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King Lear

Die politische Kopie kommt meistens als Farce daher. Zwischen 1605 und 1608 erblickte das legendäre Bühnenstück „King Lear“ von William Shakespeare das Licht der Welt. Ein alter König, der in die Senilität driftet und polternd und großkotzig sein Reich unter drei Töchtern aufteilt. Dabei kann er Liebe von Lüge nicht unterscheiden, liefert sich zwei Furien aus, verstößt ein mitfühlendes Kind und behält sich natürlich einen Zipfel seiner Macht. Dieser karge Rest zerrinnt ihm allerdings im Sanduhrtempo. Am Ende bleiben Trauer, Wahnsinn, vielerlei Verderben und der Tod. Typisch klassische Tragödie. Shakespeare hielt immer, was man sich von ihm versprach. Lear rutscht in den Sumpf aus Machtlosigkeit und Irrsinn. Darin ständig einen Narren an seiner Seite. Über die Stationen Machtrausch, Fehlurteil, Betrug und Ohnmacht, gefördert durch eigene Torheit, fährt dieser König aus der Haut, wütet und droht in seinem hausgemachten Abstieg gegenüber zwei Töchtern, die ihn gerade zu einem querulantischen Rentner degradierten:

„Ich will mir nehmen solche Rach‘ an euch,
Daß alle Welt – will solche Dinge tun –
Was, weiß ich selbst noch nicht; doch soll’n sie werden
Das Grau’n der Welt.“

Falsche Lagebeurteilung in Sachen Menschenkenntnis und Zeitläufe. (Screenshot: Anthony Hopkins als Lear, TV, 2018)

Der Lear ist Traumrolle und Sehnsucht vieler ernsthafter Schauspieler. Mehr geht nicht. Viele Giganten der Bühne haben sich daran versucht. Charles Laughton, Paul Scofield, Ian McKellen, Laurence Olivier, Derek Jacobi, Anthony Hopkins, Albert Bassermann, Rolf Boysen, Gert Voss, Klaus Maria Brandauer, um nur einige Unvergessene zu nennen. Die Größten der Bühne gaben ihm Statur und Stimme, Herz und Hirn in diese Rolle. Nicht immer ging es gut. Selbst ein Meister seines Fachs wie Anthony Hopkins erkannte sein eigenes Debakel selbstkritisch und war erst mit seinem zweiten Versuch einverstanden, den er Jahrzehnte später für den Film in einer TV-Version brillant tätigte. Immer wieder scheitern vor allem mittelmäßige und schlechte Darsteller an dieser Rolle und zerstören sich selbst auf offener Bühne, weil sie ihre Finger nicht vom Lear lassen können. Zu allem Überfluss geben sich manchmal auch noch Laiendarsteller der Versuchung hin. Ob aus Unkenntnis heraus, einer Bildungslücke wegen oder gar bewusst nahm nun Joe Biden den Ball Lear auf und kopierte, wo er lieber eigenen Verstand hätte walten lassen. Er spielte ihn natürlich nicht auf der Bühne, er gab ihn im Leben und was noch schlimmer, auf dem Feld der Politik. Allerdings machen hohes Alter und Popularität diese Rolle nicht zur Realität und seinen Interpreten auch nicht automatisch zu einem Könner. Joe Biden (79), seines Zeichens immerhin Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, konnte jedenfalls nicht widerstehen. Er wütete allerdings nicht im Theater oder gar gegenüber unbotmäßigen Töchtern, sondern schleuderte seine Wortkaskaden gegen einen gewissen Wladimir Putin (69). Jener Herr ist Präsident von Russland und in unseren Breitengraden das Böse dieser Welt schlechthin. Es tremolierte also Herr Biden: Er und die USA würden Putin und Russland bei weiter zunehmender Spannung um die Ukraine mit Sanktionen „wie er sie noch nie gesehen hat“ überschütten und kündigte „beispiellose Strafmaßnahmen“ an. Man vergleiche bitte. Ist doch nun wirklich Lear pur. Außerdem droht hier einer mit 1.750 atomaren Sprengköpfen (Biden) einem mit 1.570 atomaren Sprengköpfen (Putin). Spätestens jetzt muss auch der letzte Naivling begriffen haben, der Kalte Krieg zwischen West und Ost ist längst zurück. Weswegen sich China freudig die Hände reibt und profitiert. Solche Art Geopolitik kann im Verderben enden.

Lear (Anthony Hopkins) gleitet in Wahnsinn, Verderben, Untergang und Tod. (Screenshot: King Lear, TV, 2018)

Joe Biden trommelt in der Außenpolitik, weil die Innenpolitik ihm nicht gelingt. Sein Anliegen, die tiefen Gräben der eigenen Gesellschaft zuzuschütten, die das Land vielfach durchziehen, ist zum Scheitern verurteilt. Was allerdings, so fair sollte jeder Betrachter sein, nicht an ihm liegt, sondern an eben jener Gesellschaft der USA. Der 2020 verstorbene Stephen F. Cohen, ehemals Historiker und Professor an der Princeton University und der New York University, hat zum Komplex Russland/USA/Ukraine ein Jahr vor seinem Tod ein äußerst aufklärerisches Buch geschrieben. „War with Russia“ (Verlag: Hot Books; 1. Ausgabe). Darin wird klar und belegbar aufgezeigt, wie die USA 2014 halfen, die gewählte Regierung in der Ukraine zu stürzen, die dortige Region zu destabilisieren, alte Politikwerkzeuge ihrer Weltenlenkermentalität anzuwenden. Prof. Cohen erinnert auch daran, dass es die USA waren, die einem gewissen Michael Gorbatschow versprachen, die NATO würde nicht über Berlin hinaus expandieren. Längst vergessen. Die NATO steht mittlerweile an der Westgrenze Russlands. Ist Europas Frieden dadurch sicherer? Das erhellende Buch von Stephen F. Cohen ist jedenfalls eine empfehlenswerte Lektüre und kann unter einem Weihnachtsbaum sogar als Geschenk dienen. Wahrlich keine Entspannungslektüre, aber erhellende Aufklärung.

Wer sich erstmals oder erneut an „King Lear“ geistig bereichern möchte, sollte dies unbedingt tun. Shakespeare steht ja in fast jedem Bücherregal. Einfach mal wieder hineinschauen lohnt auch wegen der Zeitbezüge, die gleichermaßen aktuell und dadurch fast unheimlich wirken. So man lieber einen Film bevorzugt, um dem Barden aus Stratford-upon-Avon in seinem Meisterstück näherzukommen, dem sei die legendäre Filmfassung „King Lear“ von 1970 mit Paul Scofield in der Titelrolle unter der Regie von Peter Brooke ans Herz gelegt. Es gibt auch eine im Film festgehaltene Theaterinszenierung des Wiener Burgtheaters mit Gert Voss als Lear, die 2007 Luc Bondy auf die Bühne brachte. Gert Voss in einer seiner größten Rollen in Bestform. Die TV-Version „King Lear“ von Anthony Hopkins aus dem Jahr 2018 ist auf einigen Livestreams erhältlich und zu kaufen. Mit diesen Empfehlungen haben wir nun doch noch die Kurve vom gefährlichen Laienspiel der Politik zur echten Kunst gekriegt.

*Titelbild: BarBus auf Pixabay

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