Gesellschaft

Der Realpolitik das Wort

Antje Vollmer, die inzwischen 79-jährige Theologin, Publizistin und Autorin, war einst ein geistreiches Glanzlicht der Grünen in Deutschland. Von 1983 bis 1985, von 1987 bis 1990 und von 1994 bis 2005 war sie meinungsstark und charakterfest für die Grünen Mitglied des Bundestages. Dort seit November 1994 die erste Grüne im Amt der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Eine stille und nachdenkliche Frau mit zerbrechlicher Stimme und einem heraustragenden Intellekt, die den Schwergewichten und Machos ihrer Partei, ob nun Fischer, Cohn-Bendit, Schlauch oder Trittin und vielen anderen, jederzeit das Wasser reichen konnte. Gefährlich wurde Vollmer den Herren nicht, sie hatte keinerlei Ehrgeiz in Sachen Postenjagd. So ertrug man (Mann) ihren intelligenten Widerspruch duldsam. Ethik und Moral dienten ihr nicht zur Schaumschlägerei, darin der große Unterschied zu heutigen Grünen, sondern als Kompass für Politik. In einem beachtlich durchdachten Gastbeitrag, wie bei Vollmer Wortmeldungen üblich, in der Berliner Zeitung vom 14.7.2022, unter dem Titel „Zweifel an der Sanktionspolitik gegen Russland: Wo sind die Realos geblieben?“, redet sie der Realpolitik das Wort und besticht durch eine messerscharfe Analyse. Der Beitrag ist online vollumfänglich auf den Seiten der Berliner Zeitung zu finden und nicht hinter eine Bezahlschranke der Vergessenheit anheimgegeben. Lesen lohnt! Hier ein Auszug:

Wenn dieser Krieg eines fernen Tages zu Ende sein wird, werden wir vermutlich Jahrzehnte über die Frage seiner Anlässe, seiner Alleinschuld und seiner Ursachen diskutieren und darüber, ob er wirklich eine „Zeitenwende“ war oder nur ein weiterer Krieg in der Reihe von Weltkatastrophen, die alle aus der Unfähigkeit der großen Mächte entspringen, eine multipolare Welt zu begründen, die wirklich getragen wird von den Friedensregeln der UNO, von gegenseitigem Respekt vor unterschiedlichen Traditionen und kulturellen Gesellschaftsvorstellungen. Heute aber können wir bereits sehen, dass zwei Dinge erheblich zur Verschärfung des Konfliktes beigetragen haben.

Die irrige Ansicht, der Westen sei als „Sieger“ aus der Zeit des Kalten Krieges hervorgegangen und nunmehr seien seine Regeln und Werte das heimliche Sehnsuchtsziel aller Völker der Welt. Dazu muss man nur einmal das Interview ansehen, das ein Greenhorn von ZDF-Journalist mit der wunderbar souveränen südafrikanischen Außenministerin Naledi Pandor während des G-7-Treffens auf Schloss Elmau gehalten hat (27.6.22). Das war zum Fremdschämen peinlich – und zugleich ein definitiver Beleg, dass eine bestimmte moralische Erpressung bei vielen Staaten der Welt, die alle ihre schmerzhaften Erfahrungen mit dieser westlichen Weltüberlegenheit haben, nicht mehr verfängt.

Das inzwischen aus jedem Maß geratene Sanktionssystem, mit dem man das Einhalten der einmal selbst postulierten Regeln weltweit durchzusetzen versucht. Diese Form der politischen schwarzen Pädagogik kommt allmählich an die Grenzen ihrer Wirksamkeit, und genau das scheint ein Grund für die ständige Warnung zu sein, hier dürfe doch ja keiner aus der Reihe tanzen oder gar zu zweifeln beginnen.

*Beitragsbild: Antje Vollmer, 2021 (Screenshot: Diskussionsrunde der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

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