Gesellschaft

Frankreichbild in Schieflage

Immer öfter stehen jene, die andere als Demagogen und Populisten brandmarken, mit genau diesen Unarten nicht vor, sondern hinter Kamera und Mikro, verkleiden sich dabei im Gewand von Journalisten als objektive Berichterstatter. Ein Sachverhalt, der sich aktuell in Sachen Frankreich aufdrängt, ist ein kollektives Versagen der Berichterstattung, weil die Berichterstatter eindimensional unterwegs und dabei wirken, als wären sie Hausangestellte einer politischen Richtung oder Transporteure eines bestellten Weltbildes. „Schreiben, was ist“ einst die Devise von Rudolf Augstein und von allen, die für ihn arbeiteten. Heute wird dagegen von Journalisten zu oft geschrieben und gesagt, was sie selber gerne hätten. Meinung und Kommentar stehen über der Nachricht, leider oftmals auch neben der Realität. So bekommen wir Medien-Konsumenten oft eine Welt ins Haus, die in Wirklichkeit völlig anders. Im Zuge der Präsidentenwahl in Frankreich wurde dies auf erschreckende Weise offenkundig und greifbar.

Tucholsky war von den Reportagen seines Kollegen Kisch aus fernen Ländern stets begeistert, wofür es einen bemerkenswerten Grund gab: „E. E. Kisch hat eine Eigentümlichkeit, die ich immer sehr bejaht habe: Er sieht sich in fremden Ländern allemal die Gefängnisse an. Denn maßgebend für eine Kultur ist nicht ihre Spitzenleistung; maßgebend ist die unterste, die letzte Stufe, jene, die dort gerade noch möglich ist.“ So ist es. Natürlich erwarten wir von unseren Frankreich-Berichterstattern nicht den Besuch im Gefängnis. Allerdings sollte man doch davon ausgehen, dass sie dort auftauchen, wo im heutigen Alltagsleben die unterste Stufe zu finden, weil dort nämlich Menschen und ihre Schicksale vorzufinden. Würden Journalisten dorthin gehen, wüsten sie anderes zu berichten als billige Klischees und unzutreffende Wahlanalysen. Statt die Franzosen und Ihre Politiker besser kennenzulernen, mussten wir uns mit falschen Erzählungen und einer Menge Eseleien abspeisen lassen.

Aus Paris kommt viel Blödsinn, so deutsche Medien am Werk. (Foto: Walkerssk auf Pixabay)

Die Frankreich-Korrespondentin der ehrbaren Süddeutschen Zeitung, Nadia Pantel, schreibt den Leuten ein Frankreichbild auf, welches eventuell in ihrem Kopf existiert. Sie trommelt dabei für Macron und gegen Le Pen. Ihr gutes Recht, nur eben kein Journalismus. Es liest sich eher wie die Hofberichterstattung für eine bestimmte politische Richtung nebst festgefahrener Gegnerbeobachtung. Für jeden Otto Normalverbraucher ist diese Haltung absolut okay. Nur für Journalisten eben nicht. Aufschreiben, was ist. Nicht aufschreiben, was dem eigenen Weltbild entspricht und dieses dann unter dem Mantel Journalismus verkaufen. Ob Frau Pantel oder der gleich näher betrachte Herr Walde, sie alle zeichnet eine Untugend aus. Sie gehen nicht mehr dahin, wo es stinkt und schmerzt, wo die Menschen nicht edel und geistreich, sondern elend unterwegs, eben nicht mehr Richtung unterste Stufe. Wer sich nicht in die Lage anderer Menschen versetzen kann, der sollte sich allerdings hüten, von oben herab Werturteile über diese Leute zu fällen. Solcher Art Werturteile haben inzwischen nämlich den objektiven Journalismus völlig ersetzt und sind an dessen Stelle getreten.

So jemand in Frankreich Korrespondent und uns von dort schreibend oder redend informiert, sollte es ihm ein Leichtes sein, auch zu den Menschen zu gehen, die hautnah fünf Amtsjahre des aktuellen Präsidenten Emmanuel Macron er- und durchlebt haben. Jene, die Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wirtschafts- wie Innenpolitik des Macronismus spürten, dessen Folgen und Auswirkungen persönlich tragen mussten. Vorzugsweise findet man diese in der Unter- und Mittelschicht, bei Schülern, Studenten und Rentnern, Arbeitslosen und Abhängigen von Sozialleistungen. Man trifft dort Menschen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können, denen der Strom abgestellt wird und die ihre Kinder nicht mehr in gute Schulen schicken können, ohne Job dastehen, von Zukunfts- und Existenzangst umgeben sind. Diese Menschen haben aus offenkundigen Überlebensgründen wenig Aufmerksamkeit und Interesse für Europa- und Außenpolitik, welche Präsident Macron durchaus respektabel im Sinne Frankreichs über die internationale Bühne bringt. Ihre Not ist akut und greifbar in der Amtszeit von Emmanuel Macron entstanden und gewachsen. Dessen neoliberale Politik und sein Versuch, den Sozialstaat im Eiltempo zu demontieren, führte zu den Gelbwesten, die nicht wegen der Außen- oder Europapolitik auf die Straße gingen, sondern gegen eine völlig verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Menschen, es sind nicht wenige, engagierten sich, um Macron und dessen Politik loszuwerden, aus Sorge um den demokratischen Sozialstaat Frankreich und ihre eigene Existenz.

Gilets jaunes gegen Macrons Neoliberalismus und für Frankreich. (Foto: Screenshot Euronews)

Jean-Luc Mélenchon stand für diese Menschen ein und warf Fragen auf. Wie stellen wir sicher, dass es nicht mehr 10 Millionen arme Menschen gibt, von denen 8 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind und wie kämpfen wir für 300.000 Obdachlose und Kinder, die für Lebensmittelspenden anstehen? Er gab auch eine Antwort: „Unser Projekt ist es, den Reichtum in diesem Land gerecht und ehrlich zu teilen!“ Dann erläuterte er dezidiert Maßnahmen und Finanzierung in seinem Wahlprogramm. Für Kernpunkte seines Programmes, die Rente mit 60, die Anhebung des Mindestlohns auf 1400 € netto, 1063 € Unterstützung für jeden jugendlichen Auszubildenden/Studenten wurde er von den Neoliberalen gehasst. Er geriet deswegen auch ins Visier von Le Pen und Macron, wurde sogar außerhalb Frankreichs von reaktionären deutschen Medien/Journalisten als Linkspopulist abqualifiziert. 22 Prozent der Wähler folgten ihm jedoch. Diesen 7,7 Millionen Menschen soll Mélenchon nun explizit vorschreiben, ihr habt, um Le Pen zu verhindern, gefälligst Macron zu wählen, sonst seit ihr schlechte, extremistische, verführte, dumme und populistische Franzosen. Anständig nur, wenn ihr eure Wunden vergesst und genau den wählt, der sie euch geschlagen. So schlicht malt sich die Welt vielleicht im Kopf von deutschen Korrespondenten. Nur das Leben, das Leben ist eben anders und manchmal stinkt es sogar.

Zwei neoliberale Kandidaten verkörpern eine düstere Zukunft. Jene Franzosen, die weder Le Pen noch Macron vertrauen, sehen sich zwischen Pest und Cholera. Macron und Le Pen wollen beide partout nicht, was Mélenchon und seine Wähler anstrebten. Die Wiederherstellung des Sozialstaates, die Entlastung der Armen, Rente mit 60, keine Studiengebühren und Erhöhung des Mindestlohnes. In der zentralen Fragen der Kaufkraft haben weder Macron noch Le Pen seriöse Lösungen anzubieten und spielen auf ein Verschleppen bis nach der Wahl. Beide lehnen besonders die Anhebung des Mindestlohns und das Einfrieren der Preise vehement ab. Zwei zentrale Forderungen von Mélenchon, die von seinen Wählern besonders gewollt und unterstützt wurden. Und diese Wähler sollen jetzt gefälligst Macron wählen, Neoliberalismus und eigenes Elend hin oder her, weil Macron besser für Europa, die Welt, die Deutschen, die Ukraine und überhaupt. Wenn es doch so einfach wäre.

Mélenchon-Wahlkampf Toulouse. Wunsch nach linker Politik. Diese Menschen wollten weder Le Pen noch Macron. (Foto: Twitter FranceInsoumise)
Schauen wir nun auf etwas eher Läppisches, was bei näherer Betrachtung Zeugnis über die Wirrnis einer bestimmten Art von Berichterstattung ablegt. Es sind immer die kleinen Dinge, die entlarven. Ein Deutscher von einiger Flachheit, der sich über das Wahl-Dilemma vieler Franzosen lustig macht und denen per billiger Verhöhnung Belehrungen erteilen will, ist ein gutes Beispiel dafür. Mit diesem nachfolgenden Tweet macht sich jener selbst zum Dummkopf. Jeder blamiert sich eben, wie er kann. Die Rede ist vom Studioleiter des ZDF in Paris, Herrn Thomas Walde. Dieser Studioleiter twitterte wie folgt: „Alle Dialoge mit Mélenchon-Vertretern heute in französischem TV“:

– Wen wählen Sie im zweiten Wahlgang?
– „nicht Le Pen“
– wählen Sie Macron?
– „nicht Le Pen“
– enthalten Sie sich?
– „nicht Le Pen“
–  wie wird das Wetter?
– „nicht Le Pen“
(letzte Frage habe ich mir ausgedacht)

Ausgedacht ist ein gutes Stichwort. Offenbar fantasiert er sich sein gesamtes Frankreichbild zusammen, welches er den geneigten Abnehmern in der Heimat dann als Weltsicht und Insiderblick verkauft. Journalistisches Handwerk, damit einhergehend eine gewisse Sorgfalt, scheint ihm völlig abzugehen. Seine Draufsicht hat nichts mit der französischen Realität zu tun. Würden Mélenchon und die führenden Köpfe der einzig verbliebenen linken Sammlungsbewegung LUnion populaire nämlich ihren Wählern einfach per Zuruf die Wahl Macrons empfehlen oder/und anraten, wäre dies eine Katastrophe in den eigenen Reihen und würde diese linke Bewegung zerfressen. (Was natürlich im Interesse einer bestimmten Politik- und Medienkamarilla.) Es wäre in Hinblick auf die kommenden Wahlen zur Nationalversammlung für die Erfolgsaussichten der LUnion populaire ein fataler Fehler. Jeder Korrespondent in Paris muss dieses wissen und gefälligst vermitteln, bevor er dumme Witzchen twittert. Dieses eindeutige NEIN zu Le Pen muss doch selbst Walde verstanden haben. Aber er will unbedingt den Macron-Knicks der Linken haben und vermelden.

Man kann es leider nicht oft genug wiederholen. Nicht Le Pen hat die letzten fünf Jahre regiert. Die Gelbwesten sind wegen Macron und gegen dessen „Reform“-Agenda entstanden. Frankreich zu einem Staat nach Muster eines US-Kapitalismus in der exzessiven Variante von Milton Friedman zu machen, ist ebenfalls keine Le Pen Blaupause, sondern Macron-Politik. Mit dem verlogenen Begriff „Reformen“ die Renten angreifen, längere Arbeitszeiten für weniger Geld anstreben, über Studiengebühren eine Klassengesellschaft schaffen und die Sozialleistungen kürzen, ist Macrons Politik und neoliberale Handschrift. Die Handschrift Le Pens sähe nicht wesentlich anders aus, vielleicht noch schlimmer. Pest oder Cholera. Allerdings ist die radikale Komponente von Le Pen, latent gegen andere ethnische Gruppen und Religionen zu Felde zu ziehen, dieser dumpfe Nationalismus, nie Politik von Macron gewesen. In diesen Topf gehört der französische Präsident nicht, weswegen er für linke Wähler sicher etwas wählbarer als Le Pen. Sofern diese Wähler an der zweiten Runde teilnehmen.    

Ahnungslos in Paris. ZDF-Mann Thomas Walde. (Screenshot Sender Phoenix)

Es ist und bleibt kompliziert. Deshalb wollen wir hier, bevor sich Herr Walde erneut über andere erhebt oder lustig macht, nochmals den französischen Autor Didier Eribon zu Wort kommen lassen, mit einer Äußerung, der wir auf GERADEZU schon am Wahltag Platz einräumten. Eribon hat die sozialen Verwerfungen in seinem Land erlebt und ihre Ursachen erkannt, ist dazu wesentlich mehr berufen als ein bestens bezahlter Angestellter einer öffentlich-rechtlichen TV-Anstalt aus Deutschland. „Aber ich verstehe nicht, warum der Deutsche Macron für einen Zentristen halten kann: Er ist ein gewaltsam autoritärer rechter Politiker. Seine Politik ist die Demontage des öffentlichen Sektors und der Abriss des Sozialstaats + schrecklicher Polizeirepression gegen Demonstranten. Wenn Le Pen jetzt so stark ist, liegt das an Macrons neoliberaler Politik, die den Reichen mehr Geld gibt und es den Armen nimmt.“

Die Formel, die deutsche Journalisten wie ein Gottesurteil verkünden, man müsse Macron wählen, weil es keine Alternative gibt, zündet in Frankreich nicht mehr. Dafür hat Macrons Politik gesorgt. Nun braucht man die Hilfe linker Wähler, um einen neoliberalen Politiker im Amt zu halten. Ausgerechnet deutsche Journalisten fordern dieses jetzt ein. Dazu passt dann ein vorgegaukelter Sinneswandel in deutschen Medien. Bis zum Schließen der Wahllokale diffamierten deutsche Medien Mélenchon als Linkspopulisten und stellten auch seine Anhänger in ein übles Licht. Selbst vor einer Gleichsetzung mit Le Pen oder dem Kampfbegriff Linksextremist wurde nicht zurückgeschreckt. Als das Wahlergebnis vorlag, las man z. B. im Spiegel plötzlich vom Linkspolitiker Mélenchon, der Populist war wie von Zauberhand verschwunden. So geht’s zu.

Noch ein Rat an den ZDF-Studioleiter in Paris, Thomas Walde. Er sollte sich vielleicht einmal mit Didier Eribon treffen, dabei etwas über Frankreich und seine Menschen lernen und was im Land passierte und passiert. Dieser Wunsch bleibt natürlich ein frommer, also unerfüllt. Walde kann die Finger nicht von Twitter lassen und beglückte uns erneut: „Marine Le Pens Aussenpolitik in einem Bild. Eine Frankreichfahne. Keine Europafahne. Voilà.“ Da haben wir sie erneut, die Welt im Kopf dieses Frankreichkenners, der von Frankreich – mit täglicher Beweisführung seinerseits – so viel Ahnung hat wie die Kartoffel von der Kniescheibe. Holzschnittartiger Journalismus, abzielend auf ein von eigener Hand normiertes Publikum um der dumpfen Effekthascherei willen und des billigen Applauses wegen. Eisern nach der Methode darf’s ein Scheibchen mehr sein. Deutschlands fähigster Journalist Hermann L. Gremliza fand dafür einst die Worte Reklamejargon und Gesinnungslumperei.

Macron durchschaut. Kennt seine Landsleute und die Arbeiterklasse. Autor und Soziologe Didier Eribon. (Screenshot: Skripta TV)

Michèle B., eine Wählerin von Mélenchon soll hier das Schlusswort bekommen. Gesprochen am Wahlabend bei einer spontanen Publikumsbefragung auf  France TV2: „Ich bin angewidert, all diese alten Leute um mich herum zu sehen, die Macron wählen. Das ist glücklicherweise nicht mein Fall. Ich hatte 9 Jahre lang nicht gewählt und bin dazu übergegangen, Mélenchon zu wählen. Ich habe ihn während seiner Reden entdeckt, und mir wurde klar, was ich so viele Jahre vermisst hatte. Es war dieser Humanismus. Ich habe sogar eine Träne vergossen, als ich die Kampagne verfolgt habe. Ich habe mein ganzes Leben lang gekämpft. Ich bin 75 Jahre alt und habe mit Energie und Kraft an der Kampagne von Jean Luc Mélenchon teilgenommen. Heute bin ich sehr traurig, aber ich gebe nicht auf und werde weiter für unsere Jugend kämpfen, für unseren Planeten, dem es sehr schlecht geht.“

Aktuell ist gerade geschehen, was Jean-Luc Mélenchon seinen Wählern vor der Wahl zugesagt hatte und nun von ihm eingehalten wird. Sämtliche seiner Unterstützer, die ihn 2021 schriftlich gebeten haben, erneut für das Amt des Präsidenten zu kandidieren und sich dafür vor dem 10. April 2022 (erster Wahlgang) registrieren ließen, im Falle Mélenchon 310.000 Menschen, können ab sofort bis zum 16. April 2022 die Möglichkeit nutzen, sich auf einer speziell dafür eingerichteten Plattform (Website) zu äußern und Meinungen auszutauschen, wie sie sich persönlich zum zweiten Wahlgang positionieren. Gelebte Demokratie und Bürgerbeteiligung. Weil die persönliche Stellungnahme von Jean-Luc Mélenchon zu diesem Diskussionsportal sehr aussagekräftig die politische Situation in Frankreich beschreibt, dabei das Dilemma für seine Wählerschaft in Sachen des zweiten Wahlganges nicht verschweigt, werden wir von GERADEZU seine Äußerungen im vollen Wortlaut veröffentlichen. Dafür gibt es einen gesonderten Beitrag unter dem Titel: „Jean-Luc Mélenchon in Sachen zweiter Wahlgang“

 

*Titelbild: John Hain auf Pixabay

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