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Regenwald, Steaks und eine Entschuldigung – Brasilien wählt

Im letzten Monat (08/2022) gewährte der Spiegel einem Putschisten – Michel Temer aus Brasilien – ein Interview, in dem dieser vor einem aktuellen Putsch in Brasilien warnen und erklären durfte, warum er dem politischen Ganoven Jair Bolsonaro zur Seite sprang. Michel Temer war übrigens einmal, was Bolsonaro noch ist, Präsident von Brasilien. Ins Amt gekommen durch einen kalten Behörden-Putsch gegen die gewählte linke Präsidentin Dilma Rousseff. Natürlich mit Beihilfe einer willfährigen Justiz. Was und wer sich alles vor und mit deutschen Journalisten ausbreiten darf, sofern es nicht politisch links verortet wird, erstaunt immer wieder. Temer und Bolsonaro verbindet, dass sie beide – der eine wie der andere – die Ausbeutung und Zerstörung des Amazonas als wirtschaftlich legitime Sache betrieben und betreiben. Damit einem der weltweit größten und gefährlichsten Umwelt- und Klimaverbrechen zum Wohl globaler Milliardenkonzerne Vorschub leisteten und leisten. Michel Temer wurde als Präsident per Mitschnitt erwischt, als er den Boss von JBS, dem größten Fleischkonzern der Welt, ausdrücklich bei dessen Schmiergeldzahlungen bestärkte. Temer intrigierte vorher als Vizepräsident Brasiliens gegen seine Chefin, die Präsidentin Rousseff. Er gehörte zu jener Gruppe innerhalb des Staates, welche 2016 mit Behörden, dem Justizapparat und der Parlamentskammer, einen kalten Staatsstreich organisierte, der keine Panzer aber Medien und Richter wie Staatsanwälte benötigte. Sie ließen sich finden. Dieser Putsch war letztendlich ausschlaggebend dafür, dass ein Demagoge, Umweltzerstörer, Rassist und Halbfaschist wie Jair Bolsonaro 2019 Präsident wurde. Er regierte Brasilien schnell wie ein Militärdiktator und brachte mit einer Justizkampagne, ähnlich der von Temers Gruppe gegen Rousseff, den ehemaligen linken Präsidenten Lula ins Gefängnis. Lula ist inzwischen frei und am 2. Oktober 2022 Gegner von Bolsonaro bei der Präsidentschaftswahl. Bei Umfragen liegt Lula deutlich vorn, was in Brasilien wenig heißt. Bolsonara wird auch ein Putsch gegen das Wahlergebnis zugetraut, so es ihm nicht genehm. Als der kalte Putsch die Präsidentin Rousseff absetzte, war deren Nachfolger Temer übrigens gleichermaßen in Washington, Brüssel, Peking und Moskau wohlgelitten, niemand störte sich. Fleisch vom Weideland, wo ehemals Regenwald zu finden, ist halt weltweit gefragt wie begehrt. Scheiß der Hund auf Klima, Umwelt und Putschisten, ein Steak ist ein Steak.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. (Bertolt Brecht)

Hier noch eine Karte, man könnte sie vielleicht „Steak-Ermöglichungskarte“ nennen, die zeigt, wie die Fläche des brasilianischen Amazonas-Regenwaldes schrumpft: Laut offiziellen brasilianischen Regierungsdaten sind im Amazonas-Regenwaldbiom in einem Jahrzehnt (2011-2021) durch Entwaldung ca. 6,7 Millionen Hektar Wald verloren gegangen:

In konservativen europäischen Medien, siehe z. B. die Neue Zürcher Zeitung, wird übrigens der linke Kandidat Lula mit dem Rassisten und Demagogen Bolsonaro wie selbstverständlich in einen Topf geworfen. „Extrem“ heißt die bekannte Diffamierung neoliberaler Propagandisten. So hat man schon aus Anlass französischer Wahlen Jean-Luc Mélenchon und Marine Le Pen verflochten, um den Linken Mélenchon zu bekämpfen. Neoliberale Propaganda im Gewand bürgerlicher Journalistenphrasen. Im sich dramatisch zuspitzenden Wahlkampffinale um die Präsidentschaft Brasiliens unterstützt die inzwischen wieder im politischen Kampf stehende Ex-Präsidentin Rousseff, den Kandidaten und Ex-Präsidenten Lula, dessen Energie- und Umweltministerin sie zwischen 2002 und 2010 war. Um die Ex-Präsidentin ereignete sich dieser Tage etwas, was wir nicht vorenthalten möchten. Geht es doch um Einsicht, Entschuldigung und vielleicht sogar ein kleines Stück Reue, etwas eher Seltenes im Alltag von Politik und Medien. Verursacht hat dieses Erstaunen der extrem populäre Brasilianer Felipe Neto, eine Figur aus der Social Media Welt, der mit 44 Millionen Abonnenten auf seinem YouTube-Kanal und 15 Millionen Followern auf seinem Twitteraccount eine große Masse Mensch erreicht und natürlich dadurch besonders bei jungen Brasilianern eine einflussreiche Plattform besitzt.  

Influencer und Social Media Star Felipe Neto entschuldigt sich bei Dilma Rousseff.

Ältere oder der Pubertät entkommene Menschen wundern sich auch in Brasilien, was ein Influencer so treibt und noch mehr, weshalb das jemanden interessiert. Wer viele Menschen erreicht, ist jedenfalls für allerlei Zwecke in Politik, Medien und Wirtschaft nutzbar. Das wussten auch die kalten Putschisten gegen Rousseff und bedienten sich des in ganz Brasilien beliebten Felipe Neto. Dieser Neto ließ sich von Brasiliens Eliten als nützlicher Idiot gebrauchen und fühlte sich noch gebauchpinselt. Er wurde zu einer Speerspitze im medialen Kampf gegen die gewählte Präsidentin und brachte jede Diffamierung und Lüge über diese an sein Publikum. Als Rousseffs Popularität in der Bevölkerung sank, wurde auch Neto daran ein gewichtiger Anteil zugeschrieben. Nun nahm Felipe Neto an einer Veranstaltung teil, wo er auf Dilma Rousseff traf und sich öffentlich und persönlich entschuldigte. Darüber gab er natürlich dann landesweit Auskunft:

Gestern konnte ich Präsidentin Dilma in die Augen schauen und um Vergebung bitten. Vergebung dafür, dass ich Pessimismus, die Putschistenreden und den Hass auf die Linke propagiert habe. Die Liebe, die sie mir im Gegenzug schenkte, ist etwas, das ich Ihnen gar nicht erklären kann. Es ist diese Liebe, die sich durchsetzen wird.

Außerdem forderte Neto viele klassische Medien, die sich über seine Tränen mokierten und ihn verspotten, weil er ja auch Konkurrent in ihrem Metier, über seine Kanäle auf, es ihm gleichzutun. Der einflussreichen Tageszeitung Folha schrieb er öffentlich:

Hallo Folha, ich denke, es lohnt sich, daran zu erinnern, dass ich vor allem wegen meiner Unterstützung des Putsches um Vergebung gebeten habe. Und wissen Sie was? Folha spielte meiner Meinung nach eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung des Staatsstreichs zu jener Zeit. Ich denke, Sie schulden ebenfalls eine Entschuldigung, ebenso wie die anderen Medien und die großen Sender.

Natürlich kann man einem Social Media Aktivisten auch den Drang und Hang nach Aufmerksamkeit unterstellen und unlautere Motive. Dilma Rousseff hat die Entschuldigung jedenfalls angenommen, der Wahlkampf von Lula dadurch natürlich nochmals positiven Schub bekommen. Man könnte fast von einer Win-win-Situation sprechen, was aber schnell zu einer unfairen Unterstellung mutieren kann. Daher soll abschließend noch darauf hingewiesen werden, diese Entschuldigung hat umgehend eine gigantische Hasskampagne des Bolsonaro-Lagers und vieler Konzernmedien nach sich gezogen. Der Präsident Bolsonaro hat Felipe Neto längst auf seiner Feindesliste, weil dieser wie Lula und Rousseff mittlerweile ebenfalls ein Kämpfer für den Regenwald ist und gegen dessen fatale Abholzung zu Felde zieht. Außerdem wirbt Neto bei seiner Klientel intensiv für den Kandidaten Lula. Hoffen wir, dass Lula am Sonntag in Brasilien gewinnt und sich das Bolsonaro-Regime dem Ende nähert, weil dessen Herrschaft und seine Umweltzerstörung unser aller Leben betrifft und längst schon bedroht. Was Menschen weit außerhalb von Brasilien, die genussvoll vor einem Teller saftiger Steaks sitzen, vielleicht nicht unmittelbar auf dem Schirm haben.

Saftige Steaks vor dem Weltuntergang und nach uns die Sintflut?

Weltweit haben wir inzwischen über die Hälfte des Waldes zerstört, der einst auf unserem Planeten blühte. Wir verlieren nicht nur die Tiere, die einst von und in Wäldern lebten, wir verändern auch das Klima auf der ganzen Welt. (David Attenborough)

*Titelbild: Fortschreitende Entwaldung des Regenwaldes in Brasilien für Weideflächen. (Foto: Screenshot Radio-Canada Info Dokumentation über die Zerstörung des Regenwaldes.)

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