Gesellschaft

Berechtigter Zorn

Seit drei Wochen streiken in Berlin Pflegepersonal und Hebammen. Die medial-politische Öffentlichkeit interessiert sich dafür wenig bis nicht. Das Berliner Bündnis Gesundheit statt Profite hat für den 09. 10. 2021 um 12 Uhr auf dem Hermannplatz eine Groß-Demo der Berliner-Krankenhaus-Bewegung angekündigt. Es geht den Streikenden um Entlastung und faire Löhne. Völlig nachvollziehbare und berechtige Anliegen, die unser aller Unterstützung finden sollten.

„Systemrelevanz“ war zu Beginn der Pandemie das medienwirksame Schlagwort und schmückender Theaterdonner der politischen Elite, die sich im Bundestag für das Krankenhauspersonal applaudierend erhob. Heute wirkt dieser Applaus wie Hohn. Für die einst Beklatschten hat niemand einen Finger gerührt. Heute sondiert die politische Klasse und die Medien interessieren sich wesentlich mehr für den Gemütszustand von Armin Laschet oder vor welcher Tür die Herren Habeck und Lindner Binsen absondern. Für die Probleme systemrelevanter Niedrigverdiener bildet sich dabei kein Interesse. Die prekäre Situation von Pflegepersonal oder Hebammen findet sich auf Titelseiten oder zur Hauptsendezeit nicht mehr wieder. Anders und lobenswert Teile der sozialen Medien, die den einseitigen „Leitmedien“ und überregionalen Blättern immer stärker den Rang ablaufen. Sie liefern stetig Informationen zum Thema und den Stand der Dinge. Derweil künftige Regierende in Plattitüden um Digitalisierung, Weltklima und Zukunft kreisen, ihnen das Schicksal der Pflegekräfte allerdings eher am Allerwertesten vorbeigeht. Es dominiert nach monatelangem Wahlkampf nun der politische Koalitionsmachtpoker. Weltweit und vor der Haustür gibt es so unendlich viele und wichtigere Themen. Dem Wahlvolk wird dennoch lieber Sondierungstratsch ins Haus geliefert. Auch wegen jener Ignoranz sind Zorn und Verbitterung der Betroffenen wirklich verständlich, ihr Streik das richtige Mittel und eine gesellschaftliche Notwendigkeit, die uns alle umtreiben sollte.

Sondierungsgruppen und künftige Koalitionäre suchen für ihre Auftritte, welche von den Medien wie Mondlandungen plus Papstwahl behandelt werden, in Berlin stets symbolträchtige Orte, die dem Zuschauer Modernität und Aufbruch signalisieren sollen. Wie wäre es mit einem Tagungsort Altenpflegeheim oder einer Notaufnahme? Da könnte man umgehend in den prallen Alltag der Menschen springen und sich den Gestank des Lebens um die Nase wehen lassen. Sozusagen am Puls der Zeit etwas lernen und begreifen. Stattdessen werden für die Streikenden und Schlechtverdiener mit dem Eintritt der FDP in eine neue Regierung schlimme Zeiten anbrechen und soziale Kälte weiter um sich greifen. Die „Partei der Besserverdienenden“ hat am Schicksal des armen und unteren Gesellschaftsteils kein Interesse und sieht diesen Teil der Bevölkerung eher als ausquetschbare Zitrone für die geplanten Zuwendungen, die man von Seiten der FDP den oberen Zehntausend zugedacht hat. Wahrlich schlechte Aussichten.

Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.

Papst Gregor I. (* 540 in Rom; † 12. März 604)

*Titelbild: Radoan Tanvir auf Pixabay

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