Gesellschaft

Alles was Unrecht

Demokratie und deren Säule Recht lernen in Deutschland viele Erdenbürger bis zum heutigen Tag am liebsten vom bewunderten Musterland USA. Dort liegt die Demokratie auf einer stabilen Tischplatte, von vier Begriffen getragen. Freiheit, Werte, Wahlen, Recht. Alles verstrebt, durchwirkt und verbrämt mit dem, was man dort für Glauben hält. Wie wunderbar das doch klingt. Was sich so gut anhört, wird natürlich weltweit als der direkte Weg zu Glück und Segen eines Landes und Volkes gepriesen. Daran haben sich global gefälligst alle ein Beispiel zu nehmen, sonst kann es schnell Ärger geben. Für immer mehr Beobachter ist die besagte Tischplatte allerdings eher ein Obduktionstisch und die darauf befindliche Demokratie Marke USA nur noch eine kalte Leiche. Greifen wir uns deshalb das Thema Recht, weil man danach die Punkte Freiheit, Werte, Wahlen durchwinken kann. Es bleibt der Glaube. Dieser allerdings in fundamentalistischer wie inquisitorischer Form. Wir hatten das Thema auf GERADEZU schon angesprochen. Manche Dinge muss man leider wiederholen, weil aufziehende Gefahren oft unmerklich und nicht laut daherkommen. Was Amerika erschüttert, bebt in vielen Fällen oft vernehmlich irgendwann in Europa nach. Verändert sich die USA, verändert sich Europa. Längst ist nämlich allen Beobachtern klar, dieses eine Urteil war nur ein Auftakt. Worum ging es? Man muss nur Millionen Frauen oder unzählige Ärzte und Mediziner in den USA fragen, die unlängst per Gerichtsbeschluss des Supreme Court of the United States (Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten) vorauseilend kriminalisiert wurden. Sofern sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden sollten, werden sie auf illegale Wege getrieben und schweben damit in akuter Gefahr, juristisch verfolgt zu werden. Natürlich auch in gesundheitlicher Gefahr. Was so schwefelig stinkt, ist eine andere Art von Inquisition. Es brennen keine Scheiterhaufen, wir sind schließlich zivilisiert oder so ähnlich. Es sprach immerhin das höchste Gericht der USA, ein Rat der unantastbaren Götter, weil auf Lebenszeit ernannt.

Diese Götter sind mit dem Land und den Menschen längst noch nicht fertig. Aktuell formulieren und fummeln sie an anderen Präzedenzfällen umher und wollen die Uhren weiter auf gesellschaftliches Mittelalter stellen. Im Fall ‚Brown gegen Board of Education‘ entschied der Oberste Gerichtshof 1954, dass die Rassentrennung in öffentlichen Schulen gegen den vierzehnten Verfassungszusatz verstoße. Die Entscheidung von 1954 erklärte, dass getrennte Bildungseinrichtungen für weiße und afroamerikanische Studenten von Natur aus ungleich seien. Ein großer Tag für die Bürgerrechtsbewegung und für die Gleichheit, eine schwere Schlappe für Rassisten und Ewiggestrige. 1954 saß im Weißen Haus ein Republikaner, Dwight D. Eisenhower, ein überzeugter und charakterstarker Demokrat, der als Oberbefehlshaber der Alliierten auf dem westlichen Kriegsschauplatz entschieden geholfen hat, Nazideutschland zu besiegen. Das Oberste Gericht war zu jener Zeit in seiner Mehrheit mit Richtern besetzt, die keiner politischen Agenda folgten, sondern sich dem Recht, den Menschen und der Nation verpflichtet fühlten. So beendeten diese neun Richter einen willkürlichen rassistischen Akt einstimmig. Ein positiver Meilenstein in der Rechtsprechung der USA.

Einst Hort für das Recht. Heute Stätte fundamentalistischer Rechtsauslegung. (Supreme Court Gebäude, Washington)

Meilensteine werden heute auch gesetzt, allerdings unzivilisierte und rückwärtsgewandte. Eher finstere Felsbrocken, die für einen fundamentalistischen und reaktionären Kurs stehen, der das Land und die Menschen in den Würgegriff nimmt. Das Gericht hat unlängst gegen Waffenkontrolle, gegen Trennung von Kirche und Staat und die Umweltbehörde der USA entschieden. Sämtlich reaktionäre und bedrohliche Entscheidungen. In einer Schlüsselstellung drei von Donald Trump ernannte Richter. Aber diese sind nicht die treibenden Kräfte, sie sorgen nur für die nötige Mehrheit. Motoren dieser christlich-fundamentalistischen Rechtsprechung sind zwei andere Richter. Richter Clarence Thomas, ernannt von George Bush und Richter Samuel Alito, ernannt von George W. Bush. Alito ist der Mann, der den Frauen den Fehdehandschuh hingeworfen und die bisherige Rechtsprechung umformulierte und kippte. Im Zusammenspiel mit Thomas geht er jetzt ans Eingemachte. Bürgerrechte und die Demokratie selbst im Visier. Die anstehende Entscheidung im Fall ‚Moore vs. Harper‘ könnte den Gesetzgebern der Bundesstaaten ermöglichen, die Wahlmänner des Präsidenten nach Belieben zu ernennen. Und sie können mit dem Segen des Supreme Court weiter gehen, als sie es bereits getan haben, indem sie Wahlbezirke manipulieren und Wähler unterdrücken, um Konservative zu bevorzugen. Das Urteil könnte es den Gesetzgebern auch ermöglichen, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vollständig außer Kraft zu setzen. Völlig unabhängig davon, wer in ihrem Bundesstaat die meisten Stimmen erhalten hat. Wie nennt man so etwas? Demokratie? Am Ende der Rechtsprechung von Alito/Thomas kann stehen, dass die sozialen Unterschichten, darunter sehr viele Afroamerikaner, nicht mehr in der Lage sein werden, sich den Vorschriften gemäß in Wahllisten einzutragen. Was vor allem demokratische Wählergruppen betrifft und die Republikaner sehr glücklich macht. Es sind progressive, aber auch konservative Kräfte in den USA, die längst davon sprechen, dass so der direkte Weg in den Einparteienstaat beginnt.

Reaktionäre Männer in Roben. Samuel Alito. Clarence Thomas.

Ein besonderer Fall dabei der Richter Clarence Thomas, über dessen Agenda das Magazin ‚The New Yorker‘ am 9. Juli 2022 wie folgte werte: „Unter der Ägide von Richter Clarence Thomas geht der Oberste Gerichtshof nun von einer Gesellschaft außergewöhnlicher Gewalt und minimaler Freiheit aus. Seit Jahrzehnten hat Thomas eine zutiefst pessimistische Sicht des Landes, die in seiner Auslegung des vierzehnten Verfassungszusatzes wurzelt. Nach den jüngsten Urteilen des Obersten Gerichtshofs wird seine Dystopie zu unserer Realität.“ (Am Ende des Beitrages zum besseren Verständnis eine kurze Information zum 14. Verfassungszusatz.)  So liest sich der Abgesang auf eine Demokratie. Dass ausgerechnet der Afroamerikaner Clarence Thomas Bürgerrechte einkassieren und alte Wunden der Rassentrennung wieder aufreißen will, schockiert die alte Bürgerrechtsbewegung wie die afroamerikanische Bevölkerung der USA zutiefst. Der prominente Schauspieler und engagierte Bürgerrechtler Samuel L. Jackson, auch er ein Afroamerikaner, fand bittere Worte, die ein Weißer oder Nicht-Afroamerikaner sich absolut zu verkneifen hat und nicht sagen sollte: „How’s Uncle Clarence feeling about Overturning Loving v Virginia??!!“ twitterte Jackson Richtung Thomas. Jackson zielt hier auf mehrere Dinge sehr hart und unversöhnlich ab. ‚Onkel Clarence‘ spielt auf ‚Onkel Tom‘ an, eine alte Romanfigur, die als Schwarzer die Herrschaft der Weißen akzeptiert und deren Handlanger oder nützlicher Idiot ist. (Im Roman von Harriet Beecher Stowe ist ‚Onkel Tom‘ Sklave, wird aber von seinen weißen Herren „gut behandelt“ und darf als Verwalter der Farm arbeiten, dabei andere beaufsichtigen.) Ein bitterer Vorwurf und schwere Beleidigung unter Afroamerikanern. Außerdem bezieht sich Jackson auf das Gerichtsurteil ‚Loving vs. Virginia‘. Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 1967, womit das Verbot „gemischtrassiger“ Ehen zwischen weißen und nicht weißen Partnern aufgehoben wurde. Clarence Thomas ist mit einer Weißen verheiratet. Solche Andeutungen machen in den USA längst die Runde. In seinem reaktionären Änderungswahn würde Thomas bestimmt irgendwann die Rassenschranke bei Eheschließungen wieder senken und seine eigene damit ungültig oder gesetzwidrig machen. Was vor Jahre noch als schlimmer Scherz galt, bleibt den Leuten im Angesicht der Gesetzgebung des Clarence Thomas längst im Halse stecken. Es lacht keiner mehr. Wir zitieren Jackson hier nicht aus verbalem Voyeurismus, sondern deshalb, weil der Vorgang exemplarisch die tiefe Zerrissenheit der US-Gesellschaft aufzeigt.

Verbindlich und freundlich. John Roberts. Chief Justice of the United States. (Screenshot: 3Sat-Doku)

Das Oberste Gericht der USA hat auch einen Vorsitzenden (Chief Justice of the United States), John Roberts. Der sitzt vor und ist für offizielle Anlässe gedacht. So nimmt der Vorsitzende dem neu gewählten US-Präsidenten den Amtseid ab. Ansonsten primus inter pares. Ein freundlicher Herr mit dem Bedürfnis nach Harmonie und einem sicheren wie bescheidenen Auftreten. Durchaus sympathisch zu nennen. Roberts ist von George W. Bush nominiert worden. Als Konservativer agierte er dann auch im Gericht. Nur einmal fiel er aus dieser konservativen Rolle. Da half er dem progressiven Flügel des Gerichtes zu einer Mehrheit, als dieser Obamas Krankenversicherungsprojekt vorübergehend rettete. Ansonsten marschiert er, obwohl kein Reaktionär, juristisch wie ein Lamm hinter Alito und Thomas hinterher. An seiner Seite die drei Trump-Richter. Einfach zu rechnen. Es sind sechs konservative bis erzreaktionäre Juristen am Richtertisch. Bleiben also noch drei eher liberale Richter auf verlorenem Posten, die Drehung des US-Rechtes Richtung reaktionärer, diskriminierender und fundamentalistischer Rechtsprechung zu verhindern. Anhand dieser Mehrheitsverhältnisse unmöglich.

Ein starker Präsident könnte die Zahl der Richter erhöhen, in seiner Amtszeit Richter nominieren und durch den Kongress bringen, eine liberale Rechtsauffassung retten und die Kehrtwende der USA Richtung Mittelalter verhindern. Doch die Demokraten haben Joe Biden im Weißen Haus, ein Mann, der an der Grenze der Alterssenilität schrammt und noch taugt, den Europäern die Fahrt vorzumachen. In der US-Innenpolitik wirkt seine vorgebliche Macht immer zahnloser. Biden ist 79 Jahre. Seine Mitstreiterin bei so einem Kampf um das Oberste Gericht müsste Nancy Pelosi sein. Sie ist als Mehrheitsführerin der Demokraten die Sprecherin des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten. Eine machtvolle Position. Nancy Pelosi ist 82 Jahre alt. Als das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch gekippt wurde, reagierte Pelosi nicht mit einer kraftvollen politischen Erklärung, sie sagte stattdessen ein belangloses Gedicht auf. Den Frauen in den USA könnte im Angesicht von Biden und Pelosi dämmern, wer solche Freunde, der braucht keine Feinde mehr. Gegen Pelosi und Biden wirkt der fettig-gelbgesichtige Trump mit seinen 76 Jahren, vor allem wenn ihm der Wind sein Haargewächs zerzaust, fast wie ein jugendliches Kraftpaket. Bei den nächsten Kongresswahlen werden sich die Republikaner die Mehrheit zurückholen, mit der die Demokraten nichts anzufangen wussten. 2024 steht dann der Sieg eines Republikaners bei der Präsidentenwahl an.

Konkurrenten und doch Brüder im Ungeist. Donald Trump. Ron DeSantis. Einer wird auf Biden folgen.

Neben Trump steht sehr siegessicher und mit besten Aussichten Florida Gouverneur Ron DeSantis in den republikanischen Startlöchern. Ein glühender Anhänger des juristischen Kurses von Alito und Thomas, noch viel reaktionärer als Trump und was schon beunruhigend, viel gerissener, weil schlauer. Damit gefährlicher. Wer hierzulande nämlich denkt, alles Ungemach der USA ließe sich mit dem Namen Trump erklären, und falls dieser irgendwann Geschichte, kann man sich wieder mit einem reinen Paradies befreundet wähnen, dem sei dringlich ein Blick über den Atlantik empfohlen. Wer jetzt noch auf Joe Biden hofft, sollte diesen politisch mit der Lupe suchen. Überfordert und altersschwach agiert der US-Präsident in dieser gesellschaftlich hochexplosiven Zeit zwischen Ohnmacht und Desinteresse. An seiner Seite eine Vizepräsidentin, die einst viel Hoffnung gab, sich aber auf der politischen Bühne als ein Totalausfall zeigte. Ein Armutszeugnis für die Demokraten, die den Republikanern in allen Feldern mehr und mehr das Land überlassen.

Was die Welt- und Atommächte Russland und China nicht vorweisen – eine Demokratie – ist auch bei der Atom- und Weltmacht USA dramatisch auf dem Rückzug, sofern überhaupt noch etwas vorhanden. Kein schöner Ausblick. Blicken wir deshalb nochmals auf die bereits erwähnte und zitierte Kolumne im ‚New Yorker‘. Der Autor Corey Robin ist Journalist und Professor für Politikwissenschaft am Graduate Center der City University of New York. Er sieht gesellschaftliche Prozesse wirken, vor denen er nicht die Augen verschließt. So ist für ihn sehr deutlich erkennbar, Konservative und Neoliberale haben über Jahrzehnte den US-Sozialstaat abgebaut, um somit eine „Jeder-kämpft-mit-eigener-Waffe-für-sich-Gesellschaft“ endgültig zu legitimieren und zu manifestieren. Jetzt folgt das Recht in dieser Spur. Auf den Weg gebracht von jenen, die es in Händen halten und eigentlich schützen sollten.

Information
Der 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wurde infolge des Amerikanischen Bürgerkrieges verabschiedet. Er enthält die Gleichbehandlungsklausel, das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren in den Bundesstaaten und die Grundlagen des Staatsbürgerschaftsrechts. Er wurde am 13. Juni 1866 zur Verabschiedung vorgeschlagen und am 28. Juli 1868 ratifiziert. Der Verfassungszusatz liefert eine weitreichende Definition der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft. Er stellt allen Personen (und nicht nur Staatsbürgern) den gleichen Schutz der Gesetze der Vereinigten Staaten, die in den Zuständigkeiten der verschiedenen Bundesstaaten liegen, in Aussicht. Das Hauptanliegen der Verfasser war, dass ein gleichwertiger Schutz ungeachtet der Rasse hergestellt wird. (Wikipedia)

VERFASSUNG DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA (Originaltext)

ZUSATZARTIKEL XIV – Abschnitt l
Alle Personen, die in den Vereinigten Staaten geboren oder eingebürgert sind und ihrer Gesetzeshoheit unterstehen, sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Einzelstaates, in dem sie ihren Wohnsitz haben. Keiner der Einzelstaaten darf Gesetze erlassen oder durchführen, die die Vorrechte oder Freiheiten von Bürgern der Vereinigten Staaten beschränken, und kein Staat darf irgendjemandem ohne ordentliches Gerichtsverfahren nach Recht und Gesetz Leben, Freiheit oder Eigentum nehmen oder irgendjemandem innerhalb seines Hoheitsbereiches den gleichen Schutz durch das Gesetz versagen.

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