Leben

Eine Neunte für Silvester

Aus Gründen des Jubilierens greift der Mensch gerne zu weihevollem oder festlichem Hilfswerkzeug. In Fällen des Jahreswechsels ist die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven selbst für klassikferne Ohren mancherorts eine gute Gewohnheit geworden, ähnlich dem profaneren Silvesterpunsch von Alfred Tetzlaff oder dem Dinner for One. Die letzten beiden Beispiele beziehen sich eher auf unsere Breitengrade und deutschen Humor oder was wir dafür halten. Wogegen die Neunte global einschlägt, deswegen leider oftmals pflichtschuldig runtergenudelt wird. Was wiederum nicht an Beethoven als vielmehr an den heutigen Interpreten und deren Umfeld liegt. Wer sich der Neunten jedenfalls nicht verweigert und sich die Zeit nimmt, der kann durchaus Bereicherung finden. Da wegen Corona persönliche Konzertbesuche und damit verbundene Live-Erlebnisse eher nicht die Regel sein werden, soll hier für Interessierte eine kleine Hilfestellung versucht werden. Daraus lässt sich dann vielleicht Anregung ziehen, welche Neunte man sich über Streaming, Tonträger oder andere technische Möglichkeiten zum Jahreswechsel ins Haus holt und Ohren wie Seele gönnt. Jede hier geäußerte Empfehlung ist natürlich völlig subjektiv.

Komponist des Volkes, nicht der Salons: Ludwig van Beethoven

Niemand sollte bitte den Fehler machen und die Neunte nur auf den Schlusssatz mit Schillers „Freude schöner Götterfunken“ reduzieren. Damit bringt man sich nur selbst um ein großes Hörvergnügen. Die Sinfonie ist komplex und doch jedem zugänglich, so man sich nicht von Musik- oder Kritikerpäpsten abschrecken und belehren lässt, in deren Verwissenschaftlichung hoffnungslos absäuft. Beethoven hat fürs Volk komponiert, nicht für Eliten. Es ist keine Schande, seinem eigenen Geschmack zu folgen. Was bekommen wir in seiner Neunten also von Beethoven angerichtet? Der 1. Satz (Allegro ma non troppo, un poco maestoso) beginnt zu wachsen, kommt irgendwie aus dem Nichts, steigt wie aus einer Nebelschwade und ist dann plötzlich im abrupten Wechsel von leisen und lauten Tönen da. Der 2. Satz (Molto vivace – Presto) vielleicht das Meisterstück dieser Sinfonie. Alles ganz klar und durchkonstruiert zwischen harsch und zärtlich. Der 3. Satz (Adagio molto e cantabile – Andante moderato) kommt ruhig und gemessen daher. Durchatmen ist angesagt. Eine Art tiefer Ruhe und geistiger Reinigung vor der Ekstase und dem Sturm. Der 4. Satz (Presto – Allegro assai – Andante maestoso – Allegro energico, sempre ben marcato – Allegro ma non tanto – Prestissimo) bereichert den extremen Instrumentenreigen und die prallen Orchesterfarben nun noch durch Sopran-, Alt-, Tenor- und Bassstimme, begleitet von einem riesigen Chor. Wenn alles stimmt und optimal läuft, dann entsteht dabei mehr als nur ein Klangerlebnis, dann braust wirklich ein emotionaler Orkan über jeden aufnahmebereiten und willigen Zuhörer hinweg. Musiker mit ihren Aufnahmen, die solches vermocht und geschafft haben, sollen im folgenden Text genannt und empfohlen werden.

Bei den bis heute sehr populären und werbewirksamen Titanen der Klassikbranche und Klassikgemeinde stehen natürlich die Interpretationen, Aufführungen, Aufnahmen der Neunten von Arturo Toscanini, Wilhelm Furtwängler, Leonard Bernstein und Herbert von Karajan im Zentrum. Nicht nur, weil sie größtenteils gelungen und mit einem Mythos umgeben, sondern ihre Macher auch berühmte Leute über den Klassikmarkt hinaus sind. Wer zu diesen Dirigenten und ihren Aufnahmen greift, macht nichts falsch und wird sicher sehr ordentlich bedient. Aber es gibt eben außerhalb des Kultes um diese ewigen und in Stein gemeißelten Legenden doch noch andere Lesarten, die durchaus als eindrucksvoller, überzeugender und gewaltiger gewertet werden dürfen. Das Wort besser geziemt sich nicht. Es geht hier nicht um schneller, höher, weiter. Eher darum, Menschen auf die Neunte und Beethoven zu bringen.

Toscanini und Furtwängler. Nicht nur bei Beethoven Rivalen über den Tod hinaus.

Wer zu Otto Klemperer greift, der ist bestens aufgehoben. Klemperer hat sein Leben lang Beethoven wie ein Lordsiegelbewahrer aufgeführt und das Gefühl vermittelt, nur so und nicht anders muss es sein. Dabei sind ihm famose Aufführungen gelungen. Seine berühmteste und beste Neunte ist jene vom 15. November 1957 aus der Royal Festival Hall zu London. Mit dem Philharmonia Orchestra und dessen Chor sowie den Solisten Aase Nordmo Løvberg, Christa Ludwig, Waldemar Kmentt und Hans Hotter schuf er eine festliche wie erhabene Version. Dieser Live-Mitschnitt ist in Ton und Bild (s/w) für jene Zeit vorzüglich. Wenige Wochen vorher hatte Klemperer die Neunte in gleicher Besetzung im Studio aufgenommen und für Tonträger der Nachwelt erhalten. Der Klang dieser EMI Produktion natürlich deutlich besser, die Aufnahme längst eine Legende der Klassik. Dennoch ist das Live-Erlebnis noch einen Tick aufregender und dramatischer.

Legenden auf der Höhe: Die Neunte, Beethoven und Klemperer.

Überhaupt. Live-Aufnahmen wirken oftmals eindringlicher als die manchmal zu perfekten und fehlerlosen Studioproduktionen. Die Gefahr von Fehlern, Unwägbarkeiten und das fortwährende Risiko bei Live-Aufführungen, die bei erhaltenen Mitschnitten noch viele Jahre später Authentizität sprühen, verschafft einem in den besten Momenten ein atemberaubendes Hörerlebnis. (Wenn nicht Störer, notorische Räusperer und Hustenfanatiker den Genuss zu sehr trüben.) So ein außergewöhnlicher Moment, hier kann man wohl ohne Übertreibung von Sternstunde sprechen, gelang dem phänomenalen Dirigenten George Szell am 12. November 1968 in der Royal Festival Hall in London mit dem New Philharmonia Orchestra und Chorus, den beteiligten Solisten Heather Harper, Janet Baker, Ronald Dowd und Franz Crass. Eine bessere Live-Neunte ist schwerlich zu finden. Szell geht aufs Ganze, bringt Feuer unters Dach, Orchester, Chor und Solisten folgen ihm und sind in absoluter Topform. Mehr geht kaum. Ein großer Tag für Beethoven und die Neunte. Wer dem vorhandenen Mitschnitten dieses Konzertes zuhört und nichts daran findet oder dafür übrig hat, der ist wohl für die Neunte verloren.

Meister seines Fachs: George Szell. Eine Beethoven-Neunte für die Ewigkeit.

Ein Einschub sei hier gestattet. London war für Beethoven einst offenbar goldener Boden. Die meisterhaftesten Live-Ereignisse in Sachen Neunter wurden alle an der Themse aus der Taufe gehoben. Nicht nur die beiden bereits erwähnten Auftritte von Klemperer und Szell. So geschah auch Großes am 13. November 1947 in der Royal Albert Hall. Der für den Verfasser dieser Zeilen bedeutendste und menschlichste Dirigent, Bruno Walter, kehrte aus der Emigration und seiner neuen Heimat USA zu Konzerten nach Europa zurück. Die Nazis hätten Bruno Walter vergast. Was Walter und die Solisten Isobel Baillie, Kathleen Ferrier, Heddle Nash, William Parsons sowie der London Philharmonic Choir und das London Philharmonic Orchestra da 1947 schufen, ist längst Musikgeschichte. Auch hier eine Sternstunde der Klassik. Mitschnitte von 1947 klingen nicht so nahezu perfekt wie jene von 1968. Die Tonqualität bei Bruno Walter kann daher nicht mit dem George Szell Mitschnitt gleichziehen. In der künstlerischen Umsetzung sind Walter und Szell ebenbürtig. Auch diese eine Jahrhundertaufnahme für den Olymp. In jenen Olymp schaffen es auch zwei spätere Mitschnitte. Erneut sind London und wie bei Bruno Walter die Royal Albert Hall Ort des Geschehens.

Guter Ort für Beethoven. London. Royal Albert Hall mit 8.400 Plätzen. (Foto: Drago Gazdik auf Pixabay)

Im Sommer 1986 führte Georg Solti mit dem London Philharmonic Orchestra in der riesigen Royal Albert Hall die Neunte von Beethoven mit dem Sängerensemble Jessy Norman, Sarah Walker, Reiner Goldberg und Hans Sotin auf. Den Chor-Part übernahmen die BBC Singers und der Welsch National Opera Chorus, unterstützt von London Voices. Von diesem Konzert gibt es auch einen Bildmitschnitt, der die besondere Atmosphäre der Royal Albert Hall einfängt und den emotionalen Funken, der zwischen Publikum und Musikern umherfliegt, begreifbar macht. Ein Genus für Auge und Ohr. An gleicher Stelle, hier nur als Tonmitschnitt erhalten, gab Klaus Tennstedt am 31. August 1991 ebenfalls mit dem London Philharmonic Orchestra, den Solisten Jane Eaglen, Kathleen Kuhlmann, Anthony Rolfe Johnson und John Tomlinson sowie dem Philharmonic Chorus eine Neunte, die das Publikum mit dem Schlussakkord von den Sitzen holte. Beim Dirigenten Tennstedt ging es irgendwie immer um Leben und Tod. Dieser zerbrechlich wirkende Mann musizierte meistens an der Grenze des alles oder nichts. Der Schlusssatz geht hier wirklich unter die Haut. Ein explodierender Jubel mit einem ausrastenden Publikum wie bei einem Popkonzert hauen einen selbst heute noch vor den Lautsprechern vom Stuhl. Ein Ereignis der Marke Gänsehaut.

Natürlich gibt es auch famose Studioaufnahmen, die nicht unter den Tisch fallen sollen. Da sind wir erneut bei Georg Solti, allerdings nicht mehr in London. Die DECCA produzierte 1972 in den USA mit dem Chicago Symphony Orchestra and Chorus eine Neunte und holte dafür die Solisten Pilar Lorengar, Yvonne Minton, Stuart Burrows und Martti Talvela an Bord. Unter dem Dirigenten Georg Solti entstand die wohl beste Studioaufnahme der Neunten. Ein wirkliches Meisterwerk. Es zieht einen sofort in den Bann und fesselt für aufregende und emotionale 77 Minuten. Solti macht jedes Detail hörbar, ohne Feuer und Dynamik zu verlieren. Ein Muss für jede Klassiksammlung. Zu jener Zeit war das Chicago Symphony Orchestra unter seinem Chefdirigenten Sir Georg Solti zumindest im Tonstudio allen Orchestern der Welt überlegen. Bei Aufnahmen konnten selbst die Wiener und Berliner Philharmoniker mit Bernstein und Karajan denen in Chicago mit Solti nicht ganz das Wasser reichen. Diese Aufnahme ist wohl eines jener Meisterstücke der Zusammenarbeit Chicago und Solti, die bis heute hoch im Kurs stehen. Ein absolutes Beethoven-Highlight, welches in keiner Klassiksammlung fehlen darf. Auch die Tontechniker der DECCA haben zu diesem Stereo-Juwel beigetragen.

Meisterwerk der Klassik und Meilenstein einer Studio-Neunten. Purer Beethoven.

Eine Studioaufnahme der außergewöhnlichen Qualität, auch die des Dirigenten Charles Munch mit dem Boston Symphony Orchestra, den Solisten Leontyne Price, Maureen Forrester, David Poleri, Giorgio Tozzi und dem Chor New England Conservatory. Diese Mono-Aufnahme, was dem Klang und dem Erlebnis keinerlei Abbruch tut, ist ein Parforceritt. Unter emotionalem Dauerfeuer für die Ohren, treibt Munch Orchester, Chor und Sänger voran, ohne dabei zu hetzen. Beethoven lebendig, explosiv und temperamentvoll, ein Genuss und Muntermacher zu jeder Jahreszeit. Man denkt, Beethoven steht persönlich am Pult. Gediegener, im Tempo langsamer, aber nicht weniger faszinierend erleben wir die Staatskapelle Berlin unter Leitung des Dirigenten Otmar Suitner in der ETERNA Studioaufnahme von 1982. Suitners Ensemble ist eine Wonne für deutsche Ohren, jedes Wort ist verständlich. Manchmal stören sich deutsche Zuhörer bei einigen der bereits genannten Aufnahmen eventuell ein wenig am Idiom z. B. englischer oder italienischer Sänger. Diese können, was völlig normal und verständlich, im Schlusssatz mit den Worten von Schiller nicht jeden deutschen Laut wie ein Muttersprachler treffen. (Auch deutsche Tenöre klingen mit italienischen Opernarien manchmal sehr deplatziert.) Die Solisten Magdalena Hajossyova, Uta Priew, Eberhard Büchner, Manfred Schenk erfüllen jedenfalls bei Suitner jeden Anspruch auf Verständlichkeit, kongenial begleitet vom Rundfunkchor Berlin. Die Aufnahme gilt unter Beethoven Kennern und Freunden klassischer Musik völlig zurecht als Geheimtipp für beste Qualität.

Geheimtipp in Sachen Beethoven. Die Neunte von Otmar Suitner.

Eine äußerst temporeiche Neunte lieferte der Dirigent und Komponist Rene Leibowitz gemeinsam mit dem Royal Philharmonic Orchestra 1961 im Studio ab. Live und mit wesentlich langsameren Tempi ist Sergiu Celibidache mit den Münchner Philharmonikern in einem Mitschnitt vom 17. März 1989 zu hören. Durchaus zu empfehlen sind auch Neunte unter den Dirigenten Rafael Kubelik, Rudolf Kempe und Carlo Maria Giulini. Eine Neunte der anderen Art schuf Leopold Stokowski 1969 mit dem London Symphonie Orchestra, im Studio wie auch live. Stokowski griff gern in die Orchestrierung ein, da kannte er nichts und ließ dabei Streicher- und Bläserklänge verstärken. Er galt ja als Meister eines besonderen Klangs, von Puristen gehasst, von Fans vergöttert. Gleichgültig lassen Stokowski Aufnahmen jedenfalls niemanden. Irgendwie schafft er es, Magie ins Ohr zu bringen. Der Tonträger der Stokowski-Einspielung bei DECCA ist sogar in der seltenen Aufnahmetechnologie „Phase4-Stereo“ vorhanden. Deswegen diese Aufnahme auch wegen des Sounds zusätzlich interessant.

Wenn wir schon bei der Technologie angekommen sind, noch ein Einschub in Sachen technische Seite der Musikgeschichte. Die Klassik und darin speziell Beethovens Neunte spielten bei einem technologischen Quantensprung eine wesentliche Rolle. Als die Compact Disc 1979 von Sony und Philips auf den Markt geworfen wurden, hatte besonders der Dirigent Herbert von Karajan, ein bevorzugter Partner von Sony, dafür geworben, die CD größer zu machen als geplant. Beide Weltkonzerne hatten sich ursprünglich auf eine kleinere CD Version geeinigt. Karajans Argument war vor allem für die Konzernbosse von Sony ausschlaggebend. Die 9. Sinfonie von Beethoven müsse mit ihren ca. 75 bis 78 Minuten Spielzeit unbedingt auf eine Scheibe passen, so der Welt berühmtester Dirigent. Damit wurde die Neuerung CD eben etwas größer als angedacht und dadurch mehr Minutenvolumen auf der Scheibe möglich. Die CD sozusagen für die Neunte passend gemacht. Es gab in der Geschichte des technischen Fortschritts wahrlich schon schlechtere Argumente. Die Neunte unter dem Dirigenten Munch dauert übrigens 63 Minuten, die unter Celibidache 77 Minuten, Soltis bahnbrechende Aufnahme benötigt 76 Minuten und der legendäre Szell Mitschnitt 69 Minuten. Es gibt viele Arten von Interpretationen und Tempi im Mysterium dieser 9. Sinfonie des Ludwig van Beethoven. Vielleicht liegt darin auch ein Stück weit ihre ewige Gültigkeit und Zeitlosigkeit begründet.

Mit der kleinen Hoffnung für Geneigte, Neugierige und Interessierte war etwas dabei, geht ein ewiger Dank an den Macher der 9. Sinfonie in d-Moll op. 125. Beileibe, dies sei hier auch gesagt, nicht das einzige Meisterwerk dieses grandiosen und genialen Ludwig van Beethoven. Herzliche Grüße und beste Wünsche für einen friedvollen und vor allem gesunden Jahreswechsel gehen an alle, egal ob nun mit oder ohne Interesse an der Neunten. Guten Rutsch, Wohlergehen, viel Glück und alles Gute.

Hauswand, Tonträger oder Streaming. Beethoven stets unter uns. (Foto: Richard Mcall auf Pixabay)

*Titelbild: Originalpartitur der Sinfonie in d-Moll op. 125 von Ludwig van Beethoven mit dessen Handschrift.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert