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Mineralwasser gegen Thermoskanne

Bei der Schach-WM in Dubai führt nach 8 von 14 vereinbarten Partien der Weltmeister Magnus Carlsen mit 5:3. Die zwei Siege des Norwegers gegen den russischen Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi werden von vielen bereits als Vorentscheidung betrachtet. Diesen Wettkampf, der bisher auf einem äußerst hohen Niveau verläuft, schon abzuwinken ist es dennoch zu früh. Schach hat in der Geschichte der WM Kämpfe zwischen Überraschung und Sensation vieles im Köcher gehabt und sogar einige Wunder fabriziert. Schauen wir nicht in die Glaskugel, sondern lieber auf den bisherigen Wettkampfverlauf.

Spektakuläre Spielstätte der Schach-WM in Dubai.

Die Spieler in der großen Bühnenbox hinter ihrer Glasscheibe wirken wie Rilkes Tiger. Davor edles, dann weniger edles Publikum an der Unterschiedlichkeit der Sitzgelegenheiten erkennbar. Ein Ausrufer wie bei einem Boxkampf steht neben Tisch und Brett, um die Spieler, den FIDE-Präsidenten und je Spieltag einen Prominenten anzukündigen, der den symbolischen Eröffnungszug macht, welcher von den Spielern meistens zurückgenommen wird. Während des Eröffnungsbrimboriums liest man in dem Gesicht des Weltmeisters und in dem des Herausforderers eine verständliche Gleichgültigkeit. Diesem Vorfeldtheater und dann natürlich jede Partie kann man Zug um Zug im Netz weltweit beiwohnen. Dafür liefern Dutzende Computer Analysen und Züge, neben den Computern wirken Schachkoryphäen. Diese ähnlich den Experten im Fußball angeheuert, gießen ihren Senf über das Geschehen, philosophieren, was die Computer meinen und die Spieler wohl denken. Der bekannteste Kommentator sicher der freundliche Viswanathan Anand, indischer Ex-Weltmeister, 2013 von Magnus Carlsen entthront. Die lebhafteste und interessanteste Kommentatorin ist allerdings die hochkompetente Judit Polgár, beste und stärkste Spielerin der Schachgeschichte. Wenn es dann endlich losgeht, kann man zwei Menschen im besten geistigen und körperlichen Alter beim Denken zusehen, wie deren Züge zunehmen und ihre Spielzeit abläuft. Der Weltmeister trinkt zum Spektakel profan aus einer Mineralwasserflasche, der Herausforderer kommt mit einer Thermoskanne nebst Becher daher. Die sich auf dem Brett entwickelnden Dramen sind selbst für Experten nicht immer erkennbar, der Laie staunt, schaut dann fleißig mit, was ihm die diversen Computer anbieten. Was dem Laien und Hobbyspieler auffällt, übergehen die Experten eher, es ist ihnen vielleicht zu profan.

Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi (Ian Nepomniachtchi).

Der Mann mit dem Dutt kennt Magnus Carlsen sehr gut. Er war immerhin schon dessen Sekundant bei einem WM-Kampf. Damit hatte er natürlich direkten „Zugang“ zum Schachgehirn des Magnus Carlsen. Für Jan Nepomnjaschtschi (Ian Nepomniachtchi) ist es dennoch der schwerere Gang, er muss den Weltmeister schlagen. Dieser Weltmeister Magnus Carlsen sagte unlängst, er brauche diesen Titel nicht. Wohl sogar wahr, ein legendärer Teil der Schachgeschichte ist er bereits, mehr geht darin nicht. Carlsens Titel scheint allerdings nach gespielten acht Partien mit heutigem Blick nicht in Gefahr. Bei sechs Remis fuhr der Norweger zwei Siege ein, es steht 5:3 für ihn. Wobei die ersten fünf Remispartien allesamt von beiden Seiten hohen Standard lieferten und nicht nur beiläufiges Geplänkel darstellten. Leichter ist es dadurch für Nepomnjaschtschi in den noch ausstehenden sechs Partien jedenfalls nicht geworden. Der Russe hielt anfangs gut mit, spielte mit Carlsen auf Augenhöhe. Dann zwei Niederlagen als nun schwere Bürde. Im Schach ist viel bis alles möglich. Nepomnjaschtschi soll verrückte Dinge drauf haben, die einen Gegner überspielen können. Allerdings hat er gegen Carlsen bisher eher die Sicherheit dem Risiko vorgezogen. Vielleicht zu wenig gegen diesen Gegner. Wo Carlsen dann für eher läppisch wirkende Züge einen Großteil seiner Zeit aufopfert, zieht Nepomnjaschtschi manchmal sehr schnell, wirkt dabei etwas übereilt und einen Tick zu selbstzufrieden. Carlsen spielt in Zeitdruck geraten, genauso präzise, als hätte er noch die Ewigkeit auf der Uhr. Da staunt der Laie nun wirklich. Schon diese Stärke macht den Weltmeister zu einem Ausnahmespieler. Zum Leidwesen seiner bisherigen Herausforderer ist es nicht seine einzige Stärke. Er kommt wirklich als ein universaler Schachspieler daher, darin ähnlich Boris Spassky. In der Eröffnung macht Carlsen dennoch manchmal sogar einen eher mäßig vorbereiteten, fast uninteressierten Eindruck, was allerdings auch Masche sein könnte. Die Tiefe, mit der Carlsen am Brett in jedwede Stellung eintauchen kann, die ist phänomenal. Darin ist er Nepomnjaschtschi überlegen. Wie er in der 5. Partie mit Schwarz im 29. Zug seinen Springer lange vorbereitet auf e6 stellte, der sich von diesem Feld fortan nicht mehr bewegte, von dort ohne jede Sorge die gesamte Verteidigung übernahm, war schon genial. Dennoch stand es nach fünf Wettkampfpartien 2,5:2,5, ein Erfolg für den Herausforderer.

In den ersten Partien der Herausforderer noch auf Augenhöhe mit dem Weltmeister.

Die denkwürdige sechste Partie in Dubai wurde zur längsten je gespielten Schachpartie in einem WM-Kampf. Der Beginn unspektakulär. Acht Stunden und 136 Züge später ging Carlsen als Sieger diese Partie vom Brett. Lange Zeit plätscherte man einem neuen Remis entgegen, dann wurde es spannender. Beide Spieler sahen in akuter Zeitnot eigene Gewinnchancen nicht. So etwas bleibt in den Kleidern hängen. Nicht so bei Carlsen, der kann einer verpassten Gewinnchance ungerührt den Versuch abgewinnen, eine neue Offensive zu starten. Was er tat und am Ende in Feintechnikerarbeit mit Turm, Springer und zwei Bauern über die Dame von Nepomnjaschtschi siegte. Hauptgrund war zu später Stunde der 130. Zug des Herausforderers, der seine Dame auf dem Brett fatal falsch platzierte. Den mühsam, aber stetig ausgebauten Vorteil wandelte Carlsen jetzt in ein sicheres Gewinnspiel um. Beide hatten Schachgeschichte geschrieben, Carlsen aber den Punkt. Der Weltmeister, so man ihn mal am Rand des Abgrundes hat, was Nepomnjaschtschi bisher nicht gelang, ist bis aufs Blut äußerst stahlnervig und findet fast immer eine Lösung. Ein weiterer Fixpunkt auf seiner Kladde von Stärken.

Schlussstellung. Weltmeister gewinnt längste Partie der WM-Geschichte. Judit Polgár beeindruckt.

In der nächsten Partie erholte man sich von der Vortagsschlacht, spielte Richtung Remis und ging dieses ein, sobald es vom Reglement erlaubt war. Die bisher letzte Partie Nr. 8 brachte Nepomnjaschtschi in die aktuelle 3:5 Rückstand-Bredouille. Als Nepomnjaschtschi im 9. Zug seinen Bauern auf h5 zog, dachte Carlsen für seine Antwort 40 Minuten lang nach. Dann lieferte er in seinem 10. Zug ein stilles Remisangebot durch Damentausch, was der Herausforderer ignorierte. Carlsen wollte offensichtlich sich und Nepomnjaschtschi nach der 6. Partie eine zweite Erholungspartie gönnen, hätte damit sogar auf seinen Weißvorteil verzichtet. Was erst wie Selbstbewusstsein und Siegeszuversicht und vor allem nach einem Plan des Herausforderers roch, wurde zu dessen Waterloo. Schon im 21. Zug unterlief ihm ein schwerer Fehler, den Carlsen aufnahm und sich daraus umgehend die Siegchance auf äußerst souveräne Art zurechtlegte. Nepomnjaschtschi hätte schon im 24. Zug aufgeben können, quälte sich und das Publikum durch seine öffentliche Schlachtung noch bis zum 45. Zug. Nach dem 46. Zug von Carlsen erfolgte dann die Aufgabe des Herausforderers. Diese Partie zeigte erstmals in diesem Wettkampf einen deutlichen Klassenunterschied. Man darf Magnus Carlsen nicht den geringsten Grund liefern, seinen Fuß in den Türspalt zu stellen, dann ist man chancenlos und er tritt ein. Sein Können und seine Kraft als Ausnahmeschachspieler scheinen noch ungebrochen. Carlsens anhaltender Spaß an Fußball und Basketball hält ihn weiterhin körperlich fit, lässt ihn am Brett selbst in schwachen Momenten, von denen er wenige hat, robuster wirken als sein Gegenüber.

Weltmeister Magnus Carlsen. Bei Reporterfragen stets skeptisch.

Am WM Ort und in der Schachgemeinde wird derweil schon über anderes geraunt. Am Horizont gibt es bereits die aktuelle Nr. 2 der Weltrangliste, den iranischstämmigen Franzosen Alireza Firouzja. Der 18 Jahre alte Weltklassespieler ist ein wahres Wunderkind des Schachs, wie es Bobby Fischer, wie es Magnus Carlsen waren. Geht er einen ähnlichen Weg, könnte er einmal Weltmeister werden. Viele spekulieren bereits über ein Gigantenduell Carlsen – Firouzja im Jahr 2023 und einen Machtwechsel auf dem Schachthron. Bis dahin fließt noch viel Wasser und gibt es eine Menge Partien zu spielen. Noch heißt der Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi und dieser hat immer noch eine Chance, dazu muss er ab der 9. Partie anders ans Brett kommen und risikofreudiger agieren. Auch die kleine Hoffnung des Teams Nepomnjaschtschi, Carlsen würde im Angesicht des Vorsprunges selbstzufrieden, gelangweilt und gar leichtsinnig werden, könnte sich in Betrachtung von dessen bisheriger Souveränität und seiner robusten Stabilität als trügerisch erweisen. Worauf Nepomnjaschtschi auch immer setzt. Gegenüber am Brett wartet so oder so ein bisher weltmeisterlicher Magnus Carlsen. Dessen Schachkreise nachhaltig zu stören ist offenbar eine Kunst, die bisher nur sehr wenige beherrschen.

*Titelbild und Beitragsbilder von Screenshots aus den Livestreams von Chessbase und Chess24.

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