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Jean-Luc Mélenchon vs. Marine Le Pen

Die Menschen in Frankreich stehen vor einer Präsidentschaftswahl und blicken auf das Kandidatenfeld. Wir blicken mit. Schon Wochen und Tage vor der ersten Wahlrunde in Frankreich tun deutsche Berichterstatter so, als ob es die Option einer linken Mehrheit gegen Le Pen in diesem ersten Wahlgang nicht gäbe und diffamieren lieber weiter den linken Vorkämpfer Jean-Luc Mélenchon. Wie es der deutsche Blätterwald ähnlich mit Jeremy Corbyn getan hat, um danach über Boris Johnson zu wehklagen. So wie deutsche Medien Emmanuel Macron bei Bedarf glorifizieren, hängen sie vor oder hinter die hier behandelten Personen jederzeit gerne Linkspopulist und Rechtspopulistin. Ohne Gesäßgeografie kommen viele deutsche Medien nicht durch ihre eigenen Landschaften. Sei es drum. Die Dinge sind dann doch etwas komplexer. Man kann übrigens schon jetzt Folgendes vorhersagen, ohne dafür Prophet sein zu müssen. Wenn Ende April Marine Le Pen Präsidentin sein sollte, was eher unwahrscheinlich, geht der Verdienst daran zu gleichen Teilen an Jadot (Grüne), Hidalgo (Sozialisten) und Roussel (Kommunisten). Schon wenn Marine Le Pen die zweite Runde der Präsidentschaftswahl erreicht, wofür sie neben Präsident Macron momentan die Favoritin, wird in Deutschland wieder ein Schreckgespenst umgehen. Die edleren Moralisten und besseren Menschen unter uns werden öffentlich die große Panik schieben und sich dabei wie Insider französischer Politik und Beschützer Europas stilisieren. In den sozialen Medien sind sie schon kräftig unterwegs. Mit der Parole „Marine Le Pen war der Macht noch nie so nah wie heute“ geht es ins mediale Grauen.

Frankreich vor der Präsidentenwahl.

Eine zentrale Frage in Richtung dieser lamentierenden Herrschaften, die mehr Heuchler als Kenner der französischen Politik, darf sich die Öffentlichkeit jedoch erlauben. Warum kommt Le Pen der Macht so nah? Natürlich wegen Macrons Politik gegen die Interessen sehr vieler Franzosen. Vor allem aber wegen der Dummheit und Egomanie jener in Frankreich, deren politische Bundesgenossen in Deutschland wegen Le Pen nun so betroffen, fassungslos, besorgt und beunruhigt daherkommen. Es waren nämlich die schon erwähnten Grünen (Yannick Jadot), Sozialisten (Anne Hidalgo) und Kommunisten (Fabien Roussel), die mit ihren chancenlosen Kandidaten ins Rennen gingen, somit Stimmen für den linken Kandidaten Mélenchon abzogen, die der benötigt, um an Le Pen vorbeizuziehen, diese im ersten Wahlgang auszuschalten. Sogar die blasse Nichtigkeit der konservativen Kandidatin Valérie Pécresse, die sich selbst „moderate Rechte“ nennt, kommt bei den Franzosen besser an als dieses zerstörerische Schreckenstrio Jadot-Hidalgo-Roussel. Den Jammernden hierzulande sollte in ihrem Wehklagen genau dieses Versagen ihrer Bundesgenossen um die Ohren gehauen werden. Umgehend, sobald sie ihre Le Pen Warnungen durchs Land blöken und uns mit geheuchelten Sorgen um Europa und den Fortbestand der Welt vereinnahmen, uns für blöd verkaufen.

Umfragen auch als Zeugnis des historischen Versagens der Grünen, Sozialisten und Kommunisten.

Den amtierenden Präsidenten wollen Mélenchon wie Le Pen unbedingt ablösen. Wo Jean-Luc Mélenchon Internationalist, da ist Marine Le Pen Nationalistin, womit sie aktuell selbst im Land einer einst großartigen Revolution höher im Kurs steht. Beiden kann passieren, dass der extreme Rechtsausleger Éric Zemmour ihnen überraschend gefährlich wird, weil er sozusagen etwas unter dem Radar segelt. Viele, die seinem rechten Spuk zustimmen, sagen dies nicht öffentlich. Auch in Frankreich gibt es einen Bodensatz von 15 bis 20 Prozent Durchgeknallter. Früher rekrutierte daraus Marine Le Pen große Teile ihrer Anhängerschaft, bevor sie den Marsch in die verlorenen Wählerschichten der Konservativen und direkt zur alten Arbeiterklasse antrat. Diese Arbeiterklasse würde mit Marine Le Pen wohl eine sehr kalte neoliberale Dusche erleben, die konservativen Eliten von ihr dagegen gut bedient werden. Marine Le Pen eroberte sich einen Teil der Arbeiterklasse, weil diese Menschen in den letzten 30 Jahren vor allem von den Sozialisten und ehemals starken Kommunisten alleingelassen, einer neoliberalen Agenda ausgesetzt wurden. Nun zielt ihre Politik längst erfolgreich auf die rechts-konservative Wählerschaft, die einst Sarkozy ins Amt brachte und später auf Macron setzte. Um beide Fronten zu bedienen, prangerte sie den ultraneoliberalen Globalismus an und schwärmte gleichzeitig von Ronald Reagan, der wie kein anderer – Thatcher ausgenommen – dem Neoliberalismus die politische Bahn bombte. Bisher kommt sie mit dieser Widersinnigkeit durch und vielleicht bis in den Élysée-Palast.

Präsidentin Marine Le Pen? Pendeln zwischen Eliten und der Unterschicht. (Foto: Twitter Le Pen)

In ihrer Strategie der Polarisierung der Gesellschaft zwischen den Franzosen einerseits und den globalisierten Eliten andererseits hatte sich Marine Le Pen zu Beginn für eine ökonomische Haltung zugunsten der Arbeiterklasse entschieden. Rente mit 60, niedrigere wie regulierte Gas- und Strompreise waren ihre populären Renner. Die von ihr 2012 geforderte Senkung der Kraftstoffbesteuerung flog 2017 aus dem Wahlprogramm. Als die Gelbwesten auf den Straßen waren, gelang diese Forderung wieder zurück ins Programm. Marine Le Pen hört den Franzosen zu und weiß um die Verführbarkeit des lenkbaren Teils der Wählerschaft. Seit sogar die Präsidentschaft für Le Pen möglich, passierte zudem eine spürbare Neuausrichtung. Elitäre Berater aus Kreisen der Hochfinanz und Wirtschaft, der sogenannten „Horaces-Gruppe“ zugehörig, umgeben plötzlich auch Le Pen und flüstern dieser extrem neoliberale Grundpfeiler und Politikmodelle ein, womit sich Le Pen zu einer wirtschaftspolitischen Kopie von Macron entwickelt. Plötzlich ist ihr die Geschäftswelt politisch näher als die Arbeiterklasse, derer sie sich mit ihrem Mix aus nationalen und sozialen Parolen noch sicher wähnt. Deren soziales Schicksal ihr allerdings fast so egal, wie es Macron egal ist. Die Aufwertung aller Löhne um 250 €, die unter 1500 € liegen, flog so aus dem Wahlmanifest wie die Erhöhung des Körperschaftsteuer. Le Pen ist mittlerweile gegen die Erhöhung des Mindestlohns. Begriffe wie „Ungleichheit“, „Dividenden“ oder „Armut“ sind im Programm von Marine Le Pen plötzlich verschwunden. Le Pen wäre als Präsidentin eher die weibliche Fortsetzung des neoliberalen Macronismus, aber keine Erneuerin des sozialen Frankreich. 

Für den 70-jährigen Mélenchon ist es genau wie für die 53-jährige Le Pen der dritte Anlauf zur Präsidentschaft, sicher seine letzte Kandidatur. Mélenchons Intellekt ist so schneidend, dass er schnell überheblich wirken kann. Wenn er explodiert, fürchten sich ganze Säle. Wo er das für ihn höchste Gut, das Gut eines Vertreters der Nation in Form des Abgeordneten der Nationalversammlung in Gefahr sieht, da brüllt er auch „Der Staat bin ich“. Nicht aus Eigennutz, sondern aus seinem Empfinden für die unantastbaren Werte der Republik. So jemand biedert sich nicht an, was in einem Wahlkampf manchmal hinderlich. Darin ist er Marine Le Pen unterlegen, die den Wählern sehr charmant gegenübertritt und das Bad in der Menge liebt wie auch beherrscht. Mélenchon kann durchaus volksnah, versetzt die Leute dennoch lieber vom Rednerpult aus in Rage und Aufmerksamkeit, was er wie kein anderer Politiker Frankreichs beherrscht.

Mélenchon doziert vor gebannten Zuhörern. (Twitter Mélenchon)

Niemand bekämpft Le Pen politisch und inhaltlich so wie Jean-Luc Mélenchon, der alte Linke und ewige Kämpfer für die Entrechteten. (Bei Wahlkampfveranstaltungen von Mélenchon werden in alter Tradition der Arbeiterklasse am Ende stets die Fäuste geballt und emporgereckt. Was in Deutschland von den einen opportun und feige weggelassen und den anderen übel denunziert, ist unter den Franzosen völlig normal und gehört zur politischen Kultur.) Ähnlich Jeremy Corbyn in England fliegen Mélenchon vor allem die Herzen der Jugend zu. Anders als Corbyn ist Mélenchon ein begnadeter Redner und sicher der beste Rhetor im politischen Leben seines Landes. Die Spaltung der Linken, forciert durch Grüne, Sozialisten und Kommunisten, macht es Mélenchon eigentlich unmöglich, Le Pen im ersten Wahlgang zu überholen. Wie er dieses seit Monaten dennoch versucht, beeindruckt die Franzosen und macht sie Tag um Tag neugieriger auf seine Argumente. Kein Politiker bekommt bei seinen Veranstaltungen so viel Zulauf. Doch genau wie Corbyn wird er von den Eliten gehasst und von den Medien torpediert. Dazu Mélenchon in einem TV-Interview: „Ich habe gerade einen Feldzug hinter mir, bei dem mir keine Beleidigung erspart geblieben ist. Ich habe nie geantwortet. Warum? Wenn ich mich darauf einlasse und erniedrige, werde ich diejenigen verzweifeln und aus dem Blick verlieren, die ich vertreten möchte. Das wird aber nie geschehen.“ 

Ein echter Linker. Kämpfer an zu vielen Fronten: Jean-Luc Mélenchon (Foto: Screenshot TV2)

Mélenchon will in einem Übergangsprogramm – darin mit der großen Mehrheit der Franzosen einig – Luft, Wasser und Energie zu unantastbaren Gemeingütern machen, vor jedwedem privaten Profitzugriff schützen. Als einziger Kandidat bleibt Mélenchon mit seiner Sammlungsbewegung La France insoumise nicht im Ungefähren, sondern hat sein soziales Regierungsprogramm fixiert und den Wählern vorgestellt. Sofortige Erhöhung des Mindestlohns auf 1.400 Euro netto im Monat. Zurück zur Rente mit 60 Jahren zum vollen Satz mit 40 Beitragsjahren. Einstellung von 100.000 neuen Pflegekräften zur Stärkung der öffentlichen Krankenversorgung. Aufbau einer demokratischeren Republik (Ermöglichung von Amtsenthebung bei Korruption, Verfügungsrecht beim eigenen Körper, somit Recht auf würdigen Tod, Wahlrecht ab 16 Jahren.). Verbot von Pestiziden in der Landwirtschaft und eine Beendigung von Tierquälerei in der Massenhaltung. Einfrieren der Preise für Grundbedürfnisse, einschließlich Kraftstoff und Energie. Sofortiges Verbot von Wasser-, Strom- und Gasabschaltungen. Die seit 2017 durchgeführten Gaspreiserhöhungen sollen umgehend storniert werden. Einbringung der Möglichkeit von Bürgerinitiativen-Referenden, um Gesetze vorzuschlagen oder zu streichen, die Verfassung zu ändern oder gewählte Beamte zu entlassen. Die Franzosen wissen, was sie bekommen, sollte der Außenseiter Mélenchon siegen.

Jugend strömt zu Jean-Luc Mélenchon. (Wahlkampffoto: Twitter Mélenchon)

Jean-Luc Mélenchon war und ist ein glühender Debattenredner, für den der gewählte Volksvertreter alles ist, sofern dieser ausschließlich für das Volk arbeitet. Mit großem Selbstbewusstsein war er in den letzten Jahren der große Gegenspieler von Macrons Regierung in der Nationalversammlung, griff dessen Mehrheiten und Politik stetig an. Das Parlament, Straßen und Plätze, große und kleine Ansammlungen, sein Terrain. Ein letzter Volkstribun. Auf Basis ihrer fehlenden Parlamentsarbeit, genau der Ort, wo er selber wie ein Fisch im Wasser unterwegs, prangert Mélenchon die großen Schwachstellen von Le Pen an. Mélenchon haut ihr diese Ignoranz gegenüber wichtigen Themen täglich mit dem Argument um die Ohren, dass ihre Teilnahme im Parlament sie gezwungen hätte, Farbe bekennen zu müssen. Dabei wäre das Image der angeblichen Volkskandidatin zerstört worden, weil ihr Verhalten sie auf offener Bühne als klammheimliche Unterstützerin der neoliberalen Macron-Politik entlarvt hätte.

Marktplatz von Toulouse am 3. April 2022. Es spricht Mélenchon. (Twitter: Mélenchon)

Diese offene Flanke bekommt Le Pen nicht in den Griff und versucht, weil sie in Umfragen noch sicher vor ihm liegt, Mélenchon zu ignorieren. Der allerdings beherrscht sämtliche Facetten des Wahlkampfes und hält das Thema am Leben, stellt Le Pen wo er nur kann. Vor allem die Jugend und die Intellektuellen stehen ihm im Wahlkampf sehr engagiert zur Seite. Beide Gruppen stehen Le Pen dagegen enorm skeptisch gegenüber. Am Sonntag sind nun alle Franzosen aufgerufen und dran, nicht nur die Jugend und die Denker. GERADEZU wird ebenfalls dran bleiben und über die weitere Entwicklung berichten. Einer von Frankreichs wichtigsten Intellektuellen, der politische Philosoph und Soziologe Geoffroy de Lagasnerie soll das Schlusswort bekommen:  „Es gibt eine wichtige Verantwortung von Aktivisten und Politikern, die Kräfte des Fortschritts absolut zu unterstützen. Die Abstimmung für Jean-Luc Mélenchon erscheint als der einzige Weg, um einen weiteren Rechtsruck in Frankreich zu verhindern.“ (Interview mit dem Online-Portal Blast vom 2. April 2022 unter dem Titel „Aufstand gegen die Verbrechen des Kapitalismus“)

Von links: Edouard Louis (Schriftsteller), Didier Eribon (Schriftsteller), N.N., Mélenchon, Geoffroy de Lagasnerie.
Wahlkampfendspurt für ersten Wahlgang: Marine Le Pen (Twitter Le Pen)
Wahlkampfendspurt für ersten Wahlgang: Jean-Luc Mélenchon (Foto: Twitter La France insoumise)
Setzt auf Wiederwahl. Präsident Emmanuel Macron. (Foto: Twitteer)

*Titelbild: Montage von France24 (Screenshot)

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