben und Liebe, treibt die Handlung voran und die beiden vorerst auseinander. Beide haben emotionale Probleme und sehen die Welt auf sehr ähnliche Weise und oftmals anders als die angeblich normalen Menschen ihrer Umgebung. Was in Sligo zerbrach, steuert deshalb in Dublin wieder aufeinander zu.

In der Not sind sie sowieso immer füreinander da, manchmal eben nur über Skyp. Einmal plagt Connell in seiner Studentenbude in Dublin tagelange Schlaflosigkeit, die durch tiefe Verzweiflung entstand. Marianne ist aufgrund des Erasmus-Programms in Schweden. In Beziehung sind sie da gerade nicht, sondern aktuell nur beste Freunde, die sich sehr vermissen. Da schlägt sie ihm vor, die erkennt, wie ausgebrannt er ist, er möge sich jetzt mit dem Bildschirm aufs Bett legen und die Augen schließen, sie wird die Nacht über in der Verbindung und bei ihm bleiben. Das verschafft ihm tatsächlich Ruhe und Schlaf. Sie arbeitet derweil an ihrem Schreibtisch. Als er morgens aufwacht, ist sie selbstverständlich immer noch da und begrüßt ihn aus der Ferne mit einem Lächeln. Wie sensibel und gut das gespielt und gefilmt wurde, gehört zu den absoluten Highlights der gesamten Serie.

Normale Menschen. Großartige Darsteller: Daisy Edgar-Jones und Paul Mescal. (Screenshot: © Normal People)

Im Verlauf der Handlung wird der verschlossene, stets höfliche und eher wortkarge Connell einmal aus sich heraustreten und dem Bruder von Marianne unmissverständlich und in voller Ruhe sagen, „wenn du Marianne noch einmal anfasst, werde ich hierher zurückkommen und dich töten“. Was die Kamera da im Gesicht von Paul Mescal spiegelt, lässt keinen Zweifel an dieser Ansage aufkommen. Sein Zuhause ist ihm ein sicherer Hafen, ihres ihr eher ein übler Ort. Ob beieinander oder getrennt, allein oder in anderen Beziehungen, Marianne und Connell sind miteinander verknüpft, wollen den jeweils anderen im eigenen Leben nicht verlieren. Wie sie dann immer wieder zueinanderfinden, vermittelt ein Gefühl von Glück. Auf der anderen Seite verursachen kleine Missverständnisse oder Sprachlosigkeit, die zu Trennungen führen, fast körperliche Schmerzen.

Gekonnt ziehen Daisy Edgar-Jones und Paul Mescal ihre Zuschauer in den Bann. Famose Leistung. Es gibt eine atemberaubende Szene im Rahmen einer Therapiesitzung, in der Paul Mescal eine Leistung abliefert, wie sie im Kino und im TV selbst Giganten dieser Zunft nicht besser hinbekommen hätten. Mescal spielt da auf den Höhen des jungen Marlon Brando.

Wichtiger Drehort: Trinity College Dublin. Emotionale Lebensstation für Marianne und Connell.

„Normal People“ war in der Pandemiezeit eine Art Leuchtstern für Großbritannien. Die Serie konnte noch vor Covid unbeschwert gedreht und eine Woche vor dem Lockdown beendet werden. Eine Nation, die von Boris Johnson und den Tories betrogen und belogen wurde, hielt sich kollektiv an dieser Serie fest. Die Geschichte von Marianne und Connell wurde ein Volltreffer, berührte die Menschen, traf sie mitten ins Herz und trat dann ihren Siegeszug um die ganze TV-Welt an.

Die exzellent und realistisch gefilmten Sexszenen, die nichts mit dem Hochglanzmist von Hollywooderotik zu tun haben, waren völlig mit der Logik der Handlung verwoben und dienten keiner Effekthascherei. Unvermeidlich wurden diese Szenen auch Thema in den sozialen Medien. Paul Mescal hat sich schon früh entschieden, seine Schauspielkarriere ohne Social Media zu betreiben und sich aus seinem Engagement dort zurückgezogen. Bezeichnend ist es, dass vor allem US-Talkmaster, darunter besonders die Sorte „alter weißer Mann“, die in den USA auf den Erfolg von „Normal People“ aufsprangen, in Interviews Paul Mescal und Daisy Edgar Jones fast ausschließlich zu den Sexszenen zulabern und die Aussage des Films, herausragende Schauspielkunst und diese famose Chemie von Edgar-Jones und Mescal in ihrem Sabber nicht begriffen haben.

Spürbare Chemie. Mescal und Edgar-Jones während eines gemeinsamen Interviews. (Screenshot. © BBC Three)

Die Umwandlung des Buches „Normal People“ in eine TV-Serie übertraf noch den großen Romanerfolg und wurde zum verdienten Triumph. Quoten und Abrufe schossen in ungeahnte Höhen, alle bisher bestehenden Downloadrekorde wurden pulverisiert. Schauspieler und Macher einer kleinen Serie sahen sich plötzlich im Zentrum der allergrößten Aufmerksamkeit und nachfolgenden Huldigungen. Der Ruhm hält bis heute an und bleibt vollauf verdient. Soziale Fragen lassen die Filmemacher nicht aus. Es wird anschaulich vorgeführt, wie es ist, wenn ein kluger Mensch aus der Arbeiterklasse es an eine Eliteuniversität schafft und plötzlich unter lauter reichen Schnöseln landet, die lebenslang goldene Löffel in ihren Ärschen haben. Während Connell zwei Jobs macht, um sein Studium und das Leben in Dublin zu finanzieren, behandeln die anderen die Frage, ob sie lieber mehr Rot- oder Weißwein auf elitäre Partys mitnehmen.

Regisseur Lenny Abrahamson schuf mit seiner Crew ein Meisterwerk. (Foto: © BBC Three)

Ein besonderes Kompliment muss unbedingt an die beiden Regisseure Lenny Abrahamson und Hettie Macdonald gehen. Sie haben in vielen Details und in Gesamtheit etwas in Szene gesetzt, dass jene, die es gesehen haben, so schnell nicht vergessen werden. Zu erwähnen ist unbedingt auch der tolle Soundtrack, der Episode für Episode optimal passt. Nicht zu vergessen die grandiose und einfühlsame Kameraführung und ein wirklich geniales Casting bis in die kleinsten Rollen. Wer „Normal People“ ansieht, unabhängig von Generation, Alter oder Geschlecht, wird irgendwann an den eigenen Punkt geraten, wo kein Auge trocken bleibt. Das Ende von Serie wie Buch sucht seinesgleichen. „Normal People“ bietet natürlich auch großes Gefühlskino, ohne gefühlig oder trivial zu sein. Wer davon nicht berührt wird, dem ist vielleicht nicht mehr zu helfen. Unbedingt ansehen!

Connell und Marianne (Screenshot: Normal People | © BBC Three and Hulu)

An einem zentralen Punkt, der ein Zusammentreffen von fast vollkommenem Glück und großem Kummer gleichermaßen zeigt und die Tränen nachvollziehbar macht, dabei auch dem Zuschauer den Atem nimmt, sagt Marianne zu Connell den vielleicht schönsten Satz der gesamten Serie:

Wir haben einander so viel Gutes getan.

*Titelbild: © BBC und Hulu

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