Gesellschaft

Letzte Wahlkampfzuckungen

Der Spiegel-Autor Markus Feldenkirchen (Anm. 1), einer der besten Journalisten im Lande, der den Beruf kann und auch so ausübt, fand für den Wahlkampf die passenden Schlussworte, gesprochen in einer ZDF-Talkshow. Er attestierte dem Bundestagswahlkampf 2021 „Zeichen von Unreife und mangelnder Ernsthaftigkeit“, machte dies auch am „Versäumnis der deutschen Politik im Umgang mit dem Klimawandel der vergangenen Jahrzehnte“ fest. Für Feldenkirchen wurde „die Größe der Aufgabe auch in diesem Wahlkampf nicht erkannt“. Dann kommt er zu dem Fazit: „Auch wir Bürger, Beobachter und Journalisten sind Teil von dem Ganzen, wenn wir vergleichsweise Nebensächlichkeiten eine ganz große Aufmerksamkeit verleihen und dem, was die Megaaufgabe unserer Generation wäre, so wenig Raum beimessen.“ Auf den Punkt gebracht.

Planet am Abgrund: Im Wahlkampf nur Randthema.

Eines führte Feldenkirchen nicht aus. Über die gesamte Strecke des Wahlkampfes war eine grundlegende Regel der postmodernen Gesellschaft erneut allenthalben greifbar: „Was in den Medien nicht existiert, existiert auch nicht in der Wirklichkeit.“ So hat sich zum ewigen „früher“ trotz riesiger Technologie- und Informationssprünge gar nicht so viel verändert. Die alte, dumme und naive Binse „es stand in der Zeitung“ ist noch heute Denkkriterium vieler Menschen. Zeitung nur „bereichert“ durch Glotze, Internet, Twitter usw. Was dort nicht stand, ist den Menschen kaum Gedanken wert und kostet auch eigene Anstrengung. Jedenfalls dürfen nun jene Wahlberechtigten, ob gut, halb, ausreichend/unzureichend oder falsch bis gar nicht informiert, endlich zur Urne schreiten, ihre Stimme abgeben und aus dem Wahlkampf baldiges Koalitionsgeschacher machen. Was die abgegebene Stimme wirklich anrichtet, ist im Dickicht des deutschen Wahlverfahrens nicht so leicht zu erkennen. Nach Wahlkreis und Landesliste hat die Politik noch Überhangmandate und Ausgleichsmandate erfunden. Deren Wirkungsweise entzieht sich der großen Mehrheit der Bürger wegen Kompliziertheit und riecht nicht unbedingt nach lupenreiner Demokratie.

Medien im Rausch der Nebensächlichkeiten (Foto: Wolfgang Eckert auf Pixabay)

Hier sei wegen der eben gemachten Anmerkung noch einmal an das Mutterland der Parlamentsdemokratie erinnert. In Großbritannien hat man seinen Wahlkreis zu gewinnen, dann ist man im Parlament. Keine Hintertür, kein doppelter Boden, keine Nebeneingänge. Wer den Wahlkreis verliert, ist draußen. Ob prominent oder ein großer Name, dabei völlig egal. Ob zur Siegerpartei oder zu den Unterlegenen gehörend. Alles Nebensache. Einzig entscheidend ist der Sieg im Wahlkreis, der ohne Wenn und Aber erforderlich. Würde diese Regel hierzulande Geltung haben, viele der ewigen Parlamentarier mit jahrzehntelangem Sitz im Bundestag hätten diesen von innen nie gesehen und die daran hängenden üppigen Diäten niemals erhalten. Wir sind eben in Deutschland und müssen uns mit dem begnügen, was wir haben. Welches Farbspiel dabei herauskommt, werden wir bald sehen.

Palace of Westminster: Britischer Parlamentssitz (Foto: Dan Johnston auf Pixabay)

Der erfundene Linksrutsch hat die Konservativen nochmals thematisch beflügelt, wo sie selber kein Thema mehr haben. Was irgendwie ja zweifaches Armutszeugnis. Dazu Thomas Wieder, der Deutschland-Korrespondent von Le Monde in Berlin: „Faszinierend. Der CDU-CSU-Kampagne liegen keine positiven Ideen, keine Vorschläge zugrunde. Nur die Angst vor  den Roten.“ Vielleicht hätten Friedrich Merz und Kumpane einfach die jungen Menschen von „Fridays for Future“ befragen sollen, die heute überall auf den Straßen. Diese hätten thematisch aushelfen können. Aber Friedrich Merz hat anderes zu tun. Dessen „Team Merz“ twitterte unlängst ein Merz-Verjüngungsvideo, in dem Merz auf Jäger trifft und hinter einem Baum der Fuchs hervorlugt, kein Reineke, sondern einer mit billiger Helmut Kohl Stimmimitation. Dann sehen wir den heutigen Friedrich Merz, der anhand seines peinlichen Videos den Sprung von der analogen in die digitale Welt feiert, diesen mit dem Sauerland in Verbindung bringt. Und wieder die Jagd, diesmal umgeben Merz fröhliche Jägerinnen. Mit solch einer Innovationskraft muss man ja Bundeswirtschaftsminister werden.

Reineke Fuchs oder Helmut Kohl? (David Mark auf Pixabay)

Der SPD-Vize Kevin Kühnert kann mit Twitter wesentlich besser umgehen als das „Team Merz“, inhaltlich ist er nun allerdings bei Friedrich Merz gelandet. Für den am Wahlsonntag in Berlin zusätzlich anstehenden Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ kündigte Kühnert an: „Ich werde mit NEIN stimmen.“ Seine lustige Begründung: Selbstständige Handwerker, die nicht Teil der gesetzlichen Rentenversicherung wären in ihrer Altersversorgung gefährdet, weil diese „ein oder zwei Eigentumswohnungen aufbauen und auf die Erträge dieser Mieteinnahmen im Alter angewiesen sind.“ Was kennt der 1989 in Berlin (West) geborene Kühnert für Handwerker? Jedenfalls zahlt der neue Opportunismus sich umgehend aus. Rechte Medien feiern Kühnert als auf dem „Boden der Tatsachen“ angekommen. Früher haben vorgebliche Linke sich bei solcher Art Lob besonders geschämt, davor ist Kühnert längst gefeit, er hat höhere Ziele im Auge. Bei einem Sieg der SPD ist viel möglich für den Tempelhofer, bei einer Niederlage wird er ebenfalls nicht fallen. Vielleicht landet Kühnert am Ende in einer Koalition mit Merz unter den alternierenden Kanzlern Laschet/Scholz. Da könnten Merz und Kühnert sich dann auf einen Plausch mit historischem Rückblick einlassen, vielleicht auf der Regierungsbank. Thema gefährlicher Linksrutsch und niemals vollzogene rot-rot-grüne Koalitionen auf Bundesebene. Nach den Bundestagswahlen 2005 und 2013 hatten diese Farbgebilde nämlich Mehrheiten im Bundestag und unter Führung der SPD wäre eine Regierung möglich gewesen. Aber wenn Not am Mann oder der Frau kann sich der Konservative in Deutschland immer auf die Sozis verlassen. Regiert hat nämlich stets eine gewisse Angela Merkel. Und diese Tatsache hat weder Herrn Merz noch Herrn Kühnert jemals Freude bereitet. Wenn dieser gemeinsame Erinnerungsschreck verdaut, könnte Kühnert Merz ja mal zum Fußball bei Arminia Bielefeld mitnehmen und Merz dafür Kühnert zur Jagd ins Sauerland einladen. Vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Anmerkung 1: Im Jahr 2018 veröffentlichte Markus Feldenkirchen „Die Schulz-Story: Ein Jahr zwischen Höhenflug und Absturz“. Eine ausgezeichnete Wahlkampf- und Politikstudie, ein großartiges Menschenporträt und Sittengeschichte des deutschen Politikbetriebes. An Aktualität nichts verloren und weiterhin äußerst lesenswert.

*Titelbild: Gerd Altmann auf Pixabay

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