Gesellschaft

Wahl mit Qual und ohne Bürger

Frankreich hat den 1. Wahlgang hinter sich. Die 47,7 %, die interessanteste wie erschreckendste Zahl des Wahltages. So viele wahlberechtigte Franzosen sind nicht zur Wahl gegangen. Damit haben sich 25 Millionen Wahlberechtigte an der 1. Runde nicht beteiligt. Hier sei eine Erklärung zum Prozedere erläuternd eingeschoben: Es zählen in Frankreich nur die Wahlkreise. Wer über 50 % in einem Wahlkreis, der hat ihn gewonnen. Wo es keine Sieger gibt, gehen die beiden stimmenstärksten Kandidaten in die Stichwahl. Bei dieser Wahl vom vergangenen Sonntag haben manche Kandidaten die 50 % überschritten, die dennoch in die Stichwahl müssen. Wenn in einem Wahlkreis die Wahlbeteiligung unter 20 % liegt, macht das Wahlgesetz dies nötig. Da haben wir sie wieder, die grausige Wahlbeteiligung! Frankreichs Nationalversammlung (Assemblée nationale) hat 577 Sitze, welche die Anzahl der Wahlkreise spiegeln. Eine nötige Mehrheit beginnt bei 289 Mandaten. Die ernüchternde Wahlbeteiligung, wurde von Spaßvögeln in den Sozialen Medien so karikiert, „es werden bald mehr Abgeordnete vorhanden sein als Wähler“. Politisch noch interessierte Franzosen, vor allem im linken Lager, sind am Tag nach der Wahl jedenfalls über die Flut der Nichtwähler erschüttert, weil so nicht erwartet. Macrons Lager profitiert hingegen in vollen Zügen von der Wahlenthaltung. Deshalb macht das Macron-Bündnis weiterhin kaum Wahlkampf und lehnt jede Debatte kategorisch ab. Dieses Politikverständnis grenzt an Anästhesie für alles, was von der Demokratie noch übrig.

Der Westen, beweihräuchernd der „freie Westen“ genannt, wozu sich Europa zählt, bohrt gern anderen Völkern, Ländern und Kontinenten mit dem hohen Finger der Moral in der politischen Nase. Derweil wenden sich in Europa Millionen Menschen mehr und mehr genau von der ausgehölten Demokratie ab, die in Europa nur noch als Instrumentenkasten für den neoliberalen Gesellschaftsumbau der Eliten und als Kampfinstrument gegen die Unterschicht angesehen und verachtet wird. Nicht mehr als etwas wahrgenommen wird, was dem einfachen Volk gehört und dient. Exemplarisches Beispiel für diesen neoliberalen Obrigkeitsstaat sind Frankreichs Präsident Macron und seine Paladine. Ein Ergebnis gab es dennoch:

NUPES (Mélenchon) = 26,1 %
Ensemble Citoyens (Macrons-Liste) = 25,81 %
Rassemblement National (Le Pen) = 18,67 %
LR-UDI = 11,31 %
(Der Rest verteilt sich auf andere Lager.)

Sensation. Linke Einheit. In 406 Wahlkreisen sind NUPES-Kandidaten im zweiten Wahlgang!

Einige Dinge daran bemerkenswert. Frankreich hat nicht mehr wie früher zwei politische Blöcke, sondern einen linken Block und zwei rechts-neoliberale Blöcke. Erstmals bekommt ein Präsident im 1. Wahlgang der Parlamentswahl direkt nach seiner eigenen Wiederwahl keine Mehrheit. Das linke Bündnis NUPES hat gewonnen, die oben genannten Zahlen sind das Endergebnis, wie die große und seriöse Tageszeitung Le Monde es nach vollständiger Auszählung aller Wahlbezirke veröffentlicht hat. Da schritt dann allerdings sofort das Innenministerium ein. Dort ist ein Erfüllungsgehilfe von Macron Minister. Einer, der auch mal Touristen und Fußballfans vor einem Stadion auf die Rübe hauen und regelmäßig Demonstranten wie Vieh durch Paris jagen lässt. Den Namen Gérald Darmanin sollte man sich merken. Er steht jetzt schon in einer Reihe mit George W Bush und Egon Krenz. Wahlmanipulation ist also bei Weitem keine französische Erfindung. (Hier sei eine Anmerkung erlaubt: Alles ist auch im linken Lager kein Glanz. Diesem Innenminister kroch im Wahlkampf ausgerechnet der Kommunistenchef Fabien Roussel in den Hintern, weil er zweifelhafte Todesschüsse der Polizei zu deutlich beklatschte, NUPES und Mélenchon damit in den Rücken fiel. Kommunisten heutiger Couleur sind auch in Frankreich nur noch billige Michel.)

KP-Chef Roussel gleicht in seiner politischen Dummheit oft deutschen Linken. (Twitter: FR)

Ein weiterer Einschub. Allerdings in deutscher Sache: Deutsche Medien übernehmen natürlich die getürkten Zahlen des französischen Innenministeriums und lassen die Sache mit dem Wahlbetrug einfach aus. Ein schlimmer Meinungsmacher ist nach wie vor der Studioleiter des ZDF in Paris namens Thomas Walde. Er steht in der bewährten Tradition des Hugenberg-Journalismus und entblödet sich stets immer wieder aufs Neue als nützlicher Idiot des Neoliberalismus. Hier sein Twitter O-Ton: „Wie finden es eigentlich die deutschen Grünen, dass ihre französischen Freunde gemeinsam mit Mélenchons Linken, Sozialisten und Kommunisten bei der französischen Parlamentswahl antreten?“ Man könnte jetzt Herrn Walde ein Wort von Thomas Mann („Grundtorheit unserer Epoche“) in Erinnerung rufen. Oder ihn fragen, was meinen Sie lieber Herr Walde, wie der gemeine Gebührenzahler sich fühlt, wenn ein Frankreich-Korrespondent von selbigem Frankreich so viel versteht wie eine Gurke von einem Lexikon? Aber machen wir diese Büchse nicht weiter auf. Wer über Frankreich allerdings nichts wissen will, der sollte Herrn Walde freilich unbedingt weiterhin einschalten.

Am Ergebnis drehen, bis es passt. Frankreichs Innenminister. (Twitter: TV2)

Zurück zu Innenminister Gérald Darmanin, ein bevorzugter Paladin von Macron. Der rechnete in seinen Endzahlen sämtliche Überseegebiete einfach heraus, nahm einigen Abgeordneten (u. a. Hervé SaulignacJean-Hugues Ratenon) die Zugehörigkeit zu NUPES weg, ordnete sie als unabhängige ‚linke Kandidaten‘ neu ein und stahl somit 44.420 Stimmen. Nach dem Stimmenklau erkläre er dann staatsmännisch, das Macron-Lager hätte mit 21.359 Vorsprung die Wahlen gewonnen. Da müssten selbst die Chinesen staunen. NUPES könnte gegen diese Willkür beim Senat Beschwerde einlegen, die dann nach dem 2. Wahlgang verhandelt wird. Also zu spät. So viel zu der Art von Demokratie, die wir im Westen anderen Teilen der Welt ständig lehren wollen. Sorry, ‚freier Westen‘ muss es natürlich heißen. Vielleicht sollte noch das Wort Rechtsstaat untergebracht werden? Das Bündnis NUPES und deren Wähler per Hilfe durch die Regierung betrügen, um dadurch den Platz eins für Macrons ‚Ensemble Citoyens‘ zu retten, ist ein Akt der Unverfrorenheit, den die Franzosen in dieser Infamie auch noch nicht erlebt haben. Mit solcher Art Eingriffen macht man die Demokratie sicher noch reizvoller. Jean-Luc Mélenchon sendete umgehend einen öffentlichen Gruß:

Macron und Darmanin, ein bisschen Ehrlichkeit ist gefragt. Wir wissen, dass NUPES Sie sauer macht, aber bewahren Sie ein Minimum an Ehre und manipulieren Sie die Wahlen nicht. Es ist klar, dass es jetzt Zweifel gibt, was genau Gérald Darmanin mit den Ergebnissen macht. Solche Bräuche einer Bananenrepublik können wir in Frankreich nicht gebrauchen. Es wirft Fragen darüber auf, was vorher alles schon passiert ist. (Twitter JLM, 13.06.2022)

Jeder, der vorne liegt, NUPES oder Macron, bewegt sich jedenfalls um die 26 % und hat damit einen Zuspruch von 12 % der gesamten Wahlberechtigten des Landes. Welch Legitimation! Das merkwürdige Wahlrecht wird wohl dafür sorgen, dass Macrons neoliberales Bündnis am nächsten Sonntag gewinnt. Dann wird er mit ungefähr diesen 12 % das Land regieren. So sieht Demokratie aus. Eines bleibt auch festzustellen. 70 Prozent der Franzosen lehnen den Präsidenten Emmanuel Macron weiterhin ab. Zur Erinnerung: Macron ist nur wiedergewählt worden, weil ihn Linke, Sozialisten, Grüne und Kommunisten im 2. Wahlgang der Präsidentschaftswahl gegen Marine Le Pen unterstützten.

Der populäre Sportler und angesehene Umweltschützer Arthur Germain zeigt, was die Jugend in Frankreich von Wahlen hält: ab in die Mülltonne. (Twitter: A. Germain)

Linke und Grüne halfen Macron ins Amt, um jetzt umgehend von seinen Paladinen beschimpft zu werden. Noch besser. Wo es in Wahlkreisen im 2. Wahlgang zu Duellen der Le Pen Kandidaten gegen Kandidaten von NUPES kommt, weigert sich die Macron-Seite, die linken Kandidaten zu unterstützen. Das Gefasel von der Einheit der Republik und der Demokraten gegen rechtsextreme Anfeindungen gilt für Neoliberale nur, so es sie selbst negativ betrifft, ansonsten öffnen sie, wenn es ihrer Macht-Arithmetik dient, auch den Rechten das Tor. Die Masken fallen! Sollte es nicht zu einer eigenen Mehrheit reichen, wird das Macron-Lager auch ein Bündnis mit Le Pen eingehen, da sind sich in Frankreich viele mittlerweile sicher. Außerdem wurde gestern Abend vom Macron-Lager das NUPES Bündnis mit Marine Le Pen gleichgesetzt. Diesen Affront empfinden sehr viele Franzosen als Moment der Schande, in dem das Lager von Emmanuel Macron beschließt, Millionen linker Wähler zu beleidigen, die ihn an die Macht zurückgebracht haben, um „Nein“ zur extremen Rechten und Le Pen zu sagen. Der Historiker Christian Delporte, von der Universität Versailles, benannte es noch in der Wahlnacht:

Viele linke Wähler, die zweimal für Macron gestimmt haben, um die extreme Rechte zu blockieren, können sich zu Recht beleidigt fühlen, wenn die Premierministerin Élisabeth Borne das Bündnis NUPES in dasselbe antirepublikanische Lager wie das der RN von Le Pen einordnet.

Die Kraft der Solidarität, Organisation und Einheit, gekoppelt mit einem fundierten Programm haben NUPES und Mélenchon zur Nr. 1 in diesem 1. Wahlgang gemacht. Die Merkwürdigkeiten des französischen Mehrheitswahlrechts werden aber wohl in der 2. Runde dem Präsidentenlager den Sieg bescheren. So sich nichts Grundlegendes an der Wahlbeteiligung ändert. In einer Woche die Jugend zu gewinnen, die sich mehrheitlich deutlich für NUPES entschieden, aber in einem noch höherem Maß daheim blieb, an die Wahlurne zu holen und vor allem die Unterschicht zu mobilisieren, wäre die gewaltige Aufgabe für NUPES in den nächsten sechs Tagen. Doch diese Unterschicht spielt eben partout nicht mehr mit, scheint sich final vom Staat und von dem System Wahl verabschiedet zu haben. Sie glauben, die Gelbwesten geben ihnen recht, Veränderungen lassen sich nur noch über die Straße, nicht über ein Parlament durchsetzen oder verhindern. Ihr Ausklinken aus dem Prozess der Wahlen ist ein Triumph für die Neoliberalen, wenn nämlich deren erste Opfer sich nicht mehr wehren.

Alltag in Frankreich. Obdachlosenzelte. An Wahlen denkt dort niemand mehr. (Foto: TV2)

Der Schlüssel zur zweiten Runde liegt also in der Wahlbeteiligung, die am Sonntag, dem 12. Juni für eine erste Runde der Parlamentswahlen mit 52,3 % historisch niedrig war. Die Stimmenthaltung bei den Parlamentswahlen hat seit 1993 stetig zugenommen. Unter Arbeitern, sehr jungen Menschen und der Unterschicht sind die Enthaltungen am stärksten. Dort ein Erwachen per politischer Initialzündung auszulösen, wäre die einzige Chance für NUPES, die Wahl am nächsten Sonntag zu gewinnen. Macrons Lager wird dagegen weiter die Demobilisierung betreiben, um damit bequem an der Macht zu bleiben. Wenn eines Tages die Neoliberalen nur noch sich selbst wählen, dann haben sie ihr Paradies erreicht. In dieser neuen Welt ist für die Masse Mensch sowieso kein Platz mehr vorgesehen.

Ministerpräsidentin Borne hält TV-Debatte für überflüssig. Furcht vor Mélenchon groß. (Twitter: EB)

NUPES hat inzwischen eine Debatte vorgeschlagen. Jean-Luc Mélenchon mit der Ministerpräsidentin Élisabeth Borne, in welcher vor dem 2. Wahlgang die Positionen von NUPES und dem Macron-Lager den Wählern erläutert werden. Auch mit dem Ziel, Menschen für die Wahl zu gewinnen. (Mélenchon: „Ich hätte gerne eine Debatte mit Madame Borne.“) Borne und das Macron-Lager haben umgehend abgelehnt. Zu groß die Frucht, dass der Frontmann der Linken, die neoliberale Macron-Gehilfin in aller Öffentlichkeit rhetorisch und inhaltlich wegfegt. Diese Ablehnung des neoliberalen Lagers zeigt ebenfalls wieder deren Demokratieverständnis. Jean-Luc Mélenchon hat sich als der beste politische Stratege Frankreichs herausgestellt. Seine Strategie ging absolut auf. Er konnte dadurch das Macrons-Lager in diesem 1. Wahlgang besiegen. Aber die niedrige Wahlbeteiligung und die gemeinsame Sache der Neoliberalen (Macron) und Rechten (Le Pen) im 2. Wahlgang, wird ihm den Triumph kosten und seine politische Karriere beenden. Bis zu diesem Moment wird Frankreich ihn noch sechs Tage mit voller Kampfkraft agieren sehen. So bereitet er guten Boden für seine Nachfolger. Wie sagte es Ernst Bloch in seiner Eloge auf Thomas Müntzer und die Bauernkrieger, in Bezugnahme auf deren Niederlage in der Schlacht bei Frankenhausen: „Geschlagen ziehen wir nach Haus. Enkel fechten es besser aus.“ (Der Schreiben dieser Zeilen gibt unumwunden zu, hier absolut parteiisch zu sein. Vor allem in Zeiten, wo man im Kampf gegen den Neoliberalismus und dessen Menschenverachtung parteiisch sein muss. Und er bewundert Menschen, die Bäume pflanzen, obwohl sie nicht mehr in deren Schatten sitzen werden. Aus solcher Machart ist Mélenchon. Es gibt seiner leider zu wenige.)

Hält TV-Debatte aus Respekt vor Wählern und der Demokratie für notwendig: Jean-Luc Mélenchon

Der interessanteste NUPES Kandidat unter den vielen bewundernswerten Frauen und Männern des Bündnisses, ist auf jeden Fall ein Mann der Zukunft und auch der Gegenwart. Nach Expertenmeinung angeblich der Welt begnadetster Mathematiker, der legendäre Fields-Preisträger (Nobelreis für Mathematik) Cédric Villani. Solche Menschen bewerben sich in Frankreich um politische Mandate! Man könnte neidisch werden. Hier Villani, der es ebenfalls in die Stichwahl schaffte, bei seiner Stimmabgabe:

Zum Abschluss soll Frankreichs letzter Volkstribun und Revolutionär, der größte Kämpfer gegen den Neoliberalismus, ein wahrer Erbe von Danton, Jean Jaurès, Léon Blum und François Mitterrand, noch einmal zu Wort kommen. Wenn sein Appell höchstwahrscheinlich auch vergebens sein wird. Trotz alledem. Das Wort geht an Jean-Luc Mélenchon, gesprochen am Wahlabend des 12. Juni 2022 in der NUPES-Zentrale:

Die Präsidentenpartei ist geschlagen und besiegt. Erstmals in der 5. Republik verfehlt ein gewählter Präsident die Mehrheit. Gehen Sie am nächsten Sonntag wählen, um die desaströsen Projekte von Macron abzulehnen. Beeilen Sie sich mit Ihren Stimmzetteln, um 30 Jahre Neoliberalismus zu beenden.

Jean-Luc Mélenchon (Twitter: JLM)

 

*Titelbild: Erbitterte Gegner. Emmanuel Macron und Jean-Luc Mélenchon. (Twitter: TV2) 

 

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