Luciano Fontana, Herausgeber des ‚Corrierere della Sera‘, führte höchstselbst ein Interview mit dem Papst. Was er von diesem mitbrachte in Sachen Putin, Ukraine und Krieg erhitzt seither die Gemüter und Medien, liegt längst auf dem interpretierenden Seziertisch derer, die aus Meinung gern veröffentlichte Meinung machen, die dann gefälligst zur öffentlichen Meinung werden soll, über welche eifernd wie umfänglich berichtet wird (News: „Mehrheit der Deutschen will … „). Den aktuellen Papst umzuinterpretieren ist hohe Kunst, ihn mundtot zu machen ein schweres Ding. Man darf gespannt sein. Das Gefecht der Deutungshoheit jedenfalls in vollem Gange. „Wer die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd“. Diesen Satz entdeckte der Reiseschriftsteller Armin Wegner einst auf einer Stele im Orient. Der Satz passt gut zu Menschen, die in aufgeheizter Stimmung unbequeme Wahrheiten aussprechen und ihren Verstand bemühen, statt sich gleichzuschalten. Zu diesen eigenständig denkenden Erdenbürgern gehört bekanntermaßen der Argentinier Jorge Mario Bergoglio, unter seinem Papstnamen Franziskus in Rom lebender und arbeitender, oberster Hirte der Katholiken dieser Welt. Eben Gottes Stellvertreter auf Erden. Der Papst stellt sich gerade sehr weltlichen Dingen, er spricht politische und diplomatische Wahrheiten aus. Dafür bräuchte er jetzt besagtes Pferd, weil er sich davon machen müsste. Hierzulande streift er mit seinen Aussagen zum Ukrainekonflikt nämlich die Bottiche der Schande, die mit der Jauche Putinversteher und Putinfreund gefüllt und die stündlich über jene gegossen werden, die nicht von „schweren Waffen“ erotisiert oder in völliger Verwirrtheit Atomsprengköpfe für lustige Zinnfiguren halten. Den Papst zum Putinversteher zu degradieren, wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Vielleicht ist er ein verkappter Kommunist? Der Mann war immerhin einmal Armenpfarrer, setzte sich für die Unterschicht und Schwachen ein, kritisierte ganz offen den Reichtum und Protz der Kirche. Noch wesentlich verdächtiger, was dieser Kirchenmann über den Neoliberalismus sagte: „Diese Wirtschaft tötet. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel.“ So einem ist alles zuzutrauen.
Nun besser aufs Pferd, lieber Franziskus und schnell davon, mag man dem Papst nach seinem Interview am liebsten zurufen, bevor das deutsche Volksempfinden auf die weiße Soutane schwappt. Allerdings türmt sich ein Hindernis. Den Papst quält ein Bänderriss im Knie, an welches er dieser Tage Ärzte lassen muss. Ein Papst mit Rollator machte schließlich keinen guten Eindruck, wirkte dann fast wie ein CDU-Vorsitzender im Zug. Aber der Papst redet ja nicht mit dem Knie, sondern denkt mit dem Kopf und sagt deshalb bemerkenswerte Dinge. Über den Staatssekretär des Heiligen Stuhls, Pietro Parolin (Eine Art Außenminister des Vatikans.): „Wirklich ein großer Diplomat, in der Tradition von Agostino Casaroli, der weiß, wie man sich in dieser Welt bewegt, ich vertraue ihm sehr und verlasse mich darauf.“ Wo Diplomaten keine Diplomatie beherrschen, fühlt sich also der Papst aufgerufen, ins Geschehen zu wirken. Das Verständnis für internationale Politik und deren Zusammenhänge ist bei Franziskus und seinem Staatssekretär ausgeprägter und kenntnisreicher als bei der deutschen Außenministerin, die Popularität und Populismus täglich mit politischer Könnerschaft und leider auch mit Diplomatie verwechselt. Krieg, Sanktionen und Waffenlieferungen bestimmen den Takt der Tagespolitik. Auf der diplomatischen Bühne wäre diese Taktfolge zu wenig, um unserer Zeit und den Menschen gerecht zu werden und die Geißel des Krieges zu überwinden.
Papst Franziskus versucht auf die Wurzel des Übels zu schauen, die Ursachen für das Putin-Verhalten zu ergründen, die Überlegungen und Auslöser, die diesen zu einem so brutalen Krieg treiben, zu erkennen. Franziskus Überlegung „Vielleicht hat das ‚Bellen der NATO an Russlands Tür‘ den Kremlchef dazu gebracht, schlecht zu reagieren und den Konflikt auszulösen. Eine Wut, von der ich nicht sagen kann, ob sie provoziert wurde, aber vielleicht doch begünstigt.“ (Was für eine Zeit, in der nur noch der Papst als öffentliche Figur diese einfache und übrigens bekannte Tatsache aussprechen kann.) Lässt nicht an Deutlichkeit zu wünschen übrig und gefällt kalten wie warmen Kriegen überhaupt nicht. Zu Waffenlieferungen sagt der Papst: „Die Frage, ob es richtig ist, die Ukrainer zu beliefern, kann ich nicht beantworten, ich bin zu weit weg.“ Die Frage nach einer symbolischen Geste beantwortete der Papst wie folgt. „Ich gehe vorerst nicht nach Kiew. Zuerst muss ich nach Moskau, zuerst muss ich Putin treffen. Aber ich bin auch ein Priester, was kann ich tun? Ich tue, was ich kann, wenn Putin die Tür öffnet.“ Der Papst ging auch auf seine früheren Bemerkungen über einen „Weltkrieg in kleinen Stücken“ ein: „Mein Alarm war kein Verdienst, sondern nur die Beobachtung der Realität: Syrien, Jemen, Irak und in Afrika, ein Krieg nach dem anderen. Es gibt in jeder Hinsicht internationale Interessen.“ Der Blick auf unsere Welt wirkt beim Papst eher pessimistisch: „Für den Frieden gibt es nicht genug Willen. Krieg ist schrecklich und wir müssen es herausschreien.“ Zum Ukrainekrieg im jetzigen Stadium: „Ich bin Pessimist, aber wir müssen jede erdenkliche Geste machen, um den Krieg zu beenden.“
*Titelbild: Papst Franziskus im Gebet. (Screenshot BR-Dokumentation, 2021)