Gesellschaft

Ohnmacht

Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ hat im Verlauf der Kunstgeschichte viele Deutungen an den Rahmen bekommen. Sei es drum. Das berühmte Motiv könnte längst als Ausdruck unserer Zeit durchgehen. Munch starb 1944 in Oslo, müsste also sehr vorhersehend gewesen sein. Vielleicht. Natürlich malte er in grausigen Zeiten. Sah und hörte man die TV-Talk-Sendung der ARD unter dem Namen „Anne Will“ und darin die Leiterin des Spiegel-Hauptstadtbüros Melanie Amann, kam einem jedenfalls dieser legendäre Munch-Schrei in den Kopf und vor das Auge. Frau Amann schien in dieser Runde die einzige Person mit gesundem Menschenverstand, die ohne Realitätsverlust und auch in völliger Kenntnis der dramatischen Corona-Lage. Auf ihren konkreten Hinweis, das neue Infektionsschutzgesetz der Ampel-Koalition lässt für die Bundesländer bestimmte Lockdown-Maßnahmen nicht mehr zu, welchen sie mit der Frage verband, warum man in einer schlimmen Notsituation den verfügbaren Instrumentenkasten noch minimiere, erntete sie einen Sturm von Sprechblasen. Der Gesichtsausdruck von Frau Amann zeigte eine gewisse Fassungslosigkeit vor der Ignoranz und Selbstbespiegelung unserer politischen Klasse. Sie brachte damit unbewusst die Gefühlslage zum Ausdruck, die zu dem Zeitpunkt die Zuschauer schon erfasst hatte. Was der erfahrenen Journalistin da beinahe die Sprache verschlug, war ein Politikerquartett, welches offenbar in einer anderen Welt daheim, zumindest in einem anderen Land. Ohnmacht allenthalben. „Mögen hätt ich schon wollen aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“ Dieser Satz von Karl Valentin bekam im Angesicht dieser im öffentlichen TV mäandernden Spitzenpolitikerrunde ganz neue Bedeutung.

Wie ein Teil der politischen Elite dieses Landes ohne Unterlass darüber redet, was die Lage erfordert, ohne die Lage offenbar auch nur im entferntesten zu begreifen, ließ den Betrachter mit einer schaurigen Erkenntnis zurück: Sie wissen nicht, was zu tun, weil sie nicht wissen, was passiert. Beides wollen sie allerdings so nicht sagen, deshalb reden sie irgendwelchen Kokolores zusammen. Der amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn erweckte den Eindruck, er hätte vieles gewusst, richtig gemacht und überhaupt. Natürlich hätte er sogar (hört, hört) aus dem Urlaub wegen Corona telefoniert. Diesem Mann attestierten vor zwei Jahren fast alle Medien „Kanzlertauglichkeit“. Irgendwann schob er ein, er hätte auch einen General in seinem Ministerium. Ein anderer General war da nämlich gerade Thema, einer, der einen künftigen Corona-Krisenstab leiten soll. Ein sehr deutsches Phänomen, im Angesicht von Katastrophen erst einmal eine neue Behörde oder Institution zu schaffen. Mit welchem Gottvertrauen besonders die künftige Außenministerin Annalena Baerbock auf diesen Krisenstab verwies, als wäre er die Lösung für den Himalaya an Problemen, war zum Fremdschämen, wurde aber von selbiger Dame noch höchstselbst übertroffen. In Sachen Corona wollte sie auf ein Verfassungsgerichtsurteil in Sachen Lockdown warten. Warten ist das Stichwort. Die Bude brennt und Frau Baerbock löscht nicht, sondern wartet lieber auf den Innenausstatter. Wie es dem merkwürdigen FDP-Trupp gelang, die Grünen in den Ampel-Verhandlungen übers Ohr zu hauen und vorzuführen, ist für jeden zu erraten, der Frau Baerbock nur zwei Minuten zuhört.

FDP Standard: Sprechblasen über trüben Gewässern. (Motiv von Pixabay)

Überhaupt die FDP. Die völligen Fehlurteile und das populistische Marktgeschrei in Sachen der Pandemie des künftigen Justizministers aus den Reihen der FDP wurde nochmals in Teilen dem Zuschauer in Erinnerung gerufen. Der Mann heißt Marco Buschmann und seine Corona-Peinlichkeiten haben ihn in ein Amt getragen, welches einst von außergewöhnlichen Persönlichkeiten wie Thomas Dehler, Gustav Heinemann, Horst Ehmke, Gerhard Jahn oder Hans-Jochen Vogel bekleidet wurde. Die Kritik an Buschmann perlte am Studiogast Christian Lindner wie alles andere einfach ab. Der Schattenkanzler und künftige Finanzminister schon in Höhen einer Selbstherrlichkeit, die das künftige Amtsverständnis dieses Mannes erahnen lassen. Als dieser Herr Lindner es noch auf die Spitze trieb und auf dem Niveau von jenem Herrn Buschmann die neue Corona-Variante als Begründung lieferte, warum seine Partei FDP die Lage wochenlang dramatisch falsch eingeschätzt hat, verschlug es sicher vielen die Sprache. Als Melanie Amann im Verlauf der Sendung gegenüber Christian Lindner den Hinweis „jetzt widersprechen Sie sich auch noch selber“ anbrachte, interessierte es diesen herzlich wenig. Abgebrüht modelte er den grausigen und von der FDP diktierten Corona-Kurs der Ampel sprachlich zur umsichtigen Politik. Die FDP ist nicht nur ein Problem der kommenden Ampel, die FDP ist längst ein Problem für ganz Deutschland. Die Regierungsuntauglichkeit dieser Partei wird dem Land und den Menschen noch viel schlimmes Ungemach aufbürden. (Was denken eigentlich die Wähler der Grünen und der SPD im Angesicht der frechen Inkompetenz und Macht des Koalitionspartners FDP?) Die Ministerpräsidentin Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern soll hier nicht in den Topf Lindner, Spahn oder Baerbock geworfen werden. Der Versuch, die Dinge redlich, verständlich und seriös anzugehen, darf ihr im Nachgang nicht abgesprochen werden. Oft sah sie dabei aus wie jemand im falschen Film, als sei sie verwundert, wer in diesem Land alles Politik betreibt. Vielleicht hat sie nach der Sendung Olaf Scholz angerufen und ihm erzählt, was er sich mit seinem Traumpartner Christian Lindner an Land gezogen hat. Allerdings hatte auch Manuela Schwesig keine Antworten und verbarg diese Tatsache unter einem fleißigen Schulterklopfen für die Pandemiepolitik in ihrem Bundesland. Allein die Corona-Lage läuft auch ihr längst aus dem Ruder.

Eine Erkenntnis blieb nach diesem Offenbarungseid völligen Politikversagens haften. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem die FDP behaupten wird, die Erde ist ab jetzt eine Scheibe mit „liberaler Handschrift“. Wenn dieses deren Chef Lindner öffentlich verkündet, wird ihm die dann Außenministerin Baerbock kopfnickend und hörig zustimmen. Ganz am Ende bleibt noch eine Frage zum Format der Sendung. Was befähigt Frau Will, über den Sachverhalt der Namensgebung hinaus, den Versuch einer Gesprächsrunde zu leiten?

*Titelbild: Edvard Munch „Schrei“ 

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