Leben

Müde Friedenstaube

Der Flügelschlag der weißen Tauben wirkt kraftlos, der Schwung der Falken dagegen so lebendig wie eh und je. Frieden hat eine schwere Zeit dieser Tage. Das Ausmaß des russischen Angriffs auf die Ukraine hat der Autor dieser Zeilen unterschätzt und in diesem Umfang so nicht erwartet. Nun rücken russische Panzer laut Meldungslage tatsächlich Richtung Kiew vor. Man darf offensichtlich dem Wahnsinn von Cäsaren in seinem eigenen Denken nicht mit Ratio und Logik auf die Spur kommen wollen. Ob diese sich indessen Präsident oder Zar nennen ist dabei egal. Was an Informationen die Runde macht und belegbar, dass auch viele Menschen in Russland über die Reaktion und Handlungen ihres eigenen Präsidenten ziemlich entsetzt sind und dies auch öffentlich bekunden. Insofern muss man sich bei dem Reflex „die Russen“ in nächster Zeit etwas vorsehen. Es gibt noch andere Russen als die in Westeuropa auftretenden SUV Fahrer mit Goldketten oder die Oligarchen Englands. Eben jene im eigenen Land lebenden einfachen Russen, die man auch Volk nennen darf. Kaum ein Volk hat in seiner langen Geschichte durch die Schrecken des Krieges mehr erdulden müssen als die Russen. Insofern wissen die Russen vielleicht instinktiv, wie es nun einfachen Leuten in der Ukraine ergeht. Wegen Wladimir Putin sollte man also nicht alle 140 Millionen Russen mit ihm in ein Boot setzen.

Mutige Menschen protestieren in St. Petersburg gegen den Krieg.

Über die Vorgänge in der Ukraine weiß man trotz Bilder-, Kommentar- und Meldungsflut wenig, was in der Natur der Sache militärischer Konflikte und Kriege liegt. Meldungen von der Front haben immer wenig mit der Front zu tun, was man spätestens seit der berüchtigten wie lapidaren Heeresberichtzeile „Im Westen nichts Neues“ weiß. Erst Erich Maria Remarque füllte diesen Satz mit dem Entsetzen des Krieges. Was jedenfalls über dem Nachthimmel der Ukraine gespenstisch bunt flimmert und die Bildschirme beliefert, mag der Ästhetik moderner Spielkonsolen nahekommen und spiegelt doch nur die reale Welt in einer ihrer schlimmsten Formen. In den Worten von Clausewitz: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ (Der Satz hat fast 200 Jahre nach Veröffentlichung nichts von seiner entsetzlichen wie wahren Botschaft verloren.) Das aktuelle Vorgehen der russischen Armee wird schon mit dem Begriff „Blitzkrieg“ in Zusammenhang gesetzt. Ein Begriff aus der Schreckenskammer der Menschheit. Dazu eine Erinnerung. Im September 1941 eroberte die unaufhaltsam wirkende, blitzkriegende und mordbrennende Wehrmacht unter Hitlers Generalfeldmarschall von Rundstedt nach vielen Angriffswochen Kiew. Dann kam der November 1943. Die zweite Schlacht um Kiew. Die Rote Armee vertrieb die Deutschen und befreite Kiew von den Nazis. Nach der ersten und zweiten Schlacht von Kiew war von dieser Stadt nicht mehr viel übrig. Wobei hier ausdrücklich keine hinkenden Vergleiche aufs Brett gebracht werden sollen. Im 2. Weltkrieg standen sich im Osten Millionenheere gegenüber. Beide Seiten zusammengenommen fielen ca. eine viertel Million Soldaten in beiden Schlachten um Kiew. 1941 kamen in der ersten Schlacht ca. 660.000 Tausend Sowjetsoldaten in deutsche Gefangenschaft. Was nichts anderes als die Ausrottung durch Arbeit und Hunger bedeutete. Die Handvoll der Überlebenden, denen eine Rückkehr in die Heimat gelang, kamen umgehend in die Hände von Stalins Terrorapparat, wurden entweder gleich ermordet oder landeten im Gulag und kamen dort ums Leben. Niemand hat seine Helden je abscheulicher behandelt als die Russen.

Stadtbild nach der ersten Schlacht um Kiew im Jahr 1941.

Wo Krieg und Soldaten im Spiel sind, kommt die NATO als militärisches Bündnis qua Funktion in selbiges. Angeblich will der Nordatlantikpakt nicht aktiv in der Ukraine kämpfen. So jedenfalls deren Generalsekretär Jens Stoltenberg. Es wird vonseiten der USA und der EU auf ein umfängliches Sanktionspaket gegen Russland in den Feldern Wirtschaft und Finanzen gesetzt. Wie wirksam ist so etwas gegen reale Militärmacht? Es ergibt sich daraus umgehend eine profane Alltagsfrage. Werden Sanktionsmechanismen die hemmungslosen Bahnen der „mit Geld kann ich alles kaufen“ Oligarchen in London, an der Côte d’Azur oder in Berlin-Charlottenburg künftig eindämmen? Weniger profan der Hinweis auf die Atommacht Russland. Das Nuklearpotenzial der Russen wie das der USA könnte diesen Planeten höchstwahrscheinlich pulverisieren, uns Menschen jedenfalls ein Ende bereiten. Diese Tatsache steht bei ernsthaften Konflikten der Super- und Großmächte immer im Raum. Ein militärischer Aufprall von NATO-Truppen und russischen Streitkräften hätte durchaus den Zündfunken des 3. Weltkrieges in sich. So etwas weiß man in Washington, Moskau und Brüssel natürlich genau. Für diesen Ernstfall, der wohl einer Art Apokalypse nahekäme, ist vor allem Europa nicht gerüstet. Wir in Deutschland schon gar nicht. Es kommen die altbekannten Vermutungen hoch und die daraus resultierenden Zweifel. Jedes Jahr fließen um die 50 Mrd. Euro in die Bundeswehr. Nun äußern im Angesicht der Eskalation um die Ukraine mehrere von deren Führungskräften, dass Munitionslager leer seien, Flieger nicht aufsteigen können, Helme nicht vorhanden sind. Die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages kann nicht sagen, ob die Bundeswehr einsatzbereit ist. Der Inspekteur des Heeres sagt es unumwunden: „Die Bundeswehr steht blank da.“

Blick über das zerstörte Hiroshima nach Abwurf der Atombombe 1945.

Das Thema Ukraine beschäftigt natürlich den Kontinent Europa, in Afrika und Südamerika hat man andere Probleme, selbstredend diverse Kommentatoren aller Länder und Sprachen. In einem atemberaubenden Tempo haben die in Talkshows lebenden Corona-Experten ihre Sessel räumen müssen, auf denen nun Ukraine- und Putin-Experten neben militärischen Genies sitzen. Die Expertendichte Deutschlands zu allen Themen der Welt hält zwar nie einer Alltagsprüfung stand, fasziniert aber immer wieder aufs Neue. Vor allem die Universal-Experten, die zu allem mehrere Meinungen vortragen können, scheinen wie Pilze aus der Erde zu schießen. Glückliches Land. Schauen wir dennoch lieber über den nationalen Tellerrand.  „Es ist verrückt, sich vorzustellen, einen Krieg in Europa zu erleben“ titelt die französische Journalistin Julia Pascual in Le Monde ihren Artikel. Der britische Historiker und Kolumnist des Guardian, Timothy Garton Ash, sehr eindeutig: „Russland ist heute der größte Schurkenstaat der Welt. Es wird von einem Präsidenten kommandiert, der nach seinen hysterischen Tiraden in dieser Woche den Bereich des rationalen Kalküls verlassen hat, wie es isolierte Diktatoren früher oder später tun.“ Martin Jacques, der Chinaexperte unter britischen Journalisten, twitterte: „Die Invasion der Ukraine signalisiert das Ende der Ordnung nach dem Kalten Krieg. Es begann 1991 und endet 2022. Es gibt zwei Hauptgründe: 1. Russlands Unfähigkeit, mit seiner Demütigung fertig zu werden. 2. Das Scheitern des Westens, eine Lösung dafür zu finden.“

Wo wir schon bei China angekommen sind. Nach dem Angriff auf die Ukraine gab es wohl ein Telefonat des chinesischen Außenministers Wang Yi mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow. Darin soll China angeblich Verständnis für die „Sicherheitsbedenken“ Moskaus aufgebracht und den militärischen Angriff Russlands als „notwendiger Maßnahme“ eingeordnet haben. Die chinesische Lesart lautet: „Russland sei gezwungen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um seine Rechte und Interessen zu schützen.“ Leuchtet da gar eine Versuchsanordnung in Richtung Taiwan durch? Man mag solch ein Planspiel nicht zu Ende denken. Jedenfalls scheint das fragile Bündnis dieser beiden Mächte augenblicklich zu halten, die sich einst in Sachen reiner Lehre des Kommunismus und sehr konkret bei gegenseitigen Gebietsansprüchen spinnefeind gegenüberstanden. Heute eine Zweckgemeinschaft. Am Ende des Kalten Krieges hat der sich selbst frei nennende Westen, siegestrunken und ziemlich herablassend auf Russen und eben nebenbei auch verächtlich auf Chinesen geblickt. Damit ebnete man unbeabsichtigt den Weg zu deren Annäherung. Ein weiterer Beleg dieser Annäherung kommt ganz frisch auf den Tisch. Wladimir Putin teilte seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping am heutigen Freitag (25.02.22) in einem Anruf mit, „Russland ist bereit, hochrangige Verhandlungen mit der Ukraine zu führen.“ So berichtete umgehend das chinesische Fernsehen. Offensichtlich passt zwischen Russen und Chinesen augenblicklich kaum ein Löschblatt. Moskau und Peking ziehen politisch und auf dem Feld der Propaganda offensichtlich an einem Strang. Wie wollen und werden die USA, die NATO und EU darauf reagieren? Wie können sie überhaupt darauf reagieren? In der Politik rächen sich Versäumnisse und Fehleinschätzungen jedenfalls noch Jahrzehnte später. Was man in einigen Jahrzehnten über diesen aktuellen Konflikt um die Ukraine sagen wird, der auf Geheiß Wladimir Putins zum Krieg wurde, ist noch ungewiss. Geschichte schreiben oftmals nur die Sieger. Im Augenblick sind solche nirgends auszumachen. Es sind schon jetzt auf allen Seiten eher Verlierer erkennbar. Unter diesen Verlierern scheinen Frieden, Leben und Menschlichkeit wieder einmal hingestreckt und besiegt.

Am Ende aller Kriege zählt man die Toten. (Foto: Pascal Ingelrest von Pexels)

Im Gedenken an die Kriegstoten, die in ihren Gräbern und für jene, die ihnen folgen müssen zwei Strophen aus „An die Nachgeborenen“ von Bert Brecht:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

*Titelbild: Artem Podrez von Pexels

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