Kultur

Wucht ohne Krawall

Olivia Colman, die 1974 in Norwich geborene Britin, adelt momentan alles, was ihr als Schauspielerin berufsbedingt in die Hände fällt. Eine außergewöhnliche Akteurin, die sich nahtlos in eine atemberaubende Phalanx britischer Schauspielerinnen einreiht. Stellvertretend genannt seien hier Glenda Jackson, Maggie Smith, Judi Dench, Vanessa Redgrave, Helen Mirren, Helena Bonham Carter und Emma Thompson. In diesen erlauchten Kreis hat sich Olivia Colman durch meisterhafte Leistungen und große Beharrlichkeit völlig verdient hineingespielt. Es dauerte einige Zeit, bis Colman durchstartete. Nach grundsolider Ausbildung an der ‚Bristol Old Vic Theatre School‘ begann der Durchbruch nebst Ruhm, darin Helen Mirrens Karriere ähnlich, mit und über das TV und nicht wie bei den anderen Damen durch grandiose Rollenporträts in Shakespearedramen auf britischen Bühnen. Man denke nur an Maggie Smith sensationelle Desdemona an der Seite von Laurence Olivier oder an Judi Dench als Lady Macbeth neben Ian McKellen.

Man kann Colmans Durchbruch wohl auf das Jahr 2013 datieren, als die Schauspielerin gemeinsam mit David Tennant das Ermittlergespann in der britischen TV-Krimi-Serie ‚Broadchurch‘ spielte. Die Serie landete einen sensationellen internationalen Erfolg. Das fantastische Drehbuch und die durchdachte Story waren ein gefundenes Fressen für hervorragende Darsteller. In drei Staffeln spielte sich Olivia Colman in die erste TV-Reihe und erweckte im großen Filmgeschäft Aufmerksamkeit. Im TV hatte sie bereits über 10 Jahre Serien und Sendungen hinter sich, fiel vor allem in Comedy-Formaten positiv auf und war den britischen Zuschauern ein vertrautes Gesicht. Im Kino hatte sie in hochwertigen Nebenrollen ihr Können gezeigt, spielte 2011 neben Meryl Streep in die ‚Die Eiserne Lady‘ und 2012 in ‚Hyde Park am Hudson‘ die kleine Rolle der Königin Elisabeth, Frau von König Georg VI. und Mutter von Königin Elisabeth II. Es sollte nicht die letzte letzte Thronbesteigung der Olivia Colman bleiben.

Oscar. Inzwischen im Trophäenschrank von Olivia Colman. (Bild: kalhh auf Pixabay)

2019 dann ein Oscar für die Hauptrolle der ungestümen und sehr skurrilen Königin Anne, die eine von Gicht geplagte schwache Herrscherin war, dabei zwischen Zuneigung und Ranküne zweier Gespielinnen schwankte. Der Film ‚The Favourite‘ kam 2018 in die Kinos und machte eine Sensation. Colman wurde spätestens mit dem ein Jahr später dafür gewonnenen Oscar etwas, was man überhöht Star nennt. Dieser neue Star trat bei der Oscarverleihung ans Mikro, bedankte sich brav wie dort üblich, um dann zu sagen: „Ich habe früher als Reinigungskraft gearbeitet und diesen Job geliebt.“ So unnormal dieser Satz im Glamour-Mekka Hollywood scheinen mag, so bodenständig und normal ist Olivia Colman auch nach diesem Triumph geblieben. Mit dem Oscar im Gepäck ging es nicht etwa über rote Teppiche, sondern an die Arbeit. Vom Guardian über ihre Arbeitswut befragt, antworte sie verschmitzt wie lapidar „die Hypothek muss bezahlt werde“. In der britischen Historienserie ‚The Crown‘ für Netflix spielte Colman 2019 und 2020 in der dritten und vierten Staffel Queen Elizabeth II. in deren mittleren Jahren und soll, so man dem Gemunkel aus dem Buckingham Palace glauben darf, sogar der echten Elisabeth II. gefallen haben, die sich angeblich gut getroffen fühlte. Nichts Genaues weiß man nicht.

Als Elisabeth II. konnte Colman ihre Stärken besonders gut ausspielen. Mit sparsamen Mitteln und Gesten, fast keine Regung im Gesicht, kann sie unendlich nuanciert ganze Welten von Stimmungen bieten, die einem beim Zusehen Gänsehaut bereiten. Darin ist sie eine ganz große Schauspielerin, ähnlich der Gigantin Frances McDormand oder aus früherer Zeit Bette Davis. Es bleibt vor allem haften, wie Colman als Elisabeth dem Premierminister Harold Wilson bei einer Audienz und einem vertrauten Gespräch im Angesicht der fatalen Haldenkatastrophe von Aberfan offenbart, dass sie zu keinen Emotionen fähig, keinerlei Empfindungen bei der Geburt eigener Kinder oder bei Unglücksfällen von anderen Menschen spürt. Sie bietet in der Großaufnahme ein regungsloses Gesicht und nur unmerkliches Flackern in den Augen. Es entsteht dennoch ein Gefühl, als wäre man Augenzeuge, wie sich emotionale Planeten krachend verschieben. Was für eine denkwürdige Leistung. Eine völlig andere und ebenfalls schwierige Performance bietet Olivia Colman in einem Film, der vom Zuschauer durchaus ‚dranbleiben‘ verlangt. Als Professorin im Kurzurlaub in Griechenland möchte sie ein paar Tage ausspannen, aber es kommt anders. Statt Erholung machen sich pöbelnde Strandnachbarn und vielerlei Erinnerungen breit. Die emotionale Distanziertheit zu ihren fernen Töchtern legt sich langsam über die Handlung. Man bekommt die Puzzleteile mehr und mehr zusammen. Jene Professorin, die uns erst rätselhaft vorkommt, gewinnt im Verlauf der Handlung unsere Sympathie. Der Film ‚Die verlorene Tochter‘ ist nicht ganz einfach, lohnt dennoch die Zeit. Aktuell noch auf Netflix verfügbar.

Colman Interview im National Theater. (Screenshot: Streamingdienst National Theater London)

2021 wird sie erneut für einen Oscar (Nebenrolle) nominiert, diesmal erhält sie ihn nicht, ist aber dennoch mit einer bewundernswerten Leistung zu erleben. Im Film ‚The Father‘ liefert der 80-jährige Anthony Hopkins einer der besten Vorstellungen seiner außerordentlichen Karriere. Er bekommt dafür seinen zweiten Oscar. Sein Kollege Ian McKellen sagte über Hopkins nach der gemeinsamen Arbeit an ‚The Dresser‘ voller Hochachtung: „Anthony ist einer dieser Schauspieler, die so gut sind, dass sie dich besser machen, wenn du mit und neben ihnen spielst.“ Genau jener Effekt war zwischen Hopkins als einem in seiner Demenz versinkenden Vater und Colman als dessen Tochter zu bestaunen. Schauspielkunst von zwei Ausnahmekönnern auf schwindelerregender Höhe. Colman braucht keinerlei ‚Überrumpelungstheater‘ oder Krawall, um Wucht zu entfachen. Darin ist sie ihrem Filmpartner Hopkins sehr ähnlich. (Der Film und seine Darsteller verdienen wahrlich jeden Überschwang an Lob. Allerdings spielen fast alle Szenen in einer fantastischen Londoner Wohnung in edlem Ambiente unter reichen Leuten. Da kommt unweigerlich der Gedanke hoch, was wohl wäre, wenn dieser Verfall am Beispiel eines Menschen im sozialen Elend gezeigt wird? Ob die Kinos dann noch ausverkauft wären, der Film gepriesen und Hollywood Preise verleihen würde?)

Für den Schreiber dieser Zeilen bleibt die grandioseste Leistung von Colman die Ermittlerin DS Ellie Miller in Broadchurch. Wie diese sich von Folge zu Folge immer mehr mit dem einsilbigen und eigenbrötlerischen DI Alec Hardy (David Tennant) zum guten Team fügt, ist sehenswert wie natürlich und wird völlig ohne Effekthascherei erzählt. Man könnte es menschlich nennen. Wie dem erfahrenen Ermittler eine Kollegin auf Augenhöhe zuwächst, spielt Colman mit großer Beherrschung ihrer schauspielerischen Mittel. TV Kost auf staunenswerter Höhe. In jenem Moment, wo Ellie Miller erfährt, dass ihr Ehemann und Vater ihrer Kinder der Täter ist, spielt Colman wie aus dem Schauspielolymp kommend. Wie sie ihre Rolle da in den Abgrund treibt und daraus wieder hervorhebt, ist große Kunst. Wer es gesehen hat, der wird es wohl nicht so schnell vergessen. Colman spielt sich in solchen Situationen nicht in den Vordergrund, behält die Rolle im Auge, ohne sich in dieser zu verlieren oder gar der Versuchung vieler eitler Schauspieler zu erliegen, sich selbst zu spielen.

In der neuen Welle von unzähligen Coming-of-Age-Filmen und Serien ist das jugendliche Zielpublikum aktuell sehr von ‚Heartstopper‘ begeistert, die bekannten Rezensionen euphorisch. In dieser britischen Serie liefert die Oscarpreisträgerin Olivia Colman einige Kurzauftritte als Mutter eines der jugendlichen Protagonisten, kommt angeblich insgesamt auf 6 Minuten Bildschirmzeit und wenige Sätze. Wer an den einstigen Starkult und das Gehabe von Oscarpreisträgern denkt, kann da nur respektvoll den Hut ziehen. Für Colman jedoch völlig normal und selbstverständlich. Als dreifache Mutter spielt sie eben auch aus Überzeugung in engagierten Jugendfilmen und Serien im TV mit. Für den Kinderfilm ‚Joyride‘ steht sie längst auf der Besetzungsliste. Im Dezember 2022 kommt die Computeranimation ‚Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch‘ ins Weihnachtskino, worin Colman ihre Stimme der Figur ‚Mama Bär‘ leiht.

Colman bei einer Lesung in der Royal Albert Hall. (Screenshot: BBC)

Auf der anderen Seite war ihr beginnender Ruhm schon vor dem Oscar am wachsen. Es schien daher fast unausweichlich, als der geniale Kenneth Branagh ‚Mord im Orientexpress‘ von Agatha Christie als Ensemblefilm auf die Leinwand brachte, auch Colman an Bord zu holen. So spielte diese mit Judi Dench, Johnny Depp, Derek Jacobi, Michelle Pfeiffer, Willem Dafoe und Derek Jacobi in diesem noblen Film für das große Kino eben solide mit. Die schauspielerische Herausforderung dabei überschaubar. Von anderem Kaliber dann wieder ein sehr aktueller TV-Auftritt in einer britischen Miniserie. Nach einem Buch ihres Mannes Ed Sinclair spielt Olivia Colman mit David Thewlis ein auf den ersten Blick normales englisches Ehepaar, bis in dessen Garten zwei Leichen gefunden werden. Drehbuch und Film basieren auf einer wahren Geschichte, die uns zwei Menschen zeigt, die sich nicht nur ineinander verlieben, sondern auch in das Kino, in dessen Filmstars und teure Hollywood-Devotionalien. Die Serie pendelt in vier Folgen zwischen Komödie und Drama, dass es nur so kracht. Sehenswert! Colman wieder auf den Flügeln großer Schauspielkunst in Form wunderbarer Zurückgenommenheit. In einer angekündigten Neuverfilmung von Charles Dickens ‚Große Erwartungen‘ steht sie erneut für ein TV Format vor der Kamera. Im Jahr 2023 soll außerdem das Fantasy-Musical ‚Wonka‘ mit Colman und Timothee Chalamet in die Kinos kommen.

Olivia Colman besitzt die gute Eigenschaft, die Schauspielerin in der Garderobe zu lassen, um außerhalb des Jobs ein völlig normales und unspektakuläres Leben zu führen. Vielleicht auch darin das Geheimnis ihrer exzellenten Darstellungskunst, sobald sie sich wieder dem Beruf widmet. Aktuell ist Olivia Colman ohne Zweifel eine der interessantesten und besten Schauspielerinnen unserer Zeit. Daher darf sich das Publikum erwartungsvoll freuen, was noch an tollen Colman-Rollen in hoffentlich guten Filmen wie TV-Formaten auf uns zukommt. Privat ziehen Colman und ihr Ehemann Ed Sinclair die Ruhe dem Trubel vor. Unlängst zogen sie mit den drei Kindern von London aufs Land. Colman mag dort besonders die langen Spaziergänge mit dem Familienhund. Sie genießt es laut eigener Aussage niemandem zu begegnen, mit dem man noch Konversation treiben muss. Diese entspannte Ruhe sei ihr vergönnt. Uns bleibt die berechtigte Hoffnung auf weitere Zeugnisse ihrer großen und unprätentiösen Könnerschaft. Abschließend eine sympathische Selbstreflexion von Olivia Colman, die viel über ihre angenehme Normalität aussagt:

Ich würde mich schlecht fühlen, wenn ich so tun würde, als wäre mein Leben alles andere als ziemlich gut, also spiele ich die Rolle so gut ich kann und gehe dann nach Hause, trinke eine Tasse Tee, sehe meine Familie und Freunde und schätze, was ich habe. Ich esse ein bisschen zu viel; meine Zähne sind nicht perfekt; ich habe Tränensäcke. Ich sehe aus wie eine normale Frau, aber in England stört das niemanden.

*Titelbild: Olivia Colman, BAFTA-Verleihung (Screenshot: virginmediabaftas)

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