Leben

Abgesang der Aufklärung

Die US-Justiz will den Gründer von WikiLeaks für die Verbreitung der Wahrheit anklagen, um ihn dann 175 Jahre ins Gefängnis zu stecken. Der Tod sozusagen scheibchenweise. Eine der widerwärtigsten Oligarchien der nördlichen Halbkugel, die Herrschaft der britischen Murdoch-Tories, hat nun beschlossen, Julian Assange an die USA auszuliefern. Europa, das sich gern moralisch über alles und jeden erhebt, hat zwischen Brüssel und Paris wie zwischen Berlin und Madrid damit keine Probleme. Den Halbdiktaturen in Ungarn oder Polen, die es mit Menschenrechten und Freiheit ohnehin nicht sonderlich genau nehmen, ist ein Leben sowieso egal.

Das ist also der Kontinent der Aufklärung! Immanuel Kant würde sich angeekelt im Grabe drehen. Es fällt einem dazu wieder einmal Max Liebermann ein: „Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!“ Europäische und darin ganz besonders die grüne Verkommenheit lässt sich an zwei Zitaten festmachen, die hier folgen. Die älteste Geschichte der Welt. Mit Dienstwagen färben sich Brillen anders und der Blick wird trüber. Wer etwas über ekelerregende Doppelmoral und widerwärtigen Gehorsam gegenüber einer imperialen Großmacht lernen möchte, der achte daher bitte vor allem auf die Datierung und die Verwandlung einer Abgeordneten zu einer Ministerin:

Julian Assange und WikiLeaks hatten mehr als 700.000 geheime Dokumente über militärische und diplomatische Aktivitäten der USA veröffentlicht, insbesondere derer im Irak und in Afghanistan. Alle Sauereien, jeden Betrug, den man sich bei einer globalen Macht in all ihrer Skrupellosigkeit vorstellen kann. Und noch ein bisschen mehr. Aufdeckung von Kriegsverbrechen inklusive. Als Nebeneffekt war noch zu lesen, für wie dumm und unwichtig die US-Administration die meisten Politiker der Welt hält, darunter jene in Europa, die sich oft als Spottfiguren in den Dokumenten fanden. Eine kleine Hoffnung flammte bis heute für Assange. Der Anführer von Frankreichs Linksbündnis, Jean-Luc Mélenchon, hatte schon vor Wochen erklärt, sollte er die Wahlen gewinnen und Ministerpräsident von Frankreich werden, würde er umgehend Assange die französische Staatsbürgerschaft verleihen. Kein französischer Bürger darf ausgeliefert werden. Aber die Zeichen dafür stehen schlecht. Die französische Jugend, die gerade von Präsident Macron auf die neoliberale Streckbank gelegt wird, sich Bildung bald nicht mehr leisten kann, wird heute wohl erneut nicht wählen. Am Mittag lag die Wahlbeteiligung in einigen Pariser Wahlbezirken bei 12 Prozent (!). Spaßbäder waren reizvoller als Wahlurnen. Die neoliberale Verblödungsmaschinerie (Tittytainment) und Demobilisierung bestimmter Wählerschichten trägt längst auch im Land einer glorreichen Revolution saftige Früchte.

Weil wir uns gerade in Frankreich befinden, soll noch ein anderer Franzose zu Julian Assange abschließend das Wort bekommen. Der weltberühmte Mathematiker Cédric Villani setzte am 18. Juni 2022 einen Tweet ab, dem sich jeder anständige Mensch anschließen kann:

Eine schreckliche Nachricht. Diese Entscheidung ist eine klare Niederlage für die Informations- und Meinungsfreiheit, eine ernste Bedrohung für alle Freiheitskämpfer im Dienste des Gemeinwohls.

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