Benutze keine Kanone, um eine Mücke zu töten.
Konfuzius
Nicht von Mücken soll hier die Rede sein. Von der Welt der Kanonen schon. Ob China eine nuklearfähige Hyperschall-Rakete getestet hat, wie dieser Tage spekuliert und in einigen Medien (Financial Times) behauptend vermeldet, bleibt wie so oft im Unklaren. Von den Chinesen wird es dahingehend keine Aufklärungsarbeit geben. Ob bei COVID-19 nun eine Fledermaus schuldig, die in das Menü „Schwein am Fluss süßsauer“ gestürzt, doch ein Laborunfall der Auslöser oder eine bewusste Missetat im Spiel, wir werden es von den Chinesen nicht erfahren. Warum sollten sie über ihre Raketenprogramme auf militärischem Gebiet auskunftsfreudig sein, wenn sie selbst in Sachen Weltgesundheit einen Berg von Metaphern und verqueren Wortgebirgen auftürmen, um nichts zu sagen. Für jedwede Verschleierung haben sie dann nicht nur Marx, Engels, Lenin und Mao zur Hand, sondern auch Konfuzius, der nun wirklich für jede Lebenslage ein Sprüchlein hinterlassen.
Hyperschall-Raketen sind um ein Vielfaches schneller als normale Raketen. Diese Hyperschall-Raketen können angeblich mehr als die fünffache Schallgeschwindigkeit erreichen und bleiben im Flug manövrierfähig. Mit Atomsprengköpfen bestückt, lässt sich der Tod also wesentlich schneller in anderer Leute Haus bringen und ist auf dem Weg kaum abzufangen. Mörderisches Zeug. Chinas nukleare Fähigkeiten und Möglichkeiten auf militärischem Gebiet wachsen jedenfalls und werden vorangetrieben, so viel darf man sicher sein. Mit dem neuen Drohknüppel „Hyperschall-Waffen“ ist China allerdings nicht allein. Russlands Hyperschall-Rakete „Zirkon“ wurde erfolgreich von einem U-Boot aus abgefeuert und ist einsatzbereit. Auch das US-Militär hat vor geraumer Zeit nach eigenen Angaben erfolgreich eine unbewaffnete Hyperschall-Rakete getestet. Diese sei mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit zum vorbestimmten Einschlagsort geflogen. Was die letzten drei Großmächte da auf den Teller der Aufrüstung legen, korrespondiert nur schwerlich mit den allenthalben hörbaren Plänen, Schwüren und Beteuerungen einer Rettung von Umwelt, Klima und evtl. sogar der Menschheit. In Sachen des schönen Wortes von der „nuklearen Abschreckung“ scheint jedenfalls eine neue Eskalationsstufe im hochgefährlichen Feld der atomaren Angriffswaffen angebrochen.
Menschen und Menschheit haben offenbar nicht viel dazu gelernt, von Politikern und Militärs nicht zu reden. Technologie mal wieder für das Verderben und nicht für den guten Zweck. Es umgekehrt anzunehmen wäre auch reichlich naiv. Deswegen muss man unwillkürlich zurückdenken. So war es immer. Am 16. Juli 1969 flog die mächtige Rakete mit Namen „Saturn V“ Richtung Mond und brachte Apollo 11 und Neil Armstrong auf selbigen. Wenn wissenschaftlich da oben auch eher dürftige Ergebnisse erzielt wurden, so war es doch eine gute Sache, ein globales Ereignis positiver Art. Außerdem ein politisches Signal. Für die USA nach langer Durststrecke endlich ein ersehnter Sieg im Weltraumwettlauf mit den Sowjets, die den Vereinigten Staaten mit Sputnik und Gagarin eine Nase gedreht hatten. Zurecht aus dem Häuschen kommentierte daher der Astronaut Armstrong: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit.“
Der Mann, der mit seinem Team die „Saturn V“ erfand und konstruierte, war damit ebenfalls am Ziel seiner Träume. Ein Teil der Menschheit ob dieser Tat staunend elektrisiert. Jener den Mond erobernde Raketenbauer Wernher von Braun trug allerdings auch eine Schattenseite und moralische Fragwürdigkeit durchs Leben. Er hatte schon im 2. Weltkrieg Raketen gebaut, da noch für Adolf Hitlers Drittes Reich in Peenemünde. Die dort gebauten V1 und V2, das V steht übrigens für „Vergeltungswaffe“, eine weitere dieser zynischen Wortschöpfungen der Nazis, traf vermehrt zivile, kaum militärische Ziele und brachte Tod und Verderben. Alte Londoner können noch heute ein grausiges Lied davon singen. Wernher von Braun soll dies im Alter gereut haben. Genaues weiß man nicht. Fluch und Gefahr für einen jeden Wissenschaftler? Otto Hahn, der deutsche Chemiker, dem für die Entdeckung und den Nachweis der Kernspaltung des Urans im Jahr 1938 der Nobelpreis 1944 verliehen wurde, soll sich bei Nachricht des Atombombenabwurfes über Hiroshima einige Nächte mit Selbstmordgedanken getragen haben. Mit diesem grausigen Gang der Dinge hatte er, als er sich 1938 mit der Kollegin und Physikerin Lise Meitner und dem Chemiker Fritz Straßmann über seinen unscheinbaren Labor-Tisch beugte und die Kernspaltung im Versuch aufzeigte, nun doch nicht gerechnet. Für solch ein Inferno reichte selbst die Fantasie eines genialen Wissenschaftlers nicht völlig aus.
Der Physiker Julius Robert Oppenheimer durchlebte wenig später ähnliche Gefühlsregungen. Oppenheimer war als genialer Organisator und wissenschaftlicher Leiter des Manhattan-Projekts, welches ein Heer der besten Wissenschaftler der Welt versammelte, für Bau und Test der ersten Nuklearwaffen zuständig und verantwortlich. Er war der Kopf und Macher der ersten Atombombe, gezündet am 16. Juli 1945 in der Wüste des US-Bundesstaates New Mexico und der Bomben, die am 6. August und 9. August 1945 Tod und Zerstörung in einem bis dahin nicht gekannten und auch nicht für möglich gehaltenen Ausmaß über Hiroshima und Nagasaki brachten. Oppenheimer galt von da an als „Vater der Atombombe“, sprach sich jedoch gegen den weiteren Einsatz aus, nachdem er die Folgen des Einsatzes in Hiroshima und Nagasaki gesehen und studiert hatte. Der Bombenbauer wurde im Angesicht des Grauens zum vehementen Bombengegner. Damit war er dann natürlich nicht mehr der nationale Held in den USA, sondern wie dort in solchen Fällen üblich sofort des Kommunismus verdächtigt. Die Wortschöpfung „Wir haben die Arbeit des Teufels getan“, hat J. Robert Oppenheimer dennoch nie von sich gegeben. Diese entstammt dem Werk des Dramatikers Heinar Kipphardt, der die spätere Hexenjagd von US Behörden gegen Oppenheimer in ein Theaterstück („In der Sache J. Robert Oppenheimer“) kleidete und erfolgreich auf die Bühne brachte. Oppenheimer war im Originalton dramatischer als der Dramatiker. Im Angesicht der ersten Atombombenexplosion auf dem Versuchsgelände zitierte der belesene Wissenschaftler in böser Vorahnung aus einer sehr alten und heiligen Schrift des Hinduismus: „Jetzt bin ich zum Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“
Abschreckungs- und Kernwaffenbefürworter führen gerne das Argument ins Feld, nach Hiroshima und Nagasaki sei keine Bombe mehr abgeworfen worden. Der Drohknüppel macht uns alle sicherer. Könnte sein, so man in der Abschreckungslogik verweilt. Erinnert an die vorgebliche „Sicherheit“ von US Bürgern durch Schusswaffen im eigenen Schrank oder Halfter. Im Jahr 2020 wurden in den USA 19.438 Menschen durch Schusswaffengebrauch getötet. So viel zur „Sicherheit“. Die Atomwaffengegner sind nicht weniger naiv. Die Welt ohne Atomwaffen wäre natürlich kein besserer Ort. Schon vor der Bombe und ohne deren Zutun wussten und wissen die Menschen, sich mit vielerlei Fantasie umzubringen und an den Rand der Ausrottung zu treiben. Darin ist der Mensch innerhalb der Schöpfung eine echte Koryphäe. Der nukleare Geist jedenfalls, der seit über 70 Jahren aus der Flasche, hat seine teuflischen Züge auch ohne Ernstfall gezeigt. Hierbei sollte man nicht nur über die verheerenden Nuklearkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima reden, die ja „der friedlichen Nutzung der Kernenergie“ entsprungen. Fast in Vergessenheit geraten sind zwei Ereignisse, die leicht zur ganz großen Katastrophe hätten auswachsen können und in den USA wie der damaligen Sowjetunion vielleicht sogar etwas Vernunft erzeugt haben, ähnlich den Fingern auf der heißen Herdplatte.
Am 25. Juli 1946 war im Rahmen der Operation Crossroads eine nukleare Unterwasserzündung der USA auf dem Bikini-Atoll im Pazifik angesetzt. Die unter wissenschaftlicher Aufsicht erfolgte Zündung hatte eine fast dreimal so hohe Sprengkraft und Strahlung als von den Experten und Erbauern vorhergesagt. Die Explosion und deren Folgen jagten den Beteiligten auf US Seite einen gewissen Schrecken ein, vielleicht sogar Respekt. Die Atommacht Sowjetunion hatte 15 Jahre später ein ähnliches Erweckungserlebnis. Als sie die AN602 baute und testete, schuf sie durch die Explosion dieser Wasserstoffbombe die stärkste je von Menschenhand verursachte Explosion. Als die Bombe am 30. Oktober 1961 auf der Insel Nowaja Semlja explodierte, konnte diese Erschütterung noch auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel gemessen werden. Die Sprengkraft, ähnlich dem Vorgang auf dem Bikini-Atoll, war zweieinhalb mal höher als vorausberechnet. Auch die Sowjets bekamen einen gehörigen Schreck. Ließen von dieser Machart ihres Bombenarsenals schnell die Finger. Russen und Amerikaner hatten sich die Finger verbrannt. Vielleicht eine Lehre. Ob die kapitalistischen Kommunisten in Peking mit ihrem Arsenal an Weisheiten und Sprüchen ihre Lehren schon erfahren oder sogar gezogen? Nichts Genaues weiß man nicht. Sie wollen jedenfalls mit Macht dahin, wo die USA und die Russen schon sind, auf den nuklearen Gipfel. Beunruhigende Aussichten, Konfuzius hin oder her.
In Giuseppe Verdis Requiem beginnt der Dies Irae (Tag des Zorns) mit einer gewaltigen Paukenorgie, einem einmaligen Ausbruch in der Musikgeschichte. Besonders die Dirigenten Georg Solti und Carlo Maria Giulini wussten in ihren Aufführungen dieses grandiosen Werkes die in der Partitur vorgesehenen Paukenschläge dramatisch einzusetzen und musikalisch zu befeuern. In ihren Interpretationen fuhr der Zorn den Zuhörern direkt in die Seele. Rezensenten haben gerade in den Einspielungen von Solti und Giulini an dieser Stelle den Vergleich gezogen „als würden Atombomben neben einem einschlagen“. Nun ja. Mit Verlaub, da formulieren dann einige Musikkritiker und Klassik-Liebhaber vielleicht doch etwas zu prosaisch. Keine Atombombe – mit oder ohne Hyperschalltransport – wird romantisch oder in klassischen Tönen über uns kommen. Es wird dabei, so es passiert, fürchterlich hergehen. Um dies zu erahnen, bedarf es keiner hellseherischen Gaben, muss man nicht Prophet sein. Dazu das Schlusswort dem Nobelpreisträger für Physik von 1967, der mit Oppenheimer führend an der Erschaffung der Atombombe arbeitete, Hans Bethe:
Wenn wir einen Krieg führen und ihn mit Kernwaffen gewinnen, wird sich die Geschichte nicht an die Ideale erinnern, für die wir gekämpft haben, sondern an die Methoden, mit denen wir diese erreicht haben. Diese Methoden werden mit der Kriegsführung von Dschingis Khan verglichen, der jeden rücksichtslos getötet hat.
*Titelbild: DeSa81 auf Pixabay