Aktuell äußerst beliebtes Spiel deutscher Medien, welcher Politiker wann und wie die Ukraine besucht. Am besten medienwirksam und mit Pathos. Wer dort an- oder auftritt, bekommt den veröffentlichten Lorbeerkranz, wer nicht, dem wird halt eingeheizt, bis er sich endlich auf die Socken macht. Dann fließt Lob und manches Herz quillt förmlich über. Ein schauriges Sprachbeispiel für Lobhudelei lieferte Nils Minkmar im geistigen Hohenzollerndeutsch. Ein ansonsten inhaltlich hervorragender Journalist, was die Sache so peinlich macht, der eben (bisher) kein Boulevardpinsler oder billiger Propagandist, setzte einen Tweet ab. Thema der Besuch von Ursula Gertrud von der Leyen (Präsidentin der Europäischen Kommission) in Kiew: „Der Mut dieser Frau @vonderleyen – die heute die Ehre Europas gerettet hat!“ Was für ein Trompetenstoß! Geht’s noch eine Scheibe dicker?
Twitter ist ein Medium der Retourkutsche. Neben Jubel und Zustimmung für diesen Satz daher natürlich auch Kritik und Anmerkungen nebst Fragen. Eine davon: „Ist die Ehre Europas nicht längst im Mittelmeer ertrunken?“ Was wohl an Herrn Minkmar wie an Frau von der Leyen adressiert. Wir wollen diese Klaviatur hier nicht spielen, vielmehr bei der Ehre bleiben. Mut und Ehre? Europas? Mit solchen Plattitüden sollte einfach nicht hantiert werden. Hierzulande fallen einem sofort die Wehrmacht mit „Ruhm und Ehre dem deutschen Soldaten“ oder weniger martialisch die skandalösen Ehrenworte von Uwe Barschel und Helmut Kohl ein. Ehre ist weder in Krieg und Politik noch im ganz normalen Leben alltagstauglich. Aus der Zeit gefallen. Ein ziemlich überkommener Begriff aus der Duellkultur vergangener Tage. Oft und gern von den schlimmsten Fingern der Weltgeschichte gebraucht, zu allerlei Zwecken missbraucht. Es mag traurig klingen, ist aber so. Die reale Welt liefert den Beweis dafür bis in unsere Tage täglich und stündlich. Deswegen sollten wir, wenn nur irgend möglich, vor allem die Ehre lieber im Schrank lassen und sie nicht zu allen passenden und oftmals unpassenden Momenten aus der Mottenkiste holen. Es wäre nicht mutig, aber besser.
Wir können Ursula von der Leyen ihre Empathie und Signalabsichten nicht absprechen. Wie auch? Es geht hier allerdings ausschließlich um Nils Minkmars Kommentierung. Dennoch soll der Originalton von Frau von der Leyen nicht unterschlagen werden. Deshalb bekommt dieser hier unkommentiert seinen Platz. Mag jeder sich seine eigene Meinung dazu bilden: „Wir können niemals mit dem Opfer des ukrainischen Volkes mithalten. Aber wir mobilisieren unsere Wirtschaftskraft, um Putin bezahlen zu lassen. Wir haben schwere Sanktionen gegen Russland verhängt und bereiten bereits die 6. Welle vor. Russland wird absteigen, während die Ukraine in eine europäische Zukunft marschiert.“
Wie immer Nils Minkmar diese Art von Bekundungen im Format Kriegsgebietsbesuche bewertet. Ob bejubelnd oder kritisierend, lässt sich so etwas von einem twitternden Berufsschreiber sicher in einer angemesseneren Form zu Markte tragen, ohne dabei verquollenes Pathos in der Tonart Hurrapatriotismus auszugießen. Minkmar könnte dazu einen guten Beitrag leisten, indem er wieder zum Journalismus zurückkehrt, also schleunigst von den geistigen Zinnen eines Ausrufers bei Hofe heruntersteigt. Natürlich darf man bei diesem Fehlwurf von Nils Minkmar selbstredend an Heinrich Manns Untertan Diederich Heßling denken. Der stellte einst beglückt und euphorisiert das Toilettenpapier Marke „Weltmacht“ vor: „Wir sind heute in der Lage, erhabene und besinnliche Gedanken, die markigen Worte großer deutscher Männer bis in den entferntesten Winkel unseres Vaterlandes zu tragen.“ Was Diederich Heßling ehemals seine Klosettrolle, ist heute vielen Zeitgenossen ihr Twitteraccount, mit dem man spielend in den letzten Winkel der Welt dringen kann. Heßlings Lebenshöhepunkt – neben dem bedruckten Papier zum Wischen – war es übrigens, der Kutsche seines Kaisers mit der darin befindlichen Majestät hinterherhechelnd einige Hurra-Rufe nachzubrüllen. Eben ein guter Untertan.
Das Schlusswort in Sachen Ehre geht an William Shakespeare. Der bediente sich dafür in seinem König Heinrich IV. (Erster Teil) des sinnenfrohen wie lebensvollen Trunkenbolds und Antihelden Sir John Falstaff: „Kann Ehre ein Bein ansetzen? Nein. Oder einen Arm? Nein. Oder den Schmerz einer Wunde stillen? Nein. Ehre versteht sich also nicht auf die Chirurgie? Nein. Was ist Ehre? Ein Wort. Was steckt in dem Wort Ehre? Was ist diese Ehre? Luft. Eine feine Rechnung! – Wer hat sie? Er, der vergangene Mittwoch starb. Fühlt er sie? Nein. Hört er sie? Nein. Ist sie also nicht fühlbar? Für die Toten nicht. Aber lebt sie nicht etwa mit den Lebenden? Nein. Warum nicht? Die Verleumdung gibt es nicht zu. Ich mag sie also nicht. – Ehre ist nichts als ein gemalter Schild beim Leichenzuge, und so endigt mein Katechismus.“
Das Schlussbild geht aufs Mittelmeer: