Gesellschaft

Aus einer anderen Welt

Frank-Walter Steinmeier hat es wieder getan. Es ist natürlich seines Amtes. Er ist damit nicht allein, sondern Teil einer politischen Klasse, die es schon sehr lange so handhabt. In alltagsfremder Art und Sprache wendete er sich vor- und ablesend ans Volk. Dies tat er aus einer dieser fernen Warten, für welche man Metaphern wie „Wolke über uns“, „andere Seite eines tiefen Grabens“ oder „Hauptstadtblase“ bemühen könnte. Der Bundespräsident verlas die Lage des Landes aus seiner und einer Oberschicht Sicht. Eine fatale Lesestunde. Die freie Rede, die eigentlich das Handwerk seines Amtes, ist ihm einfach nicht gegeben. Offenbar nicht einmal gute Textschreiber. Steinmeier kleckste ein Deutschland auf die Leinwand, welches nur noch in Politikerköpfen oder Talkshows existent. Mit blutleeren wie monotonen und längst abgedroschenen Phrasen wollte er die Deutschen einstimmen. Worauf? Lesen Sie ihn bitte selbst. Hier Auszüge:

Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu. Es beginnt für Deutschland eine Epoche im Gegenwind. (…) Wir müssen in den nächsten Jahren Einschränkungen hinnehmen. Das spüren die meisten längst. Jeder muss beitragen, wo er kann. Diese Krise verlangt, dass wir wieder lernen, uns zu bescheiden.

Raue Jahre, Gegenwind, Einschränkungen im Lichte von UNS und WIR. Wer definiert eigentlich die Gemeinschaft des WIR? Es hätte der Bundespräsident doch von Dieter Schwarz erzählen können, dem Eigentümer von Lidl und Kaufland. Mittlerweile der reichste Mann Deutschlands, der aktuell sein Vermögen in nur einem Jahr um fast 10 Milliarden Euro gesteigert hat. Das Gesamtvermögen von Schwarz liegt nun bei ca. 36 Milliarden Euro. Ein schmarotzender Kriegsgewinnler, dessen Vermögenssteigerung jeder Bürger beim Gang durch den Supermarkt greifen kann. Immer macht die Not der vielen die wenigen reich. Bertolt Brecht 1934:

Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.

Bei anderen deutschen Milliardären, also den Kühne, Klatten, Quandt, Merck, Reimann, Würth und weiteren Konsorten kein anderes Bild. Sie verdienen sich dumm und dämlich, häufen ihren persönlichen Reichtum in nie da gewesenen Höhen und formen sich die Welt nach ihrem Bilde. Raue Jahre, Gegenwind, Einschränkungen? Für jene lächerlich. Ob übrigens diese Klasse derer da oben demnächst lernt und dann beginnt, sich zu bescheiden, die Frage möge sich hier bitte jeder selbst beantworten. Bescheiden werden sich andere aus der von Steinmeier angesprochenen WIR-UNS-Gemeinschaft. Die tragischen Beweise dafür liegen schon auf dem Tisch. Die Lebenshaltungskosten stiegen im Oktober 2022 gegenüber dem Vorjahr 2021 um 20,3 Prozent. Denen da unten sitzt die harte Faust der Lebensmittelinflation schon hart an der Kehle. Vielleicht auch nur der kalte Würgegriff von Dieter Schwarz und seinesgleichen. So oder so, es wird eng und die Luft knapp:

Oder meinte der Bundespräsident die politische Klasse auf der Basis von selbst festgelegten und latent erhöhten Diäten, Büropauschale, Aufwandsentschädigung, Sitzungspauschale, Mietzuschüssen, Reisekosten usw.? Auch diese politische Oberschicht wird die Existenzangst der Masse Mensch nicht persönlich spüren. Ihre Kühlschränke bleiben wohlig und fein gefüllt. Steinmeier ist natürlich kein Milliardär, was ihm hier nicht unterstellt werden soll. Er ist nur Politiker für Milliardäre. Sein Privatvermögen wird auf Basis seiner bisherigen Beamten- und Staatsdienste wie Parlamentszugehörigkeiten auf irgendetwas um 2 bis 3 Millionen Euro geschätzt. Geht uns nichts an. Seine aktuellen Einnahmen schon. Die belaufen sich aus Grundgehalt und Aufwandsentschädigungen über das Jahr gerechnet auf ca. 294.000 Euro brutto beziehungsweise knapp 167.000 Euro netto. Raue Jahre, Gegenwind, Einschränkungen für ihn und seine Klasse? Sicher nicht. Somit können wir damit schon etwas besser eingrenzen, wen er mit WIR und UNS meinte. Ist es unfair, Steinmeier als Politiker für Milliardäre zu bezeichnen? Mitnichten. Frank-Walter Steinmeier war als federführender Kanzleramtsminister von Gerhard Schröder der maßgebende Architekt der Agenda 2010, die den Sozialstaat alter Prägung zerstörte, die soziale Marktwirtschaft durch neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle ersetzte und Banken und Milliardäre jeder Fessel beraubte. Der damals vom heutigen Bundespräsidenten eingeleitete soziale Kahlschlag hat die Unterschicht schon vor einem Jahrzehnt in „härtere Jahre“ geboxt.

Wer im Reichtum schwimmt, für den wird Politik gemacht. Der Rest hat Pech. (Bild: Pixabay)

Natürlich gibt es für die aktuellen Verlautbarungen der Politik auch Schulterklopfer, die in Konzernmedien angestellten Journalisten verteilen diese wohlwollend. Wer in Berlin mit der Politik permanent in der Drehtür, der verdient als Teil der Hauptstadtblase gut bis bestens. Viele dieser Leitmedien-Journalisten sind nämlich ebenfalls Teil der abgehobenen Politik- und Medienblase der Hauptstadt, also mit Steinmeier und der politischen Klasse im täglichen Boot. Ebenfalls ohne größere materielle Sorgen oder Nöte. Sie haben allesamt gut reden, schreiben und labern. Außerdem immer zur Hand, den Faktencheck und die passende Umfrage, die den erstaunten Deutschen mitteilt, sie seien mehrheitlich Steinmeiers Meinung. Zum Missbrauch der Begriffe UNS und WIR durch den Bundespräsidenten das Schlusswort an Fabio De Masi, den einstigen Bundestagsabgeordneten aus Hamburg:

Die härteren Jahre, von denen Bundespräsident Steinmeier spricht, sind für das „untere Drittel“ der Gesellschaft schon seit Jahren Realität und zunehmend auch für die Mitte der Gesellschaft. Wie die Bundesregierung auf Schuldenbremse pochen und dann Durchhalteparolen bringen, gefährdet sozialen Frieden. Von einem Bundespräsidenten erwarte ich härtere Worte an die oberen ein Prozent. Wann wird den Multimillionären und Milliardären eine angemessene Besteuerung von Mega-Vermögen und Erbschaften zugemutet, die Vermögenskonzentration wenigstens bremst? Die Vorschläge dazu liegen seit Jahren auf dem Tisch! Wann sind die fetten Jahre für unsere Oligarchen mal vorbei?

Steinmeier ließ es leider nicht beim UNS und WIR, er kam natürlich zur Ukraine. Er und seine Textschreiber bemühten dabei, sehr westlich geprägt, immer wieder die Welt. Kleiner können und wollen sie nicht. Aber die Welt, die Steinmeier da in Haftung nimmt, ist nicht so umfassend oder groß, wie er und andere es gerne hätten und uns suggerieren. Steinmeiers Welt sieht ungefähr so aus und ist vieles, aber eben nicht die Welt, sondern nur ein Teil:

Allein ohne Indien und China fehlen Steinmeiers Welt schon 2,8 Milliarden Bewohner dieses Planeten. Gehört der größte Flächenstaat der Erde (Russland) nicht mehr zur Welt? Lateinamerika und Afrika sind ebenfalls nicht auf NATO-, US- oder EU-Kurs. Wann begreift dies in Berlin mal jemand? Von wegen Welt! Wie die USA sprechen immer öfter auch deutsche Politiker, besonders die Nichtdiplomatin Annalena Baerbock, oft und gerne von der Welt und dann anmaßend in deren Namen. Noch öfter als UNS, WIR und WELT bemühte Steinmeier den 24. Februar, jenen Tag, an dem die Russen in der Ukraine angriffen. Laut Steinmeier ein Tag, den niemals jemand vergessen wird und an den jede und jeder sich immer erinnern wird. Wer immer auch hier wieder als JEDE und JEDER in Mitleidenschaft gezogen wird. Manchmal bot Steinmeiers Manuskript den 24. Februar sogar in einem Satz gleich zweimal. In Steinmeiers Weltbild wie in dem der Berliner Hauptstadtblase hat eine Vorstellung offenbar nie Raum. Dass viele Menschen sich mehr an die letzte Energierechnung, den Tankstellenbesuch, den Einkauf im Supermarkt und den Schock beim Anblick jedweder Kassenzettel und Rechnungen erinnern und weniger an den 24. Februar. Es kann den Eliten, weil sie so etwas nicht betrifft, einfach nicht einleuchten. Weil die mit solchen Alltagssorgen eben weder vertraut noch bekannt. Allerdings reden und schreiben sie gerne und ausführlich, belehrend und herablassend darüber. Der Bundespräsident dagegen badete förmlich im Weihrauch des 24. Februar:

Jeder Mensch in unserem Land, der am 24. Februar aufwachte (…) wusste: An diesem Morgen war die Welt eine andere geworden. Meine Damen und Herren, jede und jeder von Ihnen erinnert sich an diesen 24. Februar. (…) Dann kam der 24. Februar. Am 24. Februar hat Putin nicht nur Regeln gebrochen und das Spiel beendet. Nein, er hat das ganze Schachbrett umgeworfen!

Schachbrett? Spielten wir bisher Schach mit Putin? Weltpolitik als Spiel. So stellt sich ja auch manch Einfaltspinsel die Läufe globaler Politik vor. Aber der Bundespräsident? Merkwürdiges Gleichnis. Doch Frank-Walter Steinmeier kommt noch ganz anders daher:

Liebe Landsleute, diese neue Zeit, sie fordert jeden Einzelnen. Vielleicht konnte man in Zeiten mit Rückenwind noch durchkommen, ohne selbst viel einzusetzen. Vielleicht konnte man es sich erlauben, Politik den anderen zu überlassen. Das gilt heute nicht mehr. Deutschland, unser Land, braucht Ihren Willen zur Veränderung, braucht Ihren Einsatz für unser Gemeinwesen, damit wir dort ankommen, wo wir hinwollen! Was also verlangt das Wesentliche? Und was sind wir bereit, uns abzuverlangen?

UNS abzuverlangen? Sein Kernsatz „Klar ist: Wir müssen in den nächsten Jahren Einschränkungen hinnehmen. Das spüren die meisten längst. Jeder muss beitragen, wo er kann. Diese Krise verlangt, dass wir wieder lernen, uns zu bescheiden“ erscheint da in noch ganz anderem Licht. Es braucht jedenfalls keiner großen Interpretation. Die WIR-UNS-Gemeinschaft wird die Suppe auslöffeln und bezahlen. Spätestens hier wird sich z. B. der bereits erwähnte Einzelhandelsmilliardär Dieter Schwarz vor lauter Lachsalven die Schenkel klopfen. Auslöffeln? Bezahlen? Mitlachen wird der ukrainische Komiker und Präsident Wolodymyr Selenskyj, dessen Land von der Süddeutschen Zeitung in einem Beitrag vom 25. Februar 2021 unter dem Titel „Korrupt wie eh und je“ noch die Leviten gelesen bekam und zugleich ein erbärmliches Zeugnis für den Oligarchenstaat Ukraine. Man kann auch die damaligen Transparency International Berichte über die Oligarchie Ukraine lesen, dann weiß man, mit welcher Sorte Politiker und Wirtschafts- wie Finanzgrößen man es dort zu tun. Bevor sie zu angeblichen Freiheitshelden wurden, lasteten sie schwer auf den Schultern des ukrainischen Volkes und der dortigen einfachen Menschen. Dazu sagte unser Bundespräsident natürlich nichts. Er hätte, weil er berufsbedingt oft durch Berlin gefahren wird, auch auf jene im Eiltempo anwachsende Zahl von extrem teuren Luxuskarossen mit ukrainischen Kennzeichen eingehen können. Ging er nicht. Er war in den großen Dingen unterwegs. Da stören solche Petitessen nur. Die Wahrnehmung von Politikern ist eben selten deckungsgleich mit der von kleinen Leuten. Jene, die dem Volk und den kleinen Leuten jedenfalls gerne moralisch kommen und moralische Texte an dieses richten, ob nun aus Politik, Wirtschaft oder Medien, sie muss man, sobald man ihre Worte mit ihren Taten abgleicht, unter einem Begriff sammeln:

Vollends driftete der Bundespräsident dann mit zwei fatalen Passagen ab, die enorm entlarvend:

Dass ein Land wie unseres in der Kritik steht, daran werden wir uns gewöhnen müssen. Schauen wir auf die USA, sie haben viel Übung darin. Die USA sind eine globale Führungsmacht. Sie werden kritisiert für das, was sie tun, und für das, was sie nicht tun. Sie können nicht auf andere zeigen oder höhere Instanzen anrufen. Sie müssen wissen, was sie tun und warum.

Kriege, Völkerrechtsbrüche, Sturz von Regierungen rund um den Globus, Lügen vor der UN, politischer Mord, Unterstützung von Putschisten und Einsetzung von Militärdiktaturen. Das Sündenkonto der USA nach dem 2. Weltkrieg ist so umfänglich, dass es sich nicht verschleiern lässt. Dem Bundespräsidenten Steinmeier fällt dazu in einer Art diffusem Entschuldigungs- und Freibriefton maximal das Wort „Kritik“ ein. Und globale Führungsmacht. Von der Welt erbeten oder selbst ernannt? Dazu nichts von Steinmeier. Wenn eine globale Führungsmacht alles darf, nur wissen muss, was sie tut und warum, was darf dann eigentlich „der Russe“ und sein Zar Putin? Wo wir schon bei den Russen sind, darin der wohl größte Bock oder sogar die ehrlichste Passage von Steinmeier:

Aber wenn wir auf das Russland von heute schauen, dann ist kein Platz für alte Träume. Unsere Länder stehen heute gegeneinander.

Was Bismarck noch durch Umsicht, Intelligenz und politische Klarsicht, aber vor allem durch Diplomatie vermeiden konnte, dass Deutschland und Russland gegeneinanderstehen, haben seine Nachfolger gröblich missachtet und genau damit zwei verheerende Weltkriege angefacht. Historische Kenntnisse oder gar Lehren darf man im heutige Berlin selbstverständlich nicht mehr erwarten. Nun jubeln natürlich die deutschen Bellizisten und klopfen Steinmeier die Schultern. Gegen den Osten stehen, zumal den Russen, ist für sie natürlich mehr als Gedröhne und Propaganda, eben Wasser auf ihre Mühlen der Kriegstreiberei. Doch dieses Wasser fließt nicht kräftig, es pieselt nur vor sich hin. Deutschland richtet keinen Weltkrieg mehr an. Viel zu unbedeutend und schwach auf dem politischen Schachbrett, um in Steinmeiers Sprache zu bleiben.

Das nächste Spiel als Entscheidungsschlacht? Partie um die Weltherrschaft.

Bleibt daher hier noch eine Vermutung und Ahnung. Es gibt in Washington längst ein anderes Zielobjekt. Europa ist durcheinander, destabilisiert, gefügsam und an der Leine, Nordstream vom Tisch. Die US-Interessen wurden gewahrt und gestärkt. China jetzt im Washingtoner Visier. Was aus US Sicht sogar nachvollziehbar. Wenn überhaupt noch eine Chance auszurechen ist, dann jetzt auf bald. Wird China in dem aktuellen Tempo wirtschaftlich noch stärker, ist die Gelegenheit für einen finalen Feldzug bald verspielt. So tickt eben US-Politik. Und wenn es losgeht, dann wird wieder der Bundespräsident UNS im WIR an die Seite der USA stellen und einen Text der Opferbereitschaft verlesen. Die Frage ist nur, auf welchem Loch wir dann eigentlich noch pfeifen. Da wir sicher gerade den Aufbau der Ukraine finanzieren, Lebensmittel kaum noch bezahlen können und für die Vermehrung besagter Luxuskarossen und Edellimousinen mit ukrainischen Kennzeichen auf unseren Straßen zu sorgen haben. Der Marshallplan für die Ukraine ist uns ja bereits als große Generationenaufgabe vom Bundeskanzler Olaf Scholz offeriert worden. Wir könnten uns also gewaltig verheben, falls dies nicht längst schon geschehen. Besser gesagt, falls wir nicht schon verhoben oder gar auf dem Brett im großen Spiel verschoben wurden.

*Titelbild: Yves Montand und Louis de Funès in „La folie des grandeurs“ („Die dummen Streiche der Reichen“)

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