Wer eher klassisch unterwegs, seine Einkäufe nicht im Netz erledigt und sich an die Tür bringen lässt, der kann den Schock noch sehr direkt erleben. So man mit eintöniger Mattigkeit die Drogerie-, Super- oder Getränkemärkte durchstreift und den üblichen 08/15 Krempel in den Korb wirft, knallen einem die Preissprünge wie Gewehrkugeln um die Ohren. Was sich immer mit 1,99 € erwerben ließ, bietet sich plötzlich mit 2,29 € an oder kommt nicht mehr für 9,95 € aus dem Regal, sondern nur noch für 10,95 € und so weiter und so fort. Jede Ware, die in den Korb wandert, steht unter der Parole der Stunde. Deren Devise heißt plump und schlicht alles wird teurer. So man nicht schon an der Zapfsäule vom Schlag getroffen wurde, gibt’s die erhellende Backpfeife eben an einem profanen Kassenband. Geht oder fährt man dann mit diesem Kassenschock Richtung seiner vier Wände, könnte einem, weil die Brieftasche wesentlich leerer als geplant und erwartet, das große Grübeln zur Beschäftigung werden. Mit dem Preiswucher in der Einkaufstüte steigt der Gedanke an künftige Energie-, Heiz- und Nebenkostenabrechnungen sowie deutlich höhere Lebenshaltungskosten und verdirbt den Rest des Tages.
Niemand muss an der Supermarktkasse zum Philosophen werden, den ganzen Marx kennen oder John Maynard Keynes gelesen haben, um sich an eine schlichte und hinlänglich bekannte Erkenntnis zu erinnern. Vor unserer aller Augen geschieht einfach, was uns umgibt, purer und real existierender Kapitalismus. Für dessen neoliberale Ausformung war und ist selbst Krieg ein blendendes Geschäft. Die Zauberformel lautet Gewinnmaximierung. Dieser Neoliberalismus macht gerade sehr viele Menschen aktuell und in naher Zukunft wesentlich ärmer. Das Leben der Unterschicht bis in die Mittelschicht hinein beginnt sich zu verdunkeln. In der Folge wird eine kleine Gruppe erneut sehr viel reicher. Unverschämt reicher. Verarmung hier, Krisen- und Kriegsgewinnler dort. Das alte Lied der siegreichen Oberschicht klingt wieder lauter. Die sich darin tummelnden Multis sind in ihrem Selbstverständnis immer erst Milliardäre und Multimillionäre, nachrangig Menschen von unserem Schlag. Diese Eliten nur Oberschicht nennen, wäre arg untertrieben. Ihnen scheint die Sonne der Geldvermehrung gerade heller als je zuvor. Paradiesische Zustände allenthalben. Verderben und Krieg hatten zu allen Zeiten ihre Verlierer und Gewinner. In einer Gegenwart aus Pandemie („Maskendeals“) und Krieg (Rüstungsindustrie) hat sich daran nichts geändert. Im Gegenteil. Die einen im Elend, die anderen mit überquellender Kasse. Beispiel gefällig? Aber gern. Dabei soll eine Studie der Hilfs- und Entwicklungsorganisationen Oxfam aus dem Januar 2022 helfen.
Aus der Oxfam-Studie geht hervor, dass sich das Vermögen der zehn reichsten Milliardäre in Zeiten der Pandemie zwischen März 2020 und November 2021 verdoppelt hat, während zeitgleich mehr als 160 Millionen Menschen zusätzlich in die Armut gerutscht sind. (Kleine Anmerkung: Mehr als 760 Millionen Menschen leben weltweit in bitterer Armut. Sie kämpfen jeden Tag nur noch ums blanke Überleben. Jedes dritte Kind auf dieser Erde ist von sogenannter multidimensionaler Armut betroffen, also einem eklatanten Mangel an Nahrung, Wasser und Bildung.) Klingt nach gleißendem Elend und hat für viele nichts mit unseren Wohlstandssorgen zu tun. Weit gefehlt. Unsere Zahlen kommen gleich. Längst werden die behäbigen Bürger Europas verbal und nicht nur an der Supermarktkasse auf Notzeiten eingestimmt. Eliten, Medien, Wirtschaftslenker und Politiker beschwören dabei formelhaft die Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die längst in Licht und Schatten geteilt. Ihr da oben – wir da unten. Schauen wir uns auf dem Platz an der Sonne die kraftstrotzenden zehn reichsten Milliardäre in unserem Land an. Hier wirkt das verlogene Wir-Gerede vom Gürtel, den wir doch bitte in kommender Not alle enger schnallen müssen, besonders lächerlich und deplatziert. Zum propagierten Wir-Gefühl später mehr. Jetzt erst weiter mit der umfänglichen Oxfam-Analyse, den Milliardären und uns. Diese Studie beschäftigte sich natürlich sehr dezidiert auch mit Deutschland und stellte dabei fest: „In Deutschland nehme die sehr starke Konzentration der Vermögen ebenfalls weiter zu. Die zehn reichsten Personen hätten ihr Vermögen seit Beginn der Pandemie von umgerechnet rund 125 Milliarden Euro auf etwa 223 Milliarden Euro gesteigert. Somit um rund 78 Prozent. Dieser Gewinn entspreche annähernd dem Gesamtvermögen der ärmsten 40 Prozent, also von 33 Millionen Deutschen. Die Armutsquote in Deutschland erreiche derweil mit etwa 16 Prozent und mehr als 13 Millionen Menschen einen Höchststand.“ Wieder ein wunderbares Beispiel für eine Gemeinschaft und deren Wir-Gefühl.
Ein Sprecher von Oxfam Deutschland brachte es bei Vorstellung der Studie auf den Punkt: „Für Milliardäre gleicht die Pandemie einem Goldrausch. Regierungen haben Milliarden in die Wirtschaft gepumpt, doch ein Großteil ist bei Menschen hängen geblieben, die von steigenden Aktienkursen besonders profitieren. Während ihr Vermögen so schnell wächst wie nie zuvor und einige von ihnen Ausflüge ins All unternehmen, hat die weltweite Armut drastisch zugenommen.“ Der auf den GERADEZU-Seiten regelmäßig erinnerte Glaubenssatz des Multimilliardärs Warren Buffett von den Reichen, die Krieg gegen die Armen führen und diesen Krieg auch gewinnen, wird Tag um Tag, Stunde um Stunde immer wieder auf das Schrecklichste bestätigt. Sämtliche Zeiten überdauernde Worte und Wahrheiten sprachen einst nicht Milliardäre, sondern denkende Freigeister. Im Frühjahr 1834 prangerte der famose Georg Büchner, Dichter von „Dantons Tod“, in einer Flugschrift die Verschwendungssucht der Reichen und Mächtigen an und formulierte darin einen der großen Sätze der Menschheit: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Bewusst oder unbewusst ist Büchner damit nah am Neuen Testament und Lukas 12(49), worin Jesus in Betrachtung der Verhältnisse von Herr und Knecht fast revolutionärer Zorn zugeschrieben wird: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“ Ernst Bloch wies darauf 1967 in seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche eindrucksvoll und wortgewaltig auf diesen zornigen Jesus hin.
Die globale Pandemie hat Milliardäre reicher gemacht, als sie es je waren. Nun ist zusätzlich ein Krieg im Gange, der für diese Kaste der Superreichen nach dem Goldrausch noch den Kriegsgewinn bringt. Wer daran zweifelt, muss sich nur die Börse anschauen. Dort schießen die Aktienkurse sämtlicher Rüstungskonzerne in die Höhe, die Profite der Multis gehen durch die Decke. Glaubt ernsthaft jemand, dass Handels- und Versorgungsriesen, die ihre Kunden gerade schröpfen, ärmer werden und am Ende Geld verlieren, gar der Gemeinschaft dienen? Sie werden tun, was sie immer tun, sich in der Krise dumm und dämlich verdienen. Auch die Ölmultis werden an ihren Tankstellen nicht verarmen, sondern sagenhafte Profite einstreichen. Der große Rest, also die Art Gemeinschaft, welche keine Wahl hat gegen diese Vereinnahmung, das Millionenheer normaler Menschen, bekommt derweil keine Profite, sondern Erklärungen, warum der Gürtel künftig enger zu schnallen ist. Diese Worte helfen nicht und füllen keinen sich schneller leerenden Geldbeutel, aber sie klingen schön und staatstragend, sogar leicht patriotisch. Wer es meisterhaft versteht, den Eindruck einer Gemeinschaft zu erwecken, die sich in Gesamtheit nun warm anziehen und auf Einschränkungen einstellen muss, ist unser Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Er weiß Worte trefflich zu setzen, was sich dann wie folgt anhört: „Wir werden dadurch ärmer werden, die Gesellschaft wird es tragen müssen. Die Frage ist, wie wir das gerecht verteilen, aber dass es ohne Kosten für die Gesellschaft ausgeht, ist nicht denkbar! Der Preis ist aber im Vergleich zur Ukraine klein genug!“ Da ist es wieder: WIR!
Wir werden ärmer, da prognostiziert er richtig. Wir merken es schon. Zum „wir“ gehören die unteren Schichten und längst die Mittelschicht. Wer in seinen Ausführungen mit dem „wir“ nichts anfangen muss, uninteressiert weghört, weil nicht betroffen, erklärt Minister Habeck natürlich nicht. Wir ahnen es längst. Multimilliardäre, Multimillionäre, Ölgiganten, Handelsriesen, Rüstungsprofiteure, um einige aus der Oberschicht zu benennen, werden natürlich überhaupt nicht ärmer, sie werden extrem reicher. Diese elitäre Oberschicht in eine Gesellschaft (Gemeinschaft) hineinreden, die aktuell und künftig Kosten trägt, wäre eine schwere Verhöhnung derjenigen, denen Lasten allein aufgebürdet werden, die sie täglich längst auf ihren Schultern spüren und tragen müssen. Es gehört zur Redlichkeit und könnte Habeck ehren, wenn er diese Wahrheit ausspricht und offen anerkennt, dass die Superreichen wie immer nichts beitragen werden. An dieser Stelle müsste man Habeck nochmals vehement auf Oxfam und die oben erwähnte Vermögenssteigerung um 78 Prozent bei den zehn reichsten Deutschen hinweisen. Sicher liegt die Studie in seinem Haus vor. Bevor er erneut die Worte wir und Gesellschaft öffentlich einbringt, sollte ihm ein Blick in diese Abhandlung durchaus Aufklärung bieten. Dann würde er vielleicht schonungslos ehrlich von den kleinen Leuten reden, die künftige Lasten und Kosten allein zu tragen haben, deren Leben schlechter wird. Zugleich die Multimilliardäre und Multimillionäre benennen, die davon völlig unberührt weiter dem rapiden Anwachsen ihres Vermögens beiwohnen und sich um Worte wie Gesellschaft und Gemeinschaft einen Dreck scheren.
Armut beschämt nicht die betroffenen Menschen, Armut beschämt die Gesellschaft. (Ruth Dreifuss, ehemalige Schweizer Bundespräsidentin)
Natürlich soll den Multimilliardären und Multimillionären in ihrem schweren Leben aus Saus und Braus auch Gerechtigkeit widerfahren. Diesen Versuch hat das Springerblatt „Welt“ schon vor drei Jahren huldvoll in Angriff genommen. Hier ein Auszug, bei dem es sich tatsächlich nicht um Satire handelt: „In den USA oder bei den Briten genießen wohlhabende Leute ein hohes Ansehen. Und bei uns? Da wird das Reichsein mit Eigenschaften wie egoistisch, gierig und rücksichtslos verknüpft. Auch weil der gemeine Deutsche keine Millionäre kennt. Die Mehrheit der Deutschen hat ein überaus negatives Bild von den Reichen. Wer zu Geld gekommen ist, gilt hierzulande gemeinhin als egoistisch, materialistisch und rücksichtslos. Häufiger als andere Nationen werden in Deutschland die Superreichen überdies für viele Probleme der Welt wie Finanzkrisen und humanitäre Katastrophen verantwortlich gemacht.“ Hier schnappt der gemeine Deutsche nach Luft. Sobald er diese wiedergefunden hat, kommt ihm eine Idee. Man könnte doch einen Spendenfonds für Superreiche auflegen, woraus diese für die Herzlosigkeit entschädigt werden, die ihnen das gemeine Volk so entgegenbringt. Wem Springers „Welt“ noch nicht genug Kabarett bereitet, der kann gern noch in eine Ausgabe (2019) des Manager-Magazins schauen. Dort finden sich leidende Geschwister. Arm dran, auch sie. Susanne Klatten (Vermögen: 25,6 Milliarden US-Dollar) und der ärmere Bruder Stefan Quandt (Vermögen: 21,8 Milliarden US-Dollar) mit wunderbaren Sätzen für jedes Poesiealbum: „Viele Menschen denken, das Geld fliegt einem irgendwie zu.“ (Wenn es den Quandts doch nur zugeflogen wäre. Längst kennt man eben die ganze Geschichte und daher auch den ekelhaft braunen Teil.) Der schönste Satz im Gestrüpp des großen Leidens dieser Multimilliardäre, ein echtes Sahnehäubchen: „Wer würde denn mit uns tauschen wollen?“ Glaubt Minister Habeck wirklich allen Ernstes, solche verdrehten Leute werden irgendwann mit der Gemeinschaft Opfer bringen, ärmer werden, ein Teil von seinem WIR werden? Die Frage darf sich jeder selbst beantworten. An dieser Stelle verlassen wir die armen und bedauernswerten Reichen, bevor uns Mitleid und Tränen übermannen und springen nochmals in die Unwägbarkeiten der aktuellen Gesellschafts- und Weltlage.
Kleiner Mann, was nun? Keine Ahnung. Die Zukunft wird hart, weil teuer. Irgendwie ist immer noch Pandemie, so man den dafür erhobenen Daten glaubt und sehenden Auges durch den Alltag streift. Begriffe wie Hotspot (Hamburg wurde gerade zu einem erhoben.) und Inzidenzen geistern weiter berechtigt durch unser Leben. Es bleibt weiterhin klug sich im öffentlichen Raum mit Maske zu bewegen, wobei Klugheit nicht nur in dem Feld rapide abnimmt. Wie diese Pandemie sind der Klimawandel und die latente Zerstörung der globalen Lebensgrundlagen nur noch Randthemen. Kriegsgrauen, Kiew, die Ukraine und vielerlei Putin-Deutung haben längst thematisches Oberwasser. Der Krieg frisst nicht nur den Frieden. Der gesellschaftlich und politisch äußerst engagierte Fußballer Héctor Bellerín (Arsenal London/Betis Sevilla), in seinem Berufsumfeld damit eine große Ausnahme, fragte dieser Tage öffentlich, „warum Russlands jüngster Einmarsch in die Ukraine im Vergleich zu Konflikten in anderen Teilen der Welt größere Aufmerksamkeit in den Medien erhalten hat“ und nannte den Krieg im Jemen als Beispiel. Man könnte ihm zurufen, Medien haben eben ihre Prioritäten, Interessen und Geldgeber. Ihm noch den freundlichen Hinweis geben, dass er sich mit solchen Fragen momentan keine Freunde macht. Dieser politisch sehr wachsame Héctor Bellerín wird durchaus vernehmen, wie sich die Granden der Kommunistischen Partei Chinas und die weltweite Kaste der Multimilliardäre zeitgleich die Hände reiben und ihre Höhenflüge kaum fassen können. Beide, China und Milliardäre, ohne jede Frage schon jetzt die ganz großen Gewinner des Ukrainekonflikts. Diese völlige Absurdität von Gemeinsamkeit in Gang gesetzt zu haben, kann sich Wladimir Putin auf die Fahne schreiben, was das ganze Ausmaß seiner Fehleinschätzung offenlegt. Er war unfreiwillig, was den Sieg Chinas und den Profit der Multimilliardäre anbelangt, ein willkommener Diener dieser zweier Herren und darin erfolgreicher als mit seinem verfehlten Feldzug und der von ihm betriebenen und desorientiert wirkenden Politik. Am ehesten fällt einem in der Angelegenheit von Strategie und Taktik russischer Politiker und Militärs das Wort Chaos ein. Den Superreichen rund um den Erdball hat Russlands Vorgehen jedenfalls umfänglich in die Hände gespielt, wie diese es sich in ihren kühnsten Träumen nicht erhoffen konnten. Sie sind, wo sie immer sind und Putin so gerne wäre, auf der Siegerstraße der Geschichte.
Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier. (Mahatma Gandhi)
*Titelbild: Steve Buissinne auf Pixabay