Gesellschaft

Europa und die Demokratie

Medien und Politik wundern sich öffentlich, dass politische Kräfte in Europa mit einem Antieuropawahlkampf reüssieren und zur Macht gelangen oder zumindest eine große Wählerschaft ansprechen. Dabei wird immer ausgeblendet, dass Europa für seine Bewohner als verbindender Begriff gar nicht mehr definierbar ist, außer in ausgehöhlten Wahlkampf- oder Sonntagsreden. Ein schwer begreifliches und nicht zu durchschauendes Gebilde kommt einer deutlich wachsenden Zahl von Menschen schon sehr lange unter der Formel „Brüssel“ eher als Schreckgespenst entgegen. Es ist dieses „Brüssel“, von wo aus jedweder Europafeindlichkeit Tag um Tag bewusste und unbewusste Vorlagen geliefert werden. Die zunehmende Antihaltung gegen jenes „Brüssel“, welches kaum noch Anklang findet, soll nun ausschließlich die Schuld von Rechten, Linken, Antieuropäern und Pazifisten sein? Oder ist jene Ablehnung in weiten Teilen nicht doch „Verdienst“ von politischen Gestalten der Machart Ursula von der Leyen und derer Taten in einer ebenfalls nur schwer definierbaren „Europäischen Kommission“? Diese Fragen kann sich jeder bestens selbst beantworten. Italien hat jedenfalls nach Lesart vieler Kommentatoren seine erste neofaschistische Regierung seit 1945 gewählt. Oder ist das Bündnis von Italiens künftiger Regierungschefin Giorgia Meloni aktuell nur ganz profan nah am Bürger, nah an den Konzernmedien und noch näher an konservativen Wirtschaftseliten? Dieser Erfolg hat eine vielschichtige Basis und ist in Anbetracht der politischen Verhältnisse in Europa und Italien eher normal, aber keine wirkliche Sensation.

Das Ergebnis der Wahl in Italien macht Giorgia Meloni zur Regierungschefin. Rechtsradikal, neoliberal oder volksnah? Vielleicht alles zusammen. (Screenshot: RAI)

Vor kurzem wurde bereits eine als rechtsextrem angenommene Partei die stärkste Gruppierung in der neuen schwedischen Regierungskoalition. Marine Le Pen erzielte in Frankreich riesige Stimmenzuwächse. Entweder Donald Trump oder der Erzreaktionär Ron DeSantis werden 2024 für die Republikaner die Präsidentschaftswahl in den USA gewinnen. Macht dieser oder jener für Deutschland einen Unterschied? Natürlich nicht. Deutschland war und ist auf dem globalen Schachbrett der USA ein Bauer, nicht mehr und nicht weniger. Wer im Weißen Haus sitzt, ist deswegen nebensächlich. Man könnte jetzt schon beginnen, eine Rechnung aufzumachen, wer in seiner vierjährigen Amtszeit Deutschland und Europa wohl mehr geschadet hat. Der durchgeknallte Egomane Trump oder der zusehends vergreisende Biden. Als Trump ging, gab es Europa noch. Was glauben Deutsche und Europäer, wie dieser Kontinent 2024 aussehen wird? Schon der Zwischenblick nach anderthalb Jahren Joe Biden gibt eine Vorahnung. Viel Spaß, beim darüber nachdenken. Ob es überhaupt der US-Präsident ist, der die Bauern auf dem politischen Schachbrett führt, ist eine ganz andere Frage. Es war kein anarchischer Linker, sondern Dwight Eisenhower, der in den letzten Tagen seiner Präsidentschaft vor dem militärisch-industriellen Komplex warnte, der die USA immer stärker beeinflusst und regiert. Nun ist es schon lange so weit, die düsterere Prophezeiung des Weltkriegshelden Realität. Man blicke nur auf die Macht der Rüstungs- und Tech-Konzerne sowie deren Lobbyisten und Handlanger im Senat zu Washington. Dass der amtierende Präsident Joe Biden immer mehr zu einer Art wächserner Puppe wird, lässt sich schwerlich bestreiten. Da sucht er tote Abgeordnete im Saal, die er selbst vor Wochen betrauert, schafft es immer seltener ohne Hinweis seiner Frau vom Rednerpult auf den Rückweg und macht aus jeder Begegnung mit einer Gangway wackelige Angelegenheiten. So kann und darf man im Alter von 79 Jahren sein, so ist das Leben. Doch als Staats- und Regierungschef eines Landes mit Atomkoffer und laut westlicher Titulierung „Mächtigster Mann der Welt“ fühlt sich dieser öffentliche Verfall schon arg beängstigend an, noch weit über seine Politik hinaus oder jener, die andere für ihn betreiben. Und dieser vergreisende Weltenlenker Biden, der skurrile wie dubiose Ukrainer Wolodymyr Selenskyj und der Russenzar Wladimir Putin sind auf unterschiedliche Weise nun die Schmiedehämmer, die auf Europa niedergehen und es nach ihrem Bilde formen. Gute Nacht Europa.

Wer auf dem globalen Schachbrett der Macht welche Rolle spielt, wird nicht in Berlin entschieden.

Der treueste Spießgeselle der USA ist und bleibt Großbritannien, ein politisch skurriler Sonderfall. Da wird eine von Linken, Arbeitnehmer- und Sozialpolitik entkernte Labour Party unter Vorsitz des Neoliberalen Keir Starmer das Wohlwollen von Rupert Murdoch bekommen und dieser die Briten dazu bringen, die Tories diesmal nicht zu wählen. Damit hält Murdoch die Fassade Demokratie und Wahl in seinem Spiel aufrecht und sichert den Eliten weiter eine Mehrung ihres Reichtums auf Kosten der britischen Bürger. Welche Partei ihm dabei zur Hand geht, entscheidet er nach deren Gefügigkeit. Wenn sich die Tories aktuell von eigener Hand ruinieren, weil sie die verlangte Politik für Milliardäre und Eliten durchsetzen, Murdoch dabei aber Spritzer abbekommt, wechselt er eben die neoliberalen Pferde vor seiner Kutsche demnächst einfach aus. Ob Truss oder Starmer ist ihm egal, Hauptsache sein Wagen wird gezogen. Demokratie? Der deutsche Konservatismus wittert schon den Umschwung. Starmer empfiehlt Labour als ‚Partei der Mitte‘, heißt es bei der FAZ und macht nicht nur reaktionäre Politikredakteure in Frankfurt glücklich, sondern auch neoliberale Eliten weltweit. Von dieser möglichen Labour-Regierung wird keinerlei Gefahr für das Kapital ausgehen. Rupert M. hat es mal wieder gut gerichtet. Dann wird erneut eine Schlacht im Krieg der Reichen gegen die Armen für die da oben gewonnen sein. So wird die Welt (noch) gedreht. Das „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ ist (noch) fern.

Unser hiesiges Gejammer vom Rechtsruck, setzt übrigens immer nur dort ein, wo man es gerade gebrauchen kann und offenbart eher wohlfeile Heuchelei als ernsthafte Auseinandersetzung. Rechte und reaktionäre Kräfte sind den neoliberalen Wirtschafts- und Finanzeliten jederzeit lieber als linke Sozial- und Politikmodelle. Solche Dinge werden natürlich nicht laut ausgesprochen oder berichtet. Die Freude hallt nur hinter den Kulissen. Frankreich bleibt ein nahes wie gutes Beispiel. Hört jemand hierzulande Alarmrufe, dass die von Emmanuel Macron eingesetzte französische Ministerpräsidentin Élisabeth Borne bei allen Themen, die den Sozialabbau für sozial Schwache, Schüler und Studenten wie vor allem die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten betreffen, längst eine parlamentarische Allianz mit Marine Le Pen und deren Rassemblement National bildet? Dass über dieses funktionierende neoliberale Bündnis Macron und Le Pen in Deutschland nicht berichtet wird, zeigt noch im Nachgang die elende Heuchelei deutscher Medien zu Zeiten des französischen Wahlkampfes. Da gab es Sondersendungen über Macron, dem einzigen Garanten zur Verhinderung von Le Pen, gepaart mit Fehlinformationen und Verunglimpfungen der französischen Linken.

In Frankreich ist Marine Le Pen längst stiller aber offensichtlicher Teil neoliberaler Politikgestaltung.

Was haben Wähler in den westlichen Demokratien und speziell in Europa eigentlich noch für eine Wahl? Wenn sie erkennen, wie stark ihre Lebensverhältnisse durch konservative und liberale Parteien deformiert werden, wobei ihnen noch der Begriff „Parteien der Mitte“ in die Augen gestreut wird, schauen sie sich nach Alternativen um. Selbst „Mitte“ als Nebelwand „legt euch wieder hin, alles wird gut, lasst uns nur machen, wir sind der Segen“ zieht irgendwann nicht mehr. Wenn Europas Bürger aufwachen und sogar ihren Hintern hochbekommen, ist es meistens schon zu spät. Dennoch spüren und begreifen sie manchmal, dass neoliberale Politik- und Gesellschaftsmodelle ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse verschlechtert haben. Sobald dann wählende Bürger bei nächster Gelegenheit zur eigenen Rettung einen Wechsel suchen und anstreben, blicken sie auf das klassische Stichwort Sozialdemokratie oder auf das weniger klassische Grün und erleben auch mit dieser Wahlentscheidung sehr schnell ihr blaues Wunder. Die Erinnerung an solche Wunder und deren Wunden ist noch sehr frisch und hallt nach. Die vorgeblich linken Kräfte betrieben – sobald sie an der Macht waren – konservative und vor allem neoliberale Politikmodelle und einen fatalen Gesellschaftsumbau. Blair, Schröder und Hollande sind schlimme Beispiele für eine Parteinahme zugunsten der Reichen, in deren Krieg gegen die Armen.

Irgendwann dämmert es den vom Lebensalltag getroffenen Menschen, neoliberale Politik unter verschiedenen Fahnen wählen, zieht eben folgerichtig neoliberale Politik zur weiteren Verschlechterung eigener Lebensverhältnisse nach sich. Ein Teufelskreis, der verschleiernd auch Demokratie genannt wird. Am Ende bleibt dann eben nur noch die Wahl zwischen Nichtwähler oder eben Rechtsaußenwähler. Beide Entwicklungen sind in Europa auf dem Vormarsch. So sieht die reale Welt aus. Dass diese angeblich volksnahen und für die kleinen Leute kämpfenden Rechtsaußen in Europa allesamt feste Glieder und Eckpfeiler des neoliberalen Gesellschaftsumbaus sind, überschreitet den Horizont von deren einfach manipulierbarer Wählerschaft. Davon profitieren diese Parteien und die neoliberalen Eliten. Nur zur Erinnerung. Nicht die Wähler haben Adolf Hitler mächtig gemacht, es waren zuvor die deutschen Konzerne, Eliten, Unternehmen, Banken, Medien und das Großkapital. Edmund Stinnes, Alfred Hugenberg, Alfried Krupp, Friedrich Flick, um nur einige zu nennen, hießen seine Steigbügelhalter. Das Bündnis Unfreiheit und Kapital wurde und wird bei Bedarf schneller geschlossen als eine Tasse Kaffee getrunken. Daran hat sich nichts geändert. Soll sich keiner Illusionen machen. Den Nährboden liefert dafür ausgerechnet ein angeblich demokratisches Politiklager, das die Interessen dieses Kapitals immer voranging, vor denen ihrer eigenen Wähler einordnet. Politiker der angeblichen Mitte aus Konservativen, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen veräppeln und betrügen damit latent eigene Wähler und verschlechtern deren Lebensverhältnisse, weil sie bewusst Politik für Eliten, Milliarde und Konzerne machen. Dafür erwarten sie vom gewöhnlichen Volk noch Dank an den Wahlurnen. Merkwürdige Realitäts- und schlimme Alltagsausblendung.

Europäischer Alltag. Arme werden ärmer und Reiche immer reicher. (Foto: Pixabay)

Es ist ziemlich offensichtlich, dass die westliche Form von Demokratie Anziehungskraft verloren hat. Der Westen rühmte sich stets belehrend und arrogant von oben herab damit, dass sein demokratisches Modell allen anderen Regierungsformen von Natur aus überlegen sei. Aber davon wurde in den letzten Jahrzehnten vieles als leere Rhetorik entlarvt. Ein ultimativer Test für die Demokratie und Garant für ihre Strahlkraft ist die Fähigkeit, den Lebensstandard der Menschen zu verbessern. Das ist es letztendlich, was Herzen und Köpfe gewinnt. Hehre Worte und ehrenvolle Staatsmodelle allein machen nicht satt. Als der Westen die Welt noch sehr deutlich dominierte, verlieh ihm wirtschaftliche und militärische Macht große Privilegien und Einflussbereiche in fast allen Regionen der Erde. Aber das verblasste immer schneller. Es waren vor allem die USA und Großbritannien, die ihren wirtschaftlichen Aufstieg zu Weltmächten in weiten Teilen der Sklaverei zu verdanken hatten. Freunde für andere und spätere Zeiten gewann man damit natürlich nicht. Mittlerweile wird der Westen immer öfter von ehemals hochnäsig belächelten Entwicklungsländern in den Schatten gestellt. Ihre Völker sind zunehmend optimistisch, die im Westen immer pessimistischer. Beispiel dafür ist China. In den letzten 40 Jahren hat die chinesische Politik und Wirtschaft den USA und Westeuropa den Rang abgelaufen. Ein veränderter und deutlich verbesserter Lebensstandard, das Ende der extremen Armut, sogar eine höhere Lebenserwartung als in den USA. Daher sitzt das chinesische Regierungsmodell mit Unterstützung der Bevölkerung auch fester im Sattel, als es dem Westen lieb ist.

China. In vier Jahrzehnten ein fundamentaler Wandel Richtung mehr Lebensqualität. (Flagge: Pixabay)

Nach 1945 hatte das Demokratiemodell des Westens noch eine gewisse Werbekraft. Die begann aber spätestens 1973 abzunehmen. Damals wurde in Chile, um nur den spektakulärsten Fall zu nennen, unter Federführung der USA eine Demokratie mit Gewalt abgeschafft und eine Militärdiktatur eingerichtet. Pure US-Interessen von Konzernen und Banken waren der Hauptgrund. Dafür tun die USA weltweit alles. Was heute Nordstream war damals Kupfer. Es ging dem militärisch-industriellen Komplex in Washington aber auch darum, in Chile ein erstes Land als Versuchslabor und Experimentierfeld für ein neoliberales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell unter Federführung der „Chicagoer Schule“ des neoliberalen Vordenkers Milton Friedman zu missbrauchen. Kann unser mit dem Namen Demokratie ausgestattetes westliches Modell, welches sowieso immer stärker wie eine Demokratur daherkommt und von den Menschen empfunden wird, den offenkundigen Niedergang überleben? Es sieht nicht danach aus.

Noch ein Nachtrag in Sachen des Landes, dem Europa und vor allem Deutschland blind und voller Gehorsam folgen, ohne die Frage nach dem wohin zu stellen. In der Ausgabe des britischen Guardian vom 21.09.2022 war in einem Artikel der Kolumnistin Arwa Mahdawi zu lesen:

Wie wurden die USA zu einem so schrecklichen Ort zum Leben? Das Land der Freiheit steuert auf den Status eines „Entwicklungslandes“ zu, basierend auf einem UN-Index, der die Lebensqualität bewertet. Wie nennt man ein Land, in dem fast jeder zehnte Erwachsene medizinische Schulden hat und ein gebrochener Knochen einen in den Bankrott treiben kann? Ein Land, in dem eine Stadt mit mehr als 160.000 Einwohnern kürzlich wochenlang kein sauberes Trinkwasser hatte? Ein Land, in dem die Lebenserwartung das zweite Jahr in Folge gesunken ist und arme Menschen ihr Blutplasma verkaufen, um über die Runden zu kommen? Ein Land, in dem die Müttersterblichkeit schwarzer Frauen in der Hauptstadt fast doppelt so hoch ist wie die der Frauen in Syrien. Sie nennen es eines der reichsten Länder der Welt.

*Titelbild: Mediamodifier auf Pixabay

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