Gesellschaft

Im Sumpf der Worte

Der Baron Münchhausen konnte sich an den eigenen Haaren packen und aus Sumpf oder Wasser ziehen, worin auch immer er sich gerade geritten hatte. Sogar auf einer Kanonenkugel konnte er fliegen und noch vielerlei andere praktische Dinge mehr. Doch hier nichts von schweren Geschossen, was ja unweigerlich wieder bei schweren Waffen endet, sondern ein Nachtrag zu Annalena Baerbock und ihren unlängst in Prag gesprochenen Worten: „Wenn ich den Menschen in der Ukraine das Versprechen gebe: ‚Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht‘, dann werde ich diese Versprechen einhalten. Egal, was die deutschen Wähler denken. Aber ich werde die Menschen in der Ukraine wie versprochen unterstützen.“ Inhaltlich hatte GERADEZU sich damit schon im Beitrag „Eine Außenministerin blickt zu ihrem Horizont“ beschäftigt. Baerbocks Sätze zogen natürlich in der politischen Landschaft und bei Volkes Stimme ein weites Grollen, Freude und Wut nach sich. Befürworter und Kritiker gaben sich keine Klinke in die Hand, sie schlugen sich eher Türen auf den Kopf. ‚Faktenprüfer‘ und ‚Gut-Böse-Wächter‘ waren ebenfalls zur Stelle und behaupten nun, das Filmmaterial und damit die Sätze von Annalena Baerbock seien aus dem Zusammenhang gerissen und sogar manipuliert worden. Das Auswärtige Amt steht der Chefin bei und setzt dafür als Verteidigung die Züge „falsch interpretiert“ und „aus dem Zusammenhang gerissen“ auf die Gleise.

Außenministerin hin oder her. Wer Worte nicht im Griff hat, sollte diese besser wägen oder schweigen.

Wer sich die vollständige Aussage ansieht, stellt allerdings fest, der Inhalt bleibt wie verbreitet, ob nun Kurz- oder Langfassung. Wenn die Außenministerin in der Öffentlichkeit redet, diese Rede dann in allen Medien in Bild und Ton vorhanden, technisch nicht geschnitten, braucht es doch keine Interpretationsgeister, die dem Verbraucher, Wähler und Bürger erklären, was man sieht, hört und wahrnimmt. Es sei denn, die genannte Gruppe von Menschen, also jener Teil der Gesellschaft, der am politischen Geschehen noch teilnimmt, wird von denen, die sie bespielen, also Politik und Medien, mittlerweile ganz offen für dämlich gehalten. Weil dem offenbar so ist, serviert man diesen Dämlichen halt Erklärungen und Interpretationen. Wenn man erlebt und wahrnimmt, wie Menschen aller Arten sich in Sozialen Medien oder an der Wahlurne verhalten, kann man es Politikern und Journalisten nicht verübeln, so von den Leuten zu denken und daraus Schlüsse zu deren bequemer Lenkung zu ziehen. Samuel Beckett ließ schon 1952 in „Warten auf Godot“ seinen Estragon sagen: „Die Leute sind blöd.“ Wer will einem Nobelpreisträger widersprechen? Vom Nobelpreis zurück zur Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland. Zugegebenermaßen ein großer Sprung. Was nicht als versteckte Sympathiekundgebung für Mao zu verstehen ist.

Der Hort bürgerlicher und hochnäsiger Besserwisserei, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, warf auf die Gemengelage der Kritiker von Baerbocks Äußerung ein „Kreml jagt Annalena Baerbock“ und „Die Kampagne gegen Annalena Baerbock ist aus Russland gesteuert“. Das hat so viel Substanz wie die Überlegung, ob die FAZ Herausgeber nicht doch „The Three Stooges“ sind. Außerdem hat sich eine Art Totschlagargument gegen Baerbock-Kritiker etabliert. So Alice Weidel von der AfD und/oder Sahra Wagenknecht von der Linkspartei (Ist Frau Wagenknecht noch in der Linkspartei?) unsere Außenministerin kritisieren, ist dieses fast allen Medien inkl. vielen Twitter-Predigern Beleg dafür, dass Annalena Baerbock im unumstößlichen Recht. Alternativlos! Basta und fertig. Eine weiße Wand wird allerdings nicht zum blauen Vorhang oder gilt nicht mehr als weiß, nur weil Wagenknecht und Weidel weiße Farbe kennen. Völlig unabhängig, was man ansonsten von den Argumenten der einen oder anderen Dame hält, Kritik an Baerbock ist keine Majestätsbeleidigung oder macht aus dem Kritiker einen „Putin-Freund“.

Alte Medien. Graben zwischen Medien und Konsumenten wird tiefer. (Bild: Petra auf Pixabay)

Die diskutierenden Frontverläufe mitten durch Deutschland haben längst dramatische Formen angenommen. Das Wort Debatte in seinem guten Sinn fällt einem schon lange nicht mehr ein, wenn es auch ständig missbraucht wird. In den alten Medien, inklusive öffentlich-rechtlicher Rundfunk, die alle irgendwem gehören, ob nun Konzernen oder Parteien, die Dinge noch einordnend zu überblicken, ist kaum möglich. Dort werden durch Weglassungen, Einseitigkeiten und Übertreibungen Meinungen gemacht, aber keine klaren Informationen geliefert. So werden besonders im Ukrainekonflikt Sachverhalte über Meinungen verbreitet, welche „die Menschen draußen im Lande“, um bei einer Helmut Kohl Metapher Anleihe zu nehmen, immer weniger empfinden und wahrnehmen. Stampfen Politik und Medien den Kriegstanz und verkaufen dabei ihre Haltung „koste es, was es wolle“ als die Haltung der Bevölkerung, empfindet ein wachsender Teil des Volkes es immer öfter wesentlich anders. Viele sind der Meinung, es wäre für Medien und Politik an der Zeit zu erkennen, dass immer mehr Menschen jenes „koste es, was es wolle“, bald nicht mehr tragen können. Wenn Medien wie auf Bestellung Umfragen servieren, die ständig vermitteln, was die Menschen angeblich denken und wollen, diese Umfragen sich ebenfalls nicht mit dem eigenen Erleben, stinknormalen Alltagsdingen und konkreter Wahrnehmung von Politik decken, haben viele Leute die Nase voll. Besonders von den klassischen Medien, einst als Leitmedien unterwegs. Der Rang wurde ihnen abgelaufen. Den Verlust haben viele Redaktionen bis heute nicht verkraftet.

Von der Wahrheit bis zum Wahnsinn alles zu finden. (Collage: Chandana Perera auf Pixabay)

Wer seine Zuflucht dann auf diversen Social Media Plattformen nimmt, die alle im Besitz von Multimilliardären, könnte der Wahrheit und echten News etwas näher kommen, so er sie im Meer aus Wahnsinn, Sachverstand, Informationsflut und Unübersichtlichkeit findet und die Zeit zum Suchen hat. Dann eröffnet sich dem Nutzer zumindest eine Chance auf eine Vielzahl von Argumenten, die etablierte Medien mit ihrem Einheitsbrei nicht mehr bieten, sondern nur noch vorgaukeln. Doch wie gesagt, es braucht dafür Zeit und Geduld, etwas Wissen schadet auch nicht, um nicht der ersten und manchmal falschen Leimspur zu folgen. Beim Thema Ukraine sind die Gräben tief und ist die Sachlage angeblich klar. Von wegen. Wer ein Ukrainefähnchen in seinem Twitterprofil, der hält sich für gut und besser. Manche wähnen sich seit Kriegsbeginn sogar gleichermaßen strategisch und taktisch auf der Höhe und spielen Moltke vor Sedan. Darunter sehr viele, die offensichtlich eine Kesselschlacht nicht von einem Eierlauf unterscheiden können. Jene ohne Fähnchen stehen dagegen unter Generalverdacht, ausgewiesene „Putin-Freunde“ zu sein, vormals „Putin-Versteher“. Sachliche Gegenwehr ohne Fähnchen kaum noch möglich. Besagter Graben beim Thema Ukraine wird tiefer und tiefer. Bediente sich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer beim Nachdenken über eine Konfliktlösung der Worte „müssen den Krieg einfrieren“, war zu erleben, wie Teile der Social Media Blase über ihn herfielen, ähnlich den alten Medien. Sozusagen Hand in Hand den Pranger auf den öffentlichen Markt stellten. Dass die Wortwahl „einfrieren des Krieges“ ebenfalls von Richard Dannatt, dem ehemaligen Generalstabschef der britischen Armee, gebraucht wurde, fiel im Schlachtenlärm und Getöse weder den Prüglern noch dem Geprügelten auf. Es soll offensichtlich auch nicht sein, was nicht sein darf.

Längst werden politisch und gesellschaftlich mehr schlechte Worte gefunden als gute Ideen entwickelt. Willst du nicht mein Bruder sein, so schlage ich dir den Schädel ein, scheint das schreckliche Motto der Stunde. Argumente mittlerweile chancenlos. In Fragen von Krieg und Frieden wirkt sich das besonders negativ aus. Deshalb muss die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock endlich Diplomatie einüben und betreiben, aber nicht weiter der Selbsttäuschung erliegen, der Applaus der deutschen Hauptstadtpresse und derer Dienstherren sei ihr Kriterium für politisches Handeln. Aus der Hauptstadtblase bekam sie für ihre Fehlleistung natürlich Absolution in Form von „unglücklich formuliert“. Was sie bitte hoffentlich nicht als Bestätigung nimmt, in diesem undiplomatischen Stil fortzufahren. Ein Waffenstillstand oder gar Frieden in der Ukraine ist mit dem Budenzauber, den Annalena Baerbocks durch ihre wichtigtuerische Äußerung entfachte, jedenfalls kein Schritt näher gerückt. Baerbock hat allein angerichtet, was durch ihre geäußerte Meinung losgetreten wurde. Wir waren schon bei Beckett und seinem ‚Warten auf Godot‘. Vielleicht sollte sich Annalena Baerbock das Stück im Theater oder lesend gönnen. Hörbuchversionen sind verfügbar. Es lohnt die Mühe. Im Text sagt nämlich die Figur Wladimir etwas, was wirklich jedem Nachdenken in eigener Sache auf die Sprünge helfen kann:

So ist der Mensch nun mal: er schimpft auf seinen Schuh, und dabei hat sein Fuß schuld.

*Beitragsbild: Screenshot aus dem Film „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ von Regisseur Terry Gilliam (GB, 1988)

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