Gesellschaft

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Emmanuel Macron der deutliche Sieger. Marine Le Pen die eindeutige Verliererin. Die Wahl endete wie erwartet. Am Eindruck des Geschehenen auf die Welt, Europa und das Universum wollen wir uns hier bewusst nicht beteiligen. Da wird das deutsche Medienpublikum dieser Tage noch ausreichend benebelt, man könnte auch sagen macronisiert. Schauen wir derweil lieber auf Frankreich und nicht in den Himmel. Der Schwerpunktblick soll nach innen gehen. Der alte ist also der neue Präsident. Wie nun weiter? Die Frage geht durch Frankreich wie durch die politischen Lager. Durchmarsch des Neoliberalismus mit entsetzlichen Folgen für Millionen von Menschen oder eine linke Gegenkraft, die sich in ihrer Gesamtheit endlich der Verantwortung für Frankreich bewusst wird? Eine Antwort am Wahlabend nicht möglich. Eine Formel machte die letzten Tage die Runde durch Frankreich. „Sonntag haben wir Le Pen geschlagen. Montag kämpfen wir gegen Macron.“ Dem Außenstehenden zeigt sich das politische und gesellschaftliche Frankreich momentan ziemlich diffus. Am heutigen Sonntag wurde also Le Pen verhindert, indem Macron gewählt wurde, der fünf Jahre lang für den Aufstieg von Le Pen und ihrer Ideen mitverantwortlich, sie zumindest begünstigt, einige ihrer Parolen sogar übernommen hat. Und ab dem morgigen Montag kämpfen diese Le Pen verhindernden Macron-Wähler gegen Macron, den sie eben wiedergewählt haben, um der extremen Rechten im Land entgegenzutreten, die Macrons Politik mit förderte. Und so weiter und so fort. Diese Gemengelage als verwirrend zu bezeichnen, ist noch zurückhaltend formuliert.

Einer feiert jedenfalls, der alte und neue Präsident. Er hat allen Grund dazu. Seine mitfeiernden Anhänger allein werden ihm allerdings nicht verschaffen können, was jeder Präsident anstrebt, die Mehrheit bei der Parlamentswahl. Nur so lässt sich das Land nach eigener Façon auf den (neoliberalen) Kopf stellen. Dafür sind die Macron-Parteigänger zu wenige, so schön die abendliche Partystimmung in Paris auch daherkommt und die Fantasie der Sieger befeuert. Viele Macron-Wähler des zweiten Wahlgangs werden bei der Parlamentswahl nicht für Macron votieren. Das Feindbild Le Pen ist im politischen Betrieb weiter zu finden, wird darin auch aktiv bleiben. Als Macrons Wahllokomotive für seine Zwecke ist sie allerdings vom Gleis.

Stimmabgabe. Er wird sich wohl auch selbst gewählt haben. Sieger Macron. (Foto: Twitter Macron)

Wie 2017 wird Macron und sein jubelnder Anhang natürlich sämtliche Stimmen für sich nicht als republikanische Bürgerabwehr gegen Le Pen, sondern als eindeutiges Votum für seine Person und seine neoliberale Politik auffassen und interpretieren. Wer wollte es ihm verdenken? Mit diesen Stimmen wird er sich die nächsten fünf Jahre aufmachen wollen, den Neoliberalismus der zynischen und menschenverachtenden Spielart seines ideologischen und wirtschaftspolitischen Mentors Klaus Schwab (Great Reset) knallhart in der französischen Gesellschaft zu zementieren. Dieses zu verhindern, gibt es nur noch eine Chance, die Parlamentswahl im Juni. Sie wird das Kampffeld um Frankreichs Zukunft. Bekommt Macron mit seinen diversen rechten und konservativen Koalitionsoptionen die Mehrheit, hat der Neoliberalismus in der Spielart Macronismus freie Fahrt und gewonnen. Nicht mehr, nicht weniger. Enorme Verantwortung für die Linke. Wie linke Politiker Verantwortungsbewusstsein für ein Volk und ein Land an den Tag legen, könnten die europäischen und eben auch die französischen Linken bei Chiles Präsident Gabriel Boric und bei Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador lernen. (Andrés Manuel López Obrador und Jean-Luc Mélenchon sind übrigens persönliche Freunde. Früher benutzte man noch das schöne Wort Kampfgefährten.) Mélenchon wird, da sind sich seine Freunde und sogar seine Feinde relativ einig, in den nächsten zwei Monaten, was er schon bis zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl und in den letzten fünf Jahren war, der Hauptgegner von Macrons Politik. Was die Gelbwesten auf der Straße weiterhin sind, bleibt Mélenchon in der Politik.

Stimmabgabe. Mélenchon, Kopf und Anführer der Volksunion. Keine Stimme für Le Pen und Macron nicht wählen. Was war also in seinem Umschlag? (Foto: Twitter JLM)

Schauen wir nun zu Macrons widerstandsfähigsten Gegnern, diesen bewundernswerten Gelbwesten und lassen einen Franzosen aus ihren Reihen zu Wort kommen. François Boulo, ein Anwalt, der die Unterprivilegierten in sozialen Fragen vertritt und zu den Sprechern der Gelbwesten-Bewegung gehört, außerdem Autor eines Buches zum Thema bürgerliches Engagement ist („Die Macht zurückerobern: Handbuch der politischen Emanzipation“), twitterte am Wahltag etwas Richtung naher Zukunft: Wenn Sie den Medien und den Experten zuhören, ist die Präsidentschaftswahl bereits entschieden. Macron wird Frankreich bis 2027 weiterhin beherrschen. Es ist falsch! Es ist eine Manipulation, eine Falle, in die leider viele mit beiden Beinen tappen. Die Eliten wollen, dass sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Präsidentschaftswahlen richtet. Denn im Falle eines Sieges Macrons ist es für ihn essenziell, die Anhänger seiner Gegner bei den Parlamentswahlen zu demobilisieren. Viele wissen es nicht oder haben es vergessen, aber es sind die Parlamentswahlen, die die Zusammensetzung der Regierung und damit die umgesetzte Politik bestimmen. Unter der Fünften Republik wählt der Präsident den Ministerpräsidenten und die Minister nur dann nach eigenem Ermessen, wenn er in der Nationalversammlung über eine Mehrheit verfügt. Das bedeutet konkret, dass wir Macron die Zusammenarbeit aufzwingen können, wenn es dem Oppositionslager gelingt, bei den Parlamentswahlen ausreichend Wähler zu mobilisieren. Im Falle einer erzwungenen Zusammenarbeit und im Gegensatz zur „normalen Situation“ wird der Präsident weitgehend seiner Befugnisse beraubt, er kann weder Verordnungen erlassen, noch den Ausnahmezustand verhängen oder den Verteidigungsetat selbstständig erhöhen. In einer Situation der vom Wähler erzwungenen Zusammenarbeit ist es tatsächlich die Regierung, die sich aus der Mehrheit in der Nationalversammlung ergibt, und sie allein „bestimmt und leitet die Politik der Nation“ (Artikel 20 der Verfassung). Im Jahr 2017 war die Wahlbeteiligung bei der Parlamentswahl erschreckend niedrig. Denken Sie daran: Es reicht aus, die Wahlbeteiligung um nur 2 % zu erhöhen, um Macron in einen Wahlkampf zu zwingen. 2 %! Es ist wirklich nicht viel! Verbreiten Sie also die Botschaft um sich herum: Wenn Sie Macrons Politik nicht länger unterstützen, müssen Sie, was auch immer passiert, an den Parlamentswahlen teilnehmen!“

Unmittelbar nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses meldete sich François Boulo nochmals auf Twitter zu Wort:

Heute Abend behauptet Macron, dass er die Menschen zusammenbringen wird. Aber niemand lässt sich täuschen. Ab morgen wird er seinen Krieg gegen das französische Volk fortsetzen.

Wachsam. Politischer Faktor in Frankreich. Die Gelbwesten. (Foto: Twitter AFP)

Bei allen linken Planspielen und hehren Absichten. Der Weg zu einer linken Regierung und einem Ministerpräsidenten Mélenchon als Macron-Gegengewicht ist extrem weit. Weil dem so ist, sollte über das Macron-Lager hinaus gerade die rechte Seite der politischen Landschaft von den linken Kräften besonders im Auge behalten werden. Die rechten Heroen Marine Le Pen und Éric Zemmour wurden besiegt. Sie werden allerdings politisch aktiv bleiben, ihre Wählerschaft weiterhin ein Faktor sein. Der rechts-nationale Block wird um seine letzte Chance wissen und aus der aktuellen Enttäuschung erwachen, um die Parlamentswahl als politischen Gegenschlag zu organisieren, in der Nationalversammlung Einfluss und vielleicht sogar Macht zu bekommen. Frankreich mag nach außen durch die Wahl Macrons für oberflächliche deutsche Betrachter, die ihr Frankreichbild eindimensional über Brüssel und Berlin definieren, beruhigt wirken. Bei deren Betrachtung liegt leider zu wenig Augenmerk auf die Franzosen. Im Innern zeigt sich ein Land, in dem gesellschaftliche Gräben weiter aufreißen und es an vielen sozialen wie politischen Brennpunkten vernehmlich brodelt. Ausbruch nicht ausgeschlossen. Daher könnten die französischen Wähler bei der Parlamentswahl am 12. und 19. Juni 2022 durchaus Geschichte schreiben. Wie immer in solchen historischen Fällen, mit der Möglichkeit eines guten wie schlechten Verlaufs.

Noch etwas für die Statiker und Zahlenfreunde (Quelle der Journalist Edwy Plenel von Mediapart/Frankreich.):

Mit 37,9 % der registrierten Wähler ist Emmanuel Macron der am schlechtesten gewählte Präsident der Fünften Republik, gleich nach Pompidou ein Jahr nach der Mai-Juni-Bewegung 1968. Fast zwei von drei Franzosen haben nicht für Macron gestimmt.

Das Schlusswort soll nun an Maxim Gorki gehen:

Frankreich! Du warst der Glockenturm der Welt, von dessen Höhe einstmals über die ganze Erde hin drei Glockenschläge der Gerechtigkeit hallten, drei Schreie erklangen, die den jahrhundertelangen Schlaf der Völker aufweckten – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

*Titelbild: Le Monde (Twitter)

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