Interessantes

Weltmacht Indien

Was macht eigentlich die unscheinbarste Großmacht der Welt, was macht Indien? Die eigene Neutralität und Blockfreiheit ist dem Land ein hohes Gut seit den Tagen von Nehru und seiner Tochter Indira Gandhi. Mit Blick auf die eigene Interessenlage hat sich diese Haltung oftmals als strategisch richtiger und kluger Kurs in vielerlei Konflikten herausgestellt. Gerade wir Europäer, die Indiens Schweigen zum russischen Angriff kritisch sehen und wieder Belehrungen senden, sollten etwas Rückschau halten. Wo waren wir und unser moralischer Zeigefinger, als die Inder sich gegen den pakistanischen Terror in Kaschmir oder gegen Chinas Aggression in der Region Aksai Chin am Galwan-Fluß zur Wehr setzen mussten? Aus dem westlichen Desinteresse haben die Inder Bestätigung für ihre berechtigte Annahme gezogen: „Der Westen wird uns nie unterstützen, selbst wenn wir uns auf die Seite des Westens stellen!“ So hört man es auf Indiens Straßen, so liest man es in Indiens Medien schon seit vielen Jahren. Deshalb werden z. B. die UN und deren Institutionen aus Sicht der Inder auch für Organisationen gehalten, die von westlichen Mächten geprägt und nur deren Interessen wahren. In dieser Haltung ist es in Indien stabile Mehrheitsmeinung, im möglichen Ernstfall Krieg völlig auf sich selbst gestellt zu sein. Stolz ist man in Indien auf die eigene Armee und deren wachsendes Nukleararsenal. Mittlerweile verfügt Indien nicht nur über Landraketen mit nuklearen Sprengköpfen, sondern längst auch über U-Boote mit Atomwaffen. Geschätzte 1,5 Millionen indische Soldaten stellen die zweitgrößte Armee der Welt dar, die als kampfbereit und schlagkräftig eingeschätzt wird.

Indische Atomrakete auf einer Militärparade.

Indien mit einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen und seiner Innovationskraft ist ein Faktor auf diesem Globus und eine Supermacht im Wartestand, die sich auch künftig von niemandem vereinnahmen lassen wird. Gerade wir im westlichen Teil der nördlichen Halbkugel sollten die Inder nicht unterschätzen oder gar mit Hochmut behandeln. Im Dezember 2021 war Wladimir Putin in Indien und hatte eine ziemlich herzliche Begegnung mit Indiens Premierminister Narendra Modi. Holte Putin sich für seine Annexionspläne nicht nur in Peking, sondern auch in Neu-Delhi stillschweigende Rückendeckung? Keiner weiß darüber Genaueres. Indien enthielt sich wie China der Stimme, als im UN-Sicherheitsrat der Angriff auf die Ukraine verurteilt werden sollte. Indiens Regierung weiß natürlich auch, solche Verurteilungen haben wegen der Vetomächte den Wert feuchter Bierdeckel und bleiben folgenlos. Natürlich zogen die Russen ihre Vetokarte. Die Enthaltungen Indiens und Chinas wurden in Kreisen westlicher Diplomaten als Erfolg gewertet. Eine etwas merkwürdige Sichtweise. Man wird sehen, ob dieser diplomatische Optimismus wirklich Berechtigung hat.

Indiens Ministerpräsident Modi sagte kürzlich: „Eine neue Weltordnung entsteht.“ Vielleicht liegt in dieser Äußerung eine tiefere Bedeutung, die wir noch nicht ermessen können. Modi hat nun mit Wladimir Putin telefoniert, um ein sofortiges Ende der Gewalt in der Ukraine gebeten. Laut dem Regierungsbüro von Modi betonte dieser im Telefongespräch, die Differenzen zwischen Russland und der NATO können nur durch einen ehrlichen und aufrichtigen Dialog gelöst werden“. Premier Modi forderte außerdem „konzertierte Bemühungen von allen Seiten, um zu diplomatischen Verhandlungen und zum Dialog zurückzukehren“. Interessant, dass der indische Regierungschef nicht von einem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine redete, sondern eine Tatsache richtig und sachlich benannte. Es geht im Kern um den Konflikt von Russland mit den USA und der NATO. Es schimmert längst eine sattsam bekannte Formel des Kalten Krieges durch, wo oft und unsäglich in allen Ecken der Welt sogenannte Stellvertreterkriege der Russen (Sowjets) und der USA geführt und geduldet wurden. Daher, was bitter klingen mag, kann die Ukraine durchaus Gefahr laufen, auf dem Schachbrett der Großmächte und deren Interessenlagen nur Bauer zu sein. Vieles auf der politischen Weltbühne, was vor Tagen noch Stabilität suggerierte, ist dramatisch in Bewegung geraten, einiges sogar am unkontrollierten Rutschen. Die Zeichen der Zeit signalisieren jedenfalls Sturm. Den dafür nötigen Wind säen derzeit sehr viele, vor allem der Mann im Kreml.  

Der Strom der Wahrheit fließt durch Kanäle von Irrtümern. (Rabindranath Tagore, geb. 1861 – gest. 1941, indischer Philosoph und Schriftsteller.)

*Titelbild: Harikrishnan Mangayil auf Pixabay

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