Gesellschaft

Gezänk am Abgrund

Sarah Wagenknecht, hervorstechende Persönlichkeit der Linkspartei im Abseits, dachte über den Zustand der Welt und das Wahlverhalten vieler Bürger hierzulande nach. Dieses legte sie auf die Waage der Alltagstauglichkeit von Politik und Phrase. Das Ergebnis landete zwischen Buchdeckeln. Die ehemalige Frontfrau der Bundestagsfraktion der Linken wird von Freund und Feind gleichermaßen als äußerst klug eingestuft. Sie innerhalb und außerhalb ihrer Partei an den Rand zu drängen, dabei keine persönliche Verunglimpfung und Durchstecherei auszulassen, war 2018/2019 ein großes Bündnis aus Medien, rechten und linken Zwergen in allen Parteien von erheblicher Zahl nötig. Seither ist sie dem Gatten Oskar Lafontaine oder der wandelnden One-Man-Show Gregor Gysi nicht unähnlich. Eher eine argumentierende Ich-AG als eine Parteikämpferin. Man kann es ihr nicht verdenken. Übel nehmen darf man ihr schon die Funktion einer Focus-Kolumnistin, so man die politische Richtung dieses Blattes vor Augen. Darin wieder Oskar Lafontaine nicht unähnlich, der sich problemlos wie beschämend der Bildzeitung andiente.

In ihrem Buch trifft Wagenknecht den Ton und tritt dem Zeitgeist und seinen Predigern auf die Füße. Das angeblich so heikle Thema Diskussionskultur sparte sie ebenfalls nicht aus. Ein mittlerweile rauf und runter zitierter Satz des Buches lautet: „Wenn auch die linksliberalen Akademiker unserer Zeit einsehen würden, dass sie kein Recht haben, ihren Lebensentwurf zum Maßstab progressiven Lebens zu machen und auf alle herabzuschauen, die anderen Werten folgen und eine andere Sicht auf die Welt haben, wäre viel gewonnen.“ Genau so etwas sorgt umgehend für vorhersehbaren Talkshowtrubel und dementsprechend heiße Luft. Der Satz ist richtig und auch falsch. Es gibt vielerlei Akademiker aus allen politischen Färbungen, die gerne auf andere herunter schauen. Bei Weitem kein linkes Alleinstellungsmerkmal. Wobei in Zeiten des Neoliberalismus Begrifflichkeiten wie links, rechts und Mitte längst zur puren Gesäßgeografie verkommen sind, weil nicht mehr zeitgemäß. Junge Leute können mit solchen Schubladen und Zuordnungen schon lange nichts mehr anfangen.

Lautmalerisch klingt es aktuell von Titelseiten, die Gesellschaft sei in Sachen Genderstern und Lebensstil tief gespalten in „Entdecker“ und „Verteidiger“. Wahlkämpfer und Parteien nutzen diese Spaltung und marschieren damit thematisch in die Bundestagswahl. Wie auf Bestellung liegt zum Thema natürlich eine passende Studie vor, wir sind schließlich im Land der revolutionären Bahnsteigkarte. Diese fasst jenen vorgeblichen Trend in Worte, welche dann von Experten medial aufgeblasen über unseren Köpfen flattern. Ziehen wir die Menschen ab, die berufsbedingt vor Mikrofone und an Pulte treten oder laut Arbeitsvertrag Seiten füllen und dabei täglich erklären, was die Deutschen so denken oder bitte zu denken haben, bleiben nicht mehr sehr viele Akteure an dieser Diskussion über.

Es gibt vor allem Menschen, die gar keine Wahl haben, ein progressives Leben zu führen. Weder als „Entdecker“ noch „Verteidiger“. Sie sind „Ausgeschlossene“. Nach Erhebungen der Bertelsmann-Stiftung leben im Durchschnitt 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 in Armutsbedrohung. Rechnet man bescheiden nur einen Elternteil dazu, welcher das Umfeld bildet und ebenfalls arm ist, haben wir schon 5,6 Millionen Menschen, denen eine Gendersterndebatte keine Erlösung bringt, die vom großen Spiel „progressiv leben“ per Armut ausgeschlossen sind. Nicht nur vom progressiv leben, sondern eben auch von abwechslungsreichen und gesunden Lebensmitteln, vor allem von Bildung. Ein neoliberales Glanzstück für eine führende Wirtschaftsnation.

Diese Menschen leben in einer Welt, wo ein gendergerechter Duden kein Thema und der Bio-Markt und vegane Kost nicht erschwinglich. Welche Bezeichnung ein Ketchup tragen muss, damit dieser politisch korrekt, ist bei knurrendem Magen ebenfalls kein sättigender Gedanke. Im Unterschied zum knurrenden Magen schafft es die Ketchup-Flasche allerdings spielend in jede Talkshow. Sarah Wagenknecht stört diese Verschiebung in Richtung Abseitsthemen, die eine notwendige Diskussion über soziale Unausgewogenheit, Renten, prekäre Arbeitsverhältnisse usw. in diesem Land immer weiter in den Hintergrund schiebt und unsichtbar macht. Es wird sich eben viel lieber um des Kaisers Bart gestritten, nicht um die Verhältnisse in seinem Reich. In NRW sind übrigens einige Mitglieder der dort völlig bedeutungslosen Linkspartei auf den Trichter gekommen, Sarah Wagenknecht aus der Linkspartei auszuschließen. Ihre Gedanken seien zu kühn und weit weg von der Parteilinie. Hat diese Linkspartei im Osten ihre Funktion als Kümmerer nachhaltig verspielt, so hat sie im Westen eher den Verstand verloren. Sektierer in ideologischer Verbohrtheit mit einer Menge Soziologengequatsche benehmen sich in der NRW-Linken, als hätte man die Weltrevolution gewonnen und könne nach Moskauer Muster Schauprozesse führen. Es fehlt noch ein Wyschinski und das Spektakel kann steigen.

Eine linke Kanzlerkandidatin Wagenknecht machte keinerlei Sinn und wäre selbst in ihrer Partei weder durchsetzbar noch gewünscht. Die Linkspartei steht am Abgrund, spült sich gerade im Klo der Geschichte selber herunter. Ins Trio Laschet, Baerbock, Scholz würde der Intellekt der Sarah Wagenknecht wie ein Fuchs in den Hühnerstall fahren. Welch erfrischender Gedanke. Wobei, im Volk hätte Wagenknecht auch keinen wirklichen Anklang. Wer analytisch denkt, ist auf deutschem Boden nicht wohl gelitten. Der letzte Zeitgenosse, der es sich auf dem Kanzlerstuhl noch erlaubte, war Helmut Schmidt. Er war dazu allerdings auch brillant in der Lage. Es brachte auch ihn in die Bredouille. Oskar Lafontaine, da könnte Sarah Wagenknecht am heimischen Küchentisch nochmals nachfragen, erklärte den Ostdeutschen en détail die Folgen der Währungsunion und der Einheit des Kohl-Weges. Die hörten ihm zu, hielten dann Schilder hoch „Helmut, nimm uns an die Hand, führ uns ins Wirtschaftswunderland.“ Nun ja.

Im Umgang mit Wagenknecht und dem angestrengten Versuch, diese in den eigenen Reihen klein zu halten oder final  wegzufegen, könnte man der Linken einen Satz von Talleyrand in Erinnerung bringen: „Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler!“ Weil die Linkspartei sich näher an Marx wähnt als an Talleyrand, sollte man diesem den Schlussvorhang lassen: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“

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