Gesellschaft

Generale

Zwischen der ersten und zweiten Runde der französischen Regional- und Kommunalwahl lässt die Wahlbeteiligung im politischsten Land des Kontinents aufhorchen. 33,9 Prozent Wahlberechtigte gingen an die Urnen, 66,1 Prozent blieben völlig desinteressiert daheim. Man spürt die Sackgasse französischer Innenpolitik, deren Endpunkt sich natürlich auf Europa niederschlagen wird. Frankreichs Bürger wissen um ihre Kraft, so sie gelbe Westen tragen und einen Traktor auf der Autobahn quer stellen. Niemand baut enthusiastischer Barrikaden. Diesem Szenario folgen Franzosen ohne Proklamation, spontan und mit dem nötigen Zorn. Sie haben darin mehr Vertrauen als in Urnengänge, an deren Ausgang ihre Stimmabgabe doch nur umgemünzt oder gar missbraucht wird.

Die Regionalwahl ist selbstredend kein Testlauf, aber ein Vorbote. Im nächsten Jahr wählen die Franzosen ihren neuen Präsidenten oder die erste Präsidentin. Das Angebot kristallisiert sich heraus. Emmanuel Macron wird antreten, die zweite Amtszeit anstreben. Sein unbestreitbarer Verdienst besteht in der Erkenntnis, dass Frankreichs Parteienstaat sich überlebt hat und in der Umsetzung jener Schlussfolgerung. Diese Konsequenz brachte ihm Kandidatur und Präsidentschaft 2017 ein. Jung, eloquent und äußerst gebildet personifizierte er einen Aufbruch. Ein neoliberaler Investmentbanker bleibt dennoch immer ein neoliberaler Investmentbanker. Pomp und beeindruckende Reden nähren nicht den französischen Bauern und wärmen nicht die Häuser in den Großstädten. In Macrons Frankreich gehen Studenten an Essenausgaben für Obdachlose, weil sie sich selber nicht genügend Lebensmittel leisten können. Frankreich im Jahre 2021.

Aus Macrons Amtszeit bleibt noch sein Schröder-Moment haften. Er wollte Reformen auf den Weg bringen. Sozialabbau wird in unseren Breitengraden immer als „Reform“ tituliert. Hört sich irgendwie auch beruhigender und ungefährlich an. „Freund Hein“ war immer eine angenehmere Bezeichnung für den Tod. Fast einladend. Dieser Macron-Sozialabbauversuch scheiterte an den Franzosen der Unterschicht. Die zogen sich gelbe Warnwesten an und legten ein Land lahm. Manchmal regt sich noch der revolutionäre Furor der Sansculotten in Frankreichs Volksseele. Macron ruderte in weiten Teilen gezwungenermaßen zurück, seine zweite Amtszeit dabei fest im Visier. Die Franzosen suchen dennoch längst nach Alternativen. Allein es fehlt das Angebot.

Das zugespitzte Duell in der zweiten Runde 2022, welches dann über den künftigen Präsidenten entscheidet, wäre eigentlich Marine Le Pen von der konservativen und nationalen Seite gegen Jean-Luc Mélenchon aus dem linken und internationalistischen Spektrum. Eine echte Richtungswahl. Beide schleppen Lasten in den Wahlkampf. Le Pen kann Macron gefährden, besiegen wohl eher nicht. Das alte Front National Image bekommt man schwerlich aus den Kleidern. Mélenchon polarisiert bis in den letzten Winkel. Er wäre mit seiner rhetorischen Kraft wohl einem Danton oder Robespierre im revolutionären Konvent ebenbürtig gewesen, hat manchmal etwas von einem Jakobiner. Den Kopf des Königs hätte auch er sicher gefordert. Aber er schafft es nicht, die französische Linke auf den Punkt zu einen, wo jeder lieber sein eigenes Süppchen kocht. Dieses Mitterrand-Gen, die Kräfte gerissen zu bündeln, hat er nicht in sich. Seine Brillanz und sprachliche Wucht allein wird ihn nicht über die Hürden tragen. Das Duo Le Pen und Mélenchon elektrisiert nicht und läuft aufs kleinste Übel hinaus. Da wachsen sofort wieder Macrons Chancen. Der verkauft sich noch als Europäer, Le Pen und Mélenchon haben dagegen längst Brüssel als Hort allen Übels im Auge und Maßnahmen im Wahlgepäck. Die EU-Bürokraten fürchten sich zurecht. Ein Kanzler Laschet wird auf Macron setzen. In Le Pen oder Mélenchon wird er keine Tandempartner finden, sondern sich strecken müssen.

Der Kampf um den Élysée-Palast beginnt eher schleichend und nicht mit einem Fanfarenstoß. Kandidaten bringen sich in Stellung, schauen auf die Resonanz ihrer Kandidatur. Einer könnte noch spielend in das Präsidentenrennen gleiten und alles auf Anfang setzen. Ein General im Ruhestand. Pierre Le Jolis de Villiers de Saintignon. Kürzer: Pierre de Villiers, von 2014 bis 2017 Generalstabschef der französischen Streitkräfte, einer der besten Armeen der Welt. Pierre de Villiers trat 2017 von seinem Amt zurück, er wollte Einsparungen bei den Streitkräften nicht mittragen und geriet darüber in Konflikt mit dem Oberbefehlshaber, dem Präsidenten Macron. Der General a. D. genießt große Sympathien unter den Franzosen, hat einen tadellosen Lebenslauf und ist ein Sympathieträger. Er twittert nicht, er ist nicht in den sozialen Medien aktiv. Schon dafür mögen ihn viele Franzosen. In Interviews und seinen Veröffentlichungen, inzwischen zwei Bücher, zeigt sich ein charakterfester Mann mit Grundüberzeugungen und Charisma. Der Frage nach einer Kandidatur weicht er stets gelassen und mit viel Charme aus. Würde Pierre de Villiers antreten, trauen ihm viele Franzosen den zweiten Wahlgang und dort sogar einen Sieg über Macron zu.

(Foto: WikiImages auf Pixabay)

Frankreich ist mit Generalen oftmals gut gefahren. Joseph Joffre ließ sich mit seinen Armeen zu Beginn des 1. Weltkrieges nicht von den Deutschen überrennen. Er organisierte den Sieg an der Marne. Einige Jahrzehnte später hätte entscheidungsarmer Parteienhader Frankreich in seinem alten Kolonialsystem und vor allem mit und in Algerien untergehen lassen. Der Präsident und General Charles de Gaulle brachte die Kraft auf, aus Algerien abzuziehen. Die reaktionäre Terrororganisation OAS wollte ihn dafür mehrmals töten. (Frederick Forsyth schreib darüber 1972 den Thriller „Der Schakal“, schon 1973 kongenial von Fred Zinnemann fürs Kino verfilmt. Bis heute lesens- und sehenswert.) Vielleicht braucht es zwecks Entscheidungsfreude und Durchsetzungsvermögen einen ehemaligen General, um Krisen zu bewältigen und das Land nicht weiter zu zersplittern.

Der Nachfolger von Pierre de Villiers als Generalstabschef, Francois Lecointre, tritt, wie unlängst bekannt wurde, vor der Präsidentschaftswahl vorzeitig zurück. Es gibt Gerüchte, er und Macron wollen verhindern, dass Marine Le Pen, so sie die Wahl gewinnt und Lecointre in den planmäßigen Ruhestand geht, einen Generalstabschef ernennen kann. Sofort geht in Frankreich die Gerüchteküche an, auch dieser General wäre ein despektierlicher Präsidentschaftskandidat mit guten Aussichten. Lecointre kommt schneidig und beeindruckend daher, wie ein Marschall von Frankreich der Napoleon-Ära. De Villiers erscheint wie ein guter Hausvater, solide, vertrauenerweckend und freundlich, eine echte Respektperson. Beide sind also auch für jedes Duell in Sachen Bildsprache gerüstet. Wobei eine Kandidatur de Villiers greifbar, eine von Lecointre eher unwahrscheinlich. Beide wären nicht gerüstet in Sachen Parlament. Da fehlte ihnen, so sie anträten, jeweils die politische Gruppe oder Partei um auch in der Nationalversammlung eine Mehrheit zu bekommen. Aber Macron hat für solche Fälle mit „La République en Marche!“ bereits die Blaupause geliefert. Der Hang oder gar die Sehnsucht der Franzosen zu Ex-Militärs ist jedenfalls eine vernichtende Zeugnisausgabe für die politische Klasse Frankreichs und deren Hauptakteure. Es fällt im Ergebnis ähnlich dürftig aus wie die Wahlbeteiligung bei den Regionalwahlen. Auf die Abschlusszeugnisse im nächsten Jahr darf man also gespannt sein.

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