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Dichtung, Sauerkraut und Wahrheit

Von einem französischen Foto zum Stimmungsbild französischer Innenpolitik muss man einiges an Weg zurücklegen. Vor allem beim Gedanken, wie die Deutschen wesentliche Teile davon vermittelt bekommen. Bilder überflügeln bekanntermaßen oftmals Worte und helfen, Lügen und Halbwahrheiten schneller zu entlarven als ein rechtschaffener Aufsatz. Im Gestrüpp aus Wahn, Propaganda und Dichtung noch die Wahrheit zu finden ist nicht immer leicht. Am besten ist es, selber nachschauen, was heute leichter als in vorigen Zeiten, sich aber auf keinen Fall kapitulierend dem Vorgekauten ausliefern. Wir möchten dabei in einem speziellen Fall – der leider exemplarisch für unsere Zeit – etwas helfen. Dem freundlichen Leser wird bitte ein Blick auf das obige Bild empfohlen. Es stammt vom Twitteraccount des französischen Philosophen und Soziologen Geoffroy de Lagasnerie, Professor an der Nationalen Kunsthochschule Paris-Cergy. Der Herr rechts im Bild. Die Dame in der Mitte der drei Herren ist Danièle Obono, Abgeordnete für Paris von ‚La France insoumise‘, der Sammlungsbewegung von Jean-Luc Mélenchon. Jener Mélenchon ist der zweite Herr von rechts. Ganz links ist Édouard Louis zu sehen, einer von Frankreichs führenden Schriftstellern einer neuen Generation. Dessen Roman ‚Im Herzen der Gewalt‘ läuft als Bühneninszenierung übrigens sehr erfolgreich an der Berliner Schaubühne. Neben ihm – der zweite Herr von links – Didier Eribon, Soziologe und Philosoph, der mit dem Buch ‚Rückkehr nach Reims‘ eine europaweit beachtete Sozialstudie ablieferte, die schonungslos aufzeigt, warum ein Teil des Proletariats zum ‚Front National‘ übergelaufen ist. In einer Besprechung des Buches von Eribon war im Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ wie folgt zu lesen: „Édouard Louis (Jahrgang 1992) und Didier Eribon (Jahrgang 1953) bilden gemeinsam mit Geoffroy de Lagasnerie (Jahrgang 1981) derzeit eine Trias französischer Intellektueller aus verschiedenen Generationen. Alle drei entwickeln eine neue Leseart von Linkssein und bewegen sich zwischen Philosophie, Soziologie und politischer Theorie. Gemeinsam gehen sie auf die Straße, um sich für Flüchtlinge zu engagieren oder zur ‚Nuit Debout‘, den französischen Bürgerprotesten – denen sie zum Teil kritisch gegenüber stehen.“

Eribon, Louis und de Lagasnerie sind nicht nur führende Intellektuelle ihres Landes, weltweit geachtete Aushängeschilder der Kultur Frankreichs, sondern aufs Engste mit den sozialen Problemen in ihrer Heimat vertraut, dabei nie von oben herab, immer an der Seite der sozial und gesellschaftlich benachteiligten Menschen. Keine Denker aus dem Elfenbeinturm. Sie sind ausgewiesene Gegner des Neoliberalismus. In Sachen Emmanuel Macron sind sie einer Meinung, den Didier Eribon einen „autoritären, gewalttätigen und exzessiv repressiven Präsidenten“ nennt. Diese drei französischen Intellektuellen gehören zum linken Spektrum, sind den Menschen nah, kennen ihr Land und dessen Schwachstellen, wissen um politische Strömungen und Verwerfungen. Selbst ihre Gegner auf der rechten Seite sprechen ihnen nicht den analytisch klugen Blick auf den Stand der Dinge in ihrer Heimat Frankreich ab. Louis, de Lagasnerie und vor allem der sonst eher scheue Eribon, unterstützten aktiv die Präsidentschaftskampagne von Jean-Luc Mélenchon und sind nun auch an der Seite der Volksunion und des linken Bündnisses zur Parlamentswahl. Wer wissen will, wie es in Frankreich aussieht, der sollten diesen drei Franzosen z. B. auf Twitter folgen, es lohnt für die politische Bildung und man ist bestens informiert, wie es aktuell um Frankreich steht. Damit ist man dann nicht der reaktionären Propaganda hiesiger Kräfte ausgesetzt, die gerade ein deutsches Fegefeuer über Mélenchon und die Volksunion niederregnen lassen. Den Deutschen soll ein Bild von Frankreichs Linker aufs Auge gedrückt werden, welches mit der Realität bei unseren Nachbarn nichts zu tun hat. Die Formel ist sattsam bekannt: Behauptung = Beweis.

Fasziniert Massen und die Jugend. Mélenchon in Toulouse. (Foto: Twitter FranceInsoumise)

In Sozialen Medien findet man immer wieder Ungemach, aber auch Menschen, die hin- und nicht wegschauen. Der Historiker Prof. Jürgen Zimmerer von der Hamburger Universität blickte nicht in den Spiegel aus optischen Gründen, sondern in das legendäre Nachrichtenmagazin. Daraufhin twitterte er Linksradikaler, Deutschlandhasser, EU-Gegner – „Die #BiLD heute mit neuem Logo!! Er bezog sich auf die Spiegel-Geschichte über Jean-Luc Mélenchon. Max Veulliet, der Geschäftsführer von ‚Junge Linke Wien‘, twitterte „Auch der Spiegel hat Angst vor Mélenchon. Ein anderer Twitter-User fragte: „Das Sturmgeschütz der Demokratie initiiert eine Schmierkampagne gegen einen aussichtsreichen Kandidaten der politischen Linken?“ Was er meinte, war leicht zu finden: Eine Britta Sandberg schrieb unter der Überschrift ‚Dieser Demagoge will Frankreichs nächster Premier werden‘ folgendermaßen: „Linksradikaler, Deutschlandhasser, EU-Gegner: Jean-Luc Mélenchon tritt mit einem Bündnis aus Kommunisten und Grünen zur Parlamentswahl an. Sein Ziel ist der Bruch mit dem System.“ Liest man den Artikel, kommt einem Mélenchon entgegen als ein Politikveteran, der schreit, schwitzt und schimpft, wenn er redet. Der Grimassen schneidet und es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt.“ So schreibt eine Journalistin, die offenbar einen anderen Beruf nachhaltig schwänzt und um die Wahrheit lieber einen Bogen macht. Mélenchon will den Bruch mit dem Neoliberalismus und die Fünfte Republik den Bürgern zurückgeben. Deshalb strömen die Menschen zu ihm. Für Frau Sandberg ‚System‘. Interessant. Falls sich jemand fragt, wo Frau Sandberg diese Revolverrhetorik wohl gefunden hat? Ihre Wortwahl spiegelt die Angriffe des ‚Rassemblement National‘ (Marine Le Pen) und von Éric Zemmour (Frankreichs politischem Rechtsaußen.) auf Mélenchon wider. 

In selbiger Tonlage schrieb einst die Hugenberg-Presse gegen alle Linke und bahnte anderen Kräften den unsäglichen Weg. Man ahnte es immer, der Hugenberg-Geist ist dort noch lebendig, wo geschrieben und Meinung gemacht wird. Die Tragödie liegt nicht nur in diesem Ton, sie liegt mehr in der Tatsache, dass diese Korrespondentin für den Spiegel aus Frankreich schreibt. Der Berliner Spiegel-Leser und Berater für politische Kommunikation, Sascha Döring, fasste seine Beobachtung in einen Tweet: „Wenns um Mélenchon geht, dreht der Spiegel schon seit einiger Zeit absolut am Rad. Diese besondere Mischung aus linksliberalem Moralismus und militanter Verteidigung des neoliberalen Status quo ist echt schwer zu ertragen. Da liegt der Hund wohl begraben. Es gibt nicht nur neoliberale Politik und Gesellschaftsverformungen, es gibt auch eine neoliberale Schreibe, einen Journalismus im neoliberalen Geist, wofür Frau Sandberg ein exemplarisches Beispiel lieferte. Frau Sandberg ist ihr blanker Hass gegen Mélenchon und ihre Realitätsverdrehung zuzugestehen, auch ihr schlechter Stil. Warum sie diese Kombination allerdings im Spiegel als Journalismus verkaufen darf, bleibt für viele Menschen, die großen Respekt vor Rudolf Augstein hatten und von dessen Spiegel vielfältige geistige Wegzehrung bekamen, eine offene Frage, die auch einiges an Traurigkeit hinterlässt. 

Lag Mark Twain am Ende richtig? (Collage: Gordon Johnson auf Pixabay)

Was auch immer mit dem Schweiß und der Wahrheit von Frau Sandberg nicht stimmen mag. Im Kopf eines Menschen, der in diesem Medienzeitalter Geschichten erfindet, die selbst von Kindern leicht nachprüfbar, muss etwas sehr falsch verdrahtet sein. Jeder Trottel kommt heute doch auf die Idee, sobald ein Prominenter nicht nur inhaltlich diffamiert, sondern noch zusätzlich optisch verherrlicht oder verdammt wird, schnell mal selber nachzusehen, sich deswegen irgendeinen Clip oder Film reinzuziehen. Mélenchon war gerade im Wahlkampf und ist es wieder, sämtliche Auftritte sind bei YouTube zu finden. Lesern Märchen auftischen und darauf setzen, die sind alle Deppen und werden das weder prüfen noch merken, ist schon ziemlich dreist wie unverfroren. Es offenbart vor allem, was solche Art von Journalisten von ihren Lesern, also ihren Kunden halten. Man ahnt es. Würde Britta Sandberg jemals in eine französische Zeitung schauen, könnte sie selbst in jenen Blättern lesen, die Mélenchon nicht zugeneigt sind, dass diese Mélenchon zu den größten Rednern und Rhetorikern der Fünften Republik zählen. Doch Frau Sandberg wird sich eher ärgern, dass sie vergessen hat, uns von den Läusen zu erzählen, von denen Mélenchon sicher befallen, Flöhe nicht zu vergessen. Linke waschen sich schließlich nur ungern. Weiß man doch. Ob Frau Sandberg beim Verfassen ihrer Beiträge, die Lesern problemlos die Gesichtszüge entgleiten lassen, wohl Grimassen schneidet?

Dummheit sollte man jedenfalls niemandem vorwerfen. So aber Leser für dumm gehalten werden, da es sich um einen Bezahlbeitrag handelt, auch für dumm verkauft werden, ist dies schon bedenklich. Wie abgefeimt muss man eigentlich sein, wenn man den Leuten und Lesern unterstellt, nicht einmal über die Grenze nach Frankreich blicken zu können, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen? Aber dieser sich an Frankreich versuchenden und an der Linken abtretenden Korrespondentin ging es natürlich nicht um einen Eindruck. Ein Tweet fasste die Frontalagitation gegen Mélenchon treffend zusammen: „Leider vergisst der Artikel zu erwähnen, dass er auch Kleinkinder verspeist.“ Fairerweise muss man sagen, evtl. tun wir Frau Sandberg etwas Unrecht. Sie schreibt über Frankreich ja stets wie aus einem Keller in Baunatal. In der aktuellen Entgleisung hat sie vielleicht nur folgsam dem ‚Ressortleiter Ausland‘ Genüge getan. Es ist so oder so einfach nicht gut, wenn sich die Stilart Sauerkraut-Schreibe über ein Gourmet-Land hermacht.

Da hat sich doch der ‚böse Mann‘ wieder zu den klugen Köpfen aufs Bild begeben. (Twitter: GdL)

Frau Sandberg ist in ihren Fehlleistungen natürlich Vollstreckerin des ‚Ressortleiters Ausland‘ beim Spiegel. Eine Art Anton-Schwere-Waffen-Hofreiter des Spiegel. Jener Herr von Rohr ist vor allem auf Twitter gern als verbaler Marschflugkörper unterwegs. Mit „der linksextreme Deutschenhasser Mélenchon gab er dort den Ton für seine Pariser Unterstellte offenbar vor. Über Herrn von Rohr nur noch so viel, ebenfalls ein Tweet von seiner Hand: „Heute sind Justin Trudeau und Jill Biden in der Ukraine. Nur zur Info. @Bundeskanzler“. So legt sich heutzutage das Niveau des Auslandschefs eines Nachrichtenmagazins ins Schaufenster. Wobei da der Marschflugkörper eher zur Wasserpistole mit dünnem Strahl wurde. Herrn von Rohr kann man sich gut mit Grimasse vorstellen, twittern tut er jedenfalls so.

Im Wahlkampf um das Amt des französischen Präsidenten war Mélenchon in deutschen Medien noch ein Linkspopulist und wurde hierzulande mit Le Pen gleichgesetzt. Als die Stimmen seiner Wähler für den Wahlsieg Macrons gebraucht wurden, machten ihn deutsche Medien plötzlich zum Linkspolitiker. Als die Ernte für Macron eingefahren, wurde das Trommelfeuer gegen Mélenchon wieder aufgenommen und das linke Monster an die Wand gemalt, der Linksradikale und der Linksextremist ins Visier genommen. Le Pen ist nun plötzlich keine Gegnerin mehr, man legt sich mit ihr ins politische Bett, indem man ihre Rhetorik gegen Mélenchon aufnimmt. Der in Deutschland tief sitzende Linken-Hass ist so lebendig wie je. Schließlich haben die Linken zwei Weltkriege entfacht, den Dreißigjährigen Krieg und die Inquisition initiiert, essen ständig Leute auf. Da ist Vorsicht geboten. Wie sein politischer Ziehvater Mitterrand paktiert Mélenchon auch noch frech mit den Kommunisten, ohne einen Herrn von Rohr und eine Frau Sandberg zu konsultieren. Ungeheuerlich! Einer, der im Unterschied zu von Rohr und Sandberg journalistisch unterwegs war, Erich Kuby, schrieb 1985 „dass der Antikommunismus in die Kapitalismusideologie der Bundesrepublik ohne Abzug eingegangen ist“. Sandberg und von Rohr haben die Richtigkeit seiner These glänzend bewiesen. (Abseits von Konzernmedien und Propaganda gibt es auch in Deutschland noch solide und objektive Betrachtungen zu Frankreich und Mélenchon in klassischen Medien, der Freitag sei hier an erster Stelle genannt. Sicher ein Verdienst des Herausgebers Jakob Augstein, des in Marseille lebenden Autors Oliver Fahrni und einer progressiven Redaktion. Chapeau!)

Vom Jünger zum Freund. Jean-Luc Mélenchon mit François Mitterrand. (Twitter: JLM)

Jean-Luc Mélenchon hat die Einigkeit der Linken von seinem großen Idol gelernt. Er war Anfang der 80er-Jahre einer der wichtigsten Parteigänger und Unterstützer von François Mitterrand in der französischen Provinz (Départemen Essonne). Er half Mitterrand bei dessen angestrebter Vereinigung der Linken aus Sozialistischer Partei (PS), Kommunistischer Partei Frankreichs (PCF) und der Bewegung der Linksradikalen (MRG) zur ‚Union de la gauche‘. Voraussetzung für Mitterrands historischen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen von 1981. Mélenchon hat nun mit der Volksunion umgesetzt, was er bei Mitterrand gelernt. Am Ende von Mitterrands Leben war eine Freundschaft entstanden, bei der Mélenchon den todkranken Mitterrand die Treppe hochtrug, als dieser, so ist das mit dem Alter und verschwundener Macht, von vielen verlassen.

Die neoliberalen Hetzkampagnen und Diffamierungen lassen Mélenchon aktuell zu großer Form auflaufen, mobilisieren in Frankreich Wähler. Allerdings etwas anders, als die Verursacher es sich gedacht. Macron hat genau diese Mobilisierung absolut nicht gewollt. Je mehr Franzosen an den beiden Wahlgängen zur Nationalversammlung teilnehmen, je gefährlicher wird es für den frisch wiedergewählten Präsidenten. Seine Politik hat das Millionenheer der Nichtwähler fabriziert. Wenn diese in Massen an die Wahlurne zurückkehren, werden sie nicht seine Politik wählen. Das Rennen ist dann offener. Für Mélenchon wird es vielleicht dennoch nicht reichen. Zu breit die Front aus Geld, Eliten, Macht und Medien. Dennoch bleibt es spannend. Bleiben wird seine Tat, die Linke geeint und die Jugend in Frankreich in Scharen für die Politik interessiert und gewonnen zu haben. Viele junge Menschen und neue Politiker aus deren Reihen werden sich weiter dem Neoliberalismus entgegenstellen. Sollte die Volksunion (Volksfront) im Juni keine Mehrheit erzielen können, wird Mélenchon die große Politik sicher verlassen, er kandidiert nicht mehr für einen Parlamentssitz. (Erreicht er sein anvisiertes Ziel einer Parlamentsmehrheit, um damit Ministerpräsident zu werden, benötigt er dieses Mandat nicht. Die Parlamentsmehrheit kann einen Ministerpräsidenten wählen, der nicht Mitglied im Parlament, der Präsident auch einen solchen oder eine solche ernennen. Vorausgesetzt, die Mehrheit der Nationalversammlung folgt dem.)

Wer sich über die Ereignisse in Frankreich informieren und nicht verblöden lassen will, dem muss man anraten in die Sozialen Medien abzuwandern. Mit einigen Klicks und ein bisschen Neugier und Recherche lässt sich heutzutage so viel an Information einholen, um sich eigenständig zu informieren und einen Überblick zu verschaffen. Alle wichtigen Akteure und Helfer der anstehenden Wahl sind dort vertreten. Niemand muss sich mehr von irgendjemand belügen oder desinformieren lassen. Abschließend ein Zitat von Jean Jaurès, Frankreichs großem Sozialisten, Mahner und Warner vor Kriegen, der 1914 von der Reaktion ermordet wurde. Was er sagte, haben Mitterrand als großer Staatsmann und Mélenchon als kämpferischer Parlamentarier zu Lebzeiten immerhin ein Stück weit erreicht:

Die größten Menschen sind jene, die anderen Hoffnung geben können.

 

 

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