Gesellschaft

Vertwittert zwischen Wiener Kongress und Versailles

Heute steigen wir einem merkwürdigen Trio hinterher. Es gibt Gründe dafür. Alexander Gauland, Ricarda Lang und Omid Nouripour haben unseren Blick auf sich gezogen. Vor nicht langer Zeit hätte man noch von einem Rechten und zwei Linken gesprochen. Solcher Art politische Gesäßgeografie hat seine Gültigkeit mittlerweile verbraucht, die Zeitläufe der letzten Monate haben alte Gewissheiten in Politik und Gesellschaft über Bord geschmissen. Schauen wir also hin, was uns vom genannten Trio in der vergangenen Woche geboten wurde. Es begann im Parlament und setzte sich auf Twitter fort. Natürlich im Bundestag genau die Thematik, welche der Kriegs- und Frontverlauf in der Ukraine vorgibt. Es ging – wen wundert es – um „schwere Waffen“. Am 28.04.22 debattierte der Bundestag über die Lieferung dieser an die Ukraine. Eine übergroße Mehrheit aus SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU stimmte dafür. Die Linke stimmte geschlossen dagegen und auch die meisten Fraktionsangehörigen der AfD stimmten gegen die Lieferung dieser „schweren Waffen“. Jene, welche Schlagzeilen, Debatte und Aufgeregtheit der letzten Wochen zu diesem Thema noch im Kopf, werden sich über das Abstimmungsergebnis nicht arg gewundert haben und gingen dann wahrscheinlich wieder zu ihrem Tagwerk über, sofern sie sich von diesem haben ablenken lassen. Wie immer gibt es vor, während und nach solchen Auseinandersetzungen ein vernehmliches Rauschen von Medien und Privatmenschen, ob nun Journalist, Student, Maler oder Politiker. Twitter macht es möglich, die Social Media Blase stellt dafür den lauten Echoraum. (Wobei Journalisten und Politiker natürlich nicht völlig unter die Formel privat fallen. Sie tun nur so.)

Dummheit gilt in der Twitterblase nicht als Hinderungsgrund. (Collage: Gerd Altmann auf Pixabay)

So man nicht zu den Beobachtern oder Zuhörern der Bundestagsdebatte gehörte, wurde man auf diese im Nachklang förmlich gestoßen. Twitter machte es möglich. Dort erfuhr die Welt, dass im Bundestag eine Ungeheuerlichkeit geschehen sein musste. Dabei ging es um Alexander Gauland und seinen Redebeitrag in der Debatte des Tages. Wir alle, die wir Gaulands Ausführungen nicht verfolgten, wurden wenig später nämlich von zwei Bundestagsabgeordneten, die im Nebenjob das neue Vorsitzenden-Duo der Partei Bündnis 90/Die Grünen bilden, auf dessen Rede intensiv aufmerksam gemacht. Gemeint sind Ricarda Lang und Omid Nouripour, gewichtige Politiker auf der Berliner Bühne, immerhin Parteispitzen, Mitglieder des Bundestages und Teilnehmer im Koalitionsausschuss. Damit ist unser Trio nun vollständig auf der Szene. Was war geschehen? Zuerst kam eine doppelte Twitter-Empörung des Tandems Lang/Nouripour über uns. Diese offenbar in heißblütiger Rage entstanden wie getippt. Sonst hätten die Finger von Frau Lang sie beim Wort Revisionismus nicht kurz im Stich gelassen. Gerade bei Aufenthalten in der Social Media Blase neigen flinke Finger über Tastaturen zu fliegen, bevor sich Dinge im Kopf sortiert haben. Ein weitverbreitetes Phänomen unter Twitter-Freunden, die sich immer öfter vertwittern. Hier nun beider Originaltext:

Ricarda Lang: Wenn  #Gauland im Bundestag behauptet, dass Frankreich die Schuld für den zweiten Weltkrieg trage, ist das ekelhaftester Revisionsismus. Diese Partei ist eine Schande für die Demokratie. #AfD Omid Nouripour: Gauland hat gerade im #Bundestag erklärt, Frankreich sei Schuld am Ausbruch des zweiten Weltkriegs gewesen. Das ist kein Populismus mehr, das ist Revisionismus und schlichter Relativismus der deutschen Verantwortung für die schlimmsten Verbrechen der Geschichte. #Nazisraus

Grün symbolisierte einst Leben, Natur und Glück, auch Unreife und Gift. Nun noch die Dummheit und Lüge? (Foto: Illmicro, pixabay)

Solch Inhalt empört auf den ersten und macht auf den zweiten Blick ärgerlich, etwas neugierig oder stößt nur ab. Gauland hatte schließlich die 12 Nazijahre als Vogelschiss in der deutschen Geschichte abgetan, man könnte daher impulsiv geneigt sein, bei so einem sofort „typisch“ zu raunen und jene offenbar neue Entgleisung mindestens als unsäglich zu bezeichnen. Beides hat sich der verprellte Konservative, der Gauland ist, selber eingebrockt. Begibt man sich nun also in böser Vorahnung auf die Straße der Lang/Nouripour-Empörung, landet man allerdings in einer Sackgasse, weil man einer völlig falschen Wegbeschreibung vertraute und folgte. Es lässt sich bei Ansicht des Gauland-Beitrages schnell erkennen, dass man schlicht und ergreifend vom grünen Duo belogen und getäuscht wurde. Dabei fallen einem zusätzlich die fehlenden Geschichtskenntnisse von Lang/Nouripour ins Auge. Wären welche vorhanden, hätten sie nicht diese Fehlinterpretation in den Raum geblasen. Man kann hier auch von einer Lüge reden. Beide bliesen etwas auf, um Stimmung zu machen und dachten nicht die Bohne darüber hinaus.

Was aufgeblasen, kann auch platzen.

Offensichtlich bezogen sich das Polit- und Twitterduo der Grünen auf Gaulands Vergleich Wiener Kongress (Er nannte es Wiener Ordnung.) und Versailler Vertrag. Was Gauland da beschrieben hat, ist nicht falsch und lässt sich ähnlich in Nachbetrachtungen zu Versailles sogar bei den Machern dieses Vertragswerkes finden. US-Präsident Woodrow Wilson war zutiefst frustriert, seine Friedensordnung (14 Punkte Plan), die er als Lebenswerk sah, nicht durchgesetzt zu haben, weil er am Hader und Zwist der Europäer scheiterte. Selbst dem unnachgiebigen britischen Premierminister David Lloyd George ging der verständliche Zorn des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau gegen die deutschen Kriegsverursacher zu weit. Er hinderte Clemenceau dennoch nicht und zog lieber seinen Nutzen für das Empire. Am Ende waren weder Sieger noch Besiegte mit dem Versailler Vertragswerk zufrieden, die große Chance auf eine stabile Friedensordnung war kleinlich vertan. Der Graben zwischen Frankreich und Deutschland war noch tiefer geworden. (Erst einen grausamen Weltkrieg später schaffte es Charles de Gaulle im Zusammenspiel mit Adenauer diesen Graben friedlich zuzuschütten.) Anders als Versailles stellte sich der Wiener Kongress hundert Jahre zuvor auf. Zar Alexander I., der Brite Lord Castlereagh und der Habsburger Metternich, die Sieger über Napoleon, wussten den Dauerkrieg in Europa zu beenden und dennoch das geschlagene Frankreich einzubinden. So reaktionär ihr Europa der Könige auch aufgestellt wurde, sie schafften den Krieg für eine gewisse Zeit zu überwinden und neue Konflikte vorerst im Zaum zu halten.

US-Präsident Wilson und sein 14 Punkte Plan scheiterten am ewigen Streit der Europäer. (Screenshot aus ARTE Doku.)

Lang/Nouripour haben zu dem angesprochenen historischen Thema offenbar nichts auf der Pfanne. Sonst hätten sie nicht gelesen, was bei Gauland nicht stand und was dieser nicht behauptet oder gesagt. Was glauben politische Akteure, wenn sie Menschen auf offener Bühne, so darf man das Social Media Theater Twitter sicher nennen, belügen und Dinge verbreiten, die keiner Nachprüfung standhalten? Entweder halten Lang/Nouripour andere Menschen, darunter ihre Mitglieder und Anhänger, für grundsätzlich dumm und können sich nicht vorstellen, dass einige von denen vielleicht nachlesen oder nachhören, was da behauptet wird. Oder Lang/Nouripour sind selber dummfrech, weswegen es ihnen egal und sie nach der Devise vorgehen „Behauptung = Beweis“. Was sie eigentlich antreibt, bleibt im Nebel. In Gaulands gesprochenen wie gedruckten Worten ist jedenfalls von der Behauptung des grünen Duos keine Rede. Um dieses zu erkennen, muss man sich mit der Rede von Gauland beschäftigen. YouTube hat den kompletten Ausschnitt (ca. vier Minuten) verfügbar. Wir veröffentlichen am Ende dieses Beitrages das Textoriginal aus dem Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages für GERADEZU-Leser, damit sich diese ihre eigene Meinung bilden können. Weil wir es verfügbar machen, wird hier übrigens keine Nähe zur AfD hergestellt. Wer dieses denkt oder unterstellt, mag es tun, liegt aber völlig falsch und weit daneben. Sei es drum, solche Kritik muss dann auch ausgehalten werden.

Lang/Nouripour haben jedenfalls durch ihre persönliche Öffentlichkeitsarbeit auf diese Gauland-Rede aufmerksam gemacht. Wer nicht um die Komplexität des Wiener Kongresses von 1814/15 oder gar um die Verwicklungen von Versailles 1919 weiß, der sollte schweigen und sich einlesen. Man kann sich, mit Verlaub, die Führungstruppe der Grünen schwer in Schriften von Metternich, Castlereagh oder Clemenceau vorstellen. (Schon Rolf Hochhuth machte darauf aufmerksam, es ist nicht nur entscheidend oder fatal, was einer liest, sondern auch, was einer nicht liest.) Joschka Fischer war noch von anderem Kaliber, der ist aber längst Geschichte. Wenn die Grünen Parteilenker dennoch ihre Dummheit so dreist auf die Theke knallen, könnte auch eine Ablenkung dahinter stecken. Das grüne Duo hat für solche Manöver gute Gründe. In Gaulands Rede geht es nicht nur um Wien und Versailles, es geht um die Ukraine, um Krieg und Frieden. Darüber sagt dieser rechte Konservative treffende Dinge, die stets die Fahnen linker Politik und vernunftorientierter Diplomatie zierten. Bis eben diese linke Melodie dem Säbelrasseln und geistigen Marschbefehl mit „schweren Waffen“ vor allem auf Betreiben der Grünen gewichen. Putin und sein verbrecherischer Krieg war Auslöser für Impulse bei den Grünen, die aktuell und täglich viele Menschen mit harscher Kritik oder dröhnender Zustimmung erstaunen lassen.

Symbol der Zeit. Grüne Welt und schwere Waffen. (Foto: Momentmal auf Pixabay)

In der Voraussicht, dass politische Stimmungen sich wie Winde drehen, wollen Lang/Nouripour nicht auf ewig als Kriegspartei dastehen, den Part füllen aktuell Habeck/Baerbock/Hofreiter bestens aus. Die beiden Parteivorsitzenden wollen Friedensfreunde, Kriegsgegner und ihre Gründergeneration bei der Stange halten, rufen deshalb beim Ausrauben der grünen Grundwerte „Haltet den Dieb!“ und zeigen dabei mit allen Fingern auf Gauland. Zumindest mit jenen Fingern, die gerade nicht twittern. Bei Betrachtung des Verhaltens von Lang/Nouripour und dem Beschäftigen mit der Gauland-Rede können sich durchaus interessante Gedanken die Bahn brechen. Gegen eine Eskalation des Ukrainekrieges auf beiden Seiten der Front zu argumentieren, bleibt auch richtig, wenn es jemand von der AfD so sieht. Mit dem, was Alexander Gauland sagte und sagt, wollten wir uns auf GERADEZU nicht unbedingt beschäftigen. Die Zeiten und das laute wie ablenkende Geschrei des grünen Duos machen eben dieses dann doch erforderlich. In einer anderen Zeit wären die Gauland-Äußerungen aus den Reihen der SPD und der Grünen gekommen, hätten sogar Zustimmung von Teilen der CDU und FDP gefunden. Offenbar verbieten es heutiger Fraktionszwang und politische Disziplin sowie die latente Furcht vor den Medien, dem AfD-Politiker Gauland in Passagen zuzustimmen. Doch aktuell ist es sogar wahrscheinlich, dass die meisten Abgeordneten der Regierungsparteien und der CDU/CSU Gaulands Rede wirklich nicht teilen. Gauland ist als Minderheit auf Diplomatie und Deeskalation aus, wo der Rest des Politikbetriebes auf Krieg gebürstet. Wahrlich verdrehte Zeiten. Wer so unvoreingenommen wie möglich den Gauland-Text liest, der von einem Politiker stammt, der ansonsten sicher nicht durch Äußerungen aufgefallen ist, denen man unbedingt zustimmen wollte oder konnte, sollte sich sein eigenes Urteil bilden.

AfD Mann Alexander Gauland. Bismarckkenner und gebildeter Rechtsaußen. (Screenshot Bundestagsdebatte, Sender Phönix)

Der Politiker Gauland macht eine Vorbemerkung nötig. Aus persönlicher Enttäuschung brach aus diesem Groß- und Bildungsbürger alter westdeutscher Prägung, der schon in der hessischen CDU wie nach der Deutschen Einheit als Herausgeber der Märkischen Allgemeinen (MAZ) auf der rechten Seite des politischen Spektrums stand, der Reaktionär hervor. Gauland hatte einst erhofft, in der Wendezeit wichtige politische Weihen zu bekommen, die sich in Spitzenämtern zeigen sollten, um die Geschicke und Geschichte des Landes mitzubestimmen. Seine CDU rief ihn nicht. Als Teil seiner Rache sitzt nun die AfD im Deutschen Bundestag. Vor dem alten westdeutschen Bürgertum, dem Gauland angehörte und entstammte, welches sich immer als Großbürgertum aufspielte, muss man wahrlich keine tiefe Beugung machen. Zu diesem Bürgertum gehörten zum Beispiel äußerst wohlgelitten ihr ganzes Leben Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler, hochgebildete Herren mit feinen Manieren, edlen Bibliotheken und dem Auftritt von Gentleman. In Erinnerung bleibt dennoch, wie sie dem Hitlerkumpel und Nazi Albert Speer die bundesrepublikanische Aufwartung machten, bei dessen Umfärbung von Braun zu Weiß als nützliche Idioten seiner Zeitzeugenüberhöhung mithalfen und über die Nachkriegsdeutschen gossen. Wer also auf diese Art bundesdeutsches Bürgertum trifft, darf aus gutem Grund skeptisch sein, sollte es auch bleiben.

Der Fixpunkt des Alexander Gauland. Immer wieder Bismarck. (Foto: Michael Knoll auf Pixabay)

Wo Gauland übrigens gerne Bismarck in fast jede Rede führt, in der hier vorliegenden, hat er darauf verzichtet, ist er immer an der Seite des großen Staatsmannes, Realpolitikers und Außenpolitikers. Der Reaktionär, Krieger und Junker Bismarck, welcher auch außenpolitische Konflikte schürte und Kriege anzettelte, um innenpolitische Gewinne zu erzielen, fällt bei Gauland weniger ins Gewicht. Die Bismarck-Mitschuld an einem Preußentum, welches dann in zwei Weltkriege hetzte und marschierte, wird von Bismarck-Fans allenthalben sowieso gerne unterspielt. (Die widerwärtige Nähe und Anbiederei der Preußen Richtung Hitlers Nazis ist inzwischen hinlänglich belegt, wofür man allerdings nicht Bismarck verantwortlich machen sollte. Im braunen Deck haben sich die Hohenzollern liebend gern selbst gewälzt. Bismarck lag da schon lange in seinem Mausoleum zu Friedrichsruh. Für die Richtungsweisung in ein fatal militärisches Preußen aus Kadavergehorsam und Untertanengeist muss man ihn allerdings verantwortlich nennen.) Wer Bismarck in seiner Komplexität erfahren will, der ist bei Fritz Stern besser aufgehoben als bei Alexander Gauland. (Gauland, diese Fairness muss sein, hat sich allerdings nie als Bismarck-Biograf gesehen oder aufgespielt.) Eines ist dieser Gauland, was man Lang/Nouripour auch wünschen würde, belesen, gebildet und in der Geschichte bewandert. Was er manchmal daraus zieht und dreht, ist wieder eine andere Geschichte. Seine in diesem Beitrag oft erwähnte Rede soll, wie zugesagt, in vollständiger Form (Deutscher Bundestag, stenografischer Bericht, 31. Sitzung, 28. April 2022, Plenarprotokoll 20/31, Seite 2732 -2733) hier nun folgen:

Dr. Alexander Gauland (AfD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist immer ein undankbares Geschäft, nach Erklärungen für ein Verhalten zu suchen, das Frauen und Kinder tötet und Städte in Schutt und Asche legt. Und wenn es außerdem noch um Freiheit, Demokratie und westliche Werte geht, muss man in einem Land wie Deutschland auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Die Moral schlägt immer die Geopolitik. Wissen wir doch seit Langem, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist und Putin, wenn er nicht Angst vor der Freiheit hätte, die NATO nicht zu fürchten bräuchte. So einfach, so unterkomplex! Denn es kommt eben nicht auf unsere Einschätzung der NATO an, sondern auf die russische Sicht. Und da erleben die Russen seit der deutschen Wiedervereinigung ein unaufhaltsames Vorrücken eines ihnen entgegengesetzten Militärbündnisses gegen die russischen Grenzen. (Zuruf des Abg. Dr. Joe Weingarten [SPD]) Meine Damen und Herren, es ist nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie, sondern auch ein Zusammenprall politischer, militärischer und wirtschaftlicher Interessen. Und deshalb ist es auch falsch, diesen Konflikt mit schweren Waffen anzuheizen. (Beifall bei der AfD) Denn – so der frühere Militärberater Angela Merkels, Erich Vad –: „Jede militärische Lösung führt in die Katastrophe.“ (Beifall bei der AfD) Wenn deutsche Politiker – und heute ist es wieder geschehen – postulieren: „Russland darf nicht gewinnen“, muss man deshalb hinzufügen: Es darf auch nicht verlieren, da eine Atommacht auch in einem Krieg nach Art des 19. Jahrhunderts die Mittel des 20. und 21. Jahrhunderts einsetzen kann, wenn sie zu unterliegen droht. Und das wollen Sie hoffentlich auch nicht! (Beifall bei der AfD) Im Falle Russland kommt ein weiteres Dilemma hinzu: Völkerrechtlich normierte Ordnungen haben sich in der Geschichte nur dann als haltbar erwiesen, wenn die unterlegene Seite gleichberechtigt eingebunden war. Bestes historisches Beispiel ist die Wiener Ordnung von 1815 nach dem Sieg über Napoleon. Indem Frankreich eine gleichberechtigte Rolle spielen konnte, vermieden die Akteure von Wien eine dauernde revolutionäre Unzufriedenheit des Besiegten. Das ganze Gegenteil davon war Versailles 1919. Und genau das, meine Damen und Herren, ist heute das Problem Russlands: Es hat die einseitigen Veränderungen nach 1989 innerlich nie wirklich akzeptiert. Sie wären besser im Zusammenwirken mit Russland und nicht gegen eine unter Jelzin vorübergehend geschwächte Macht durchgesetzt worden. Vergleiche hinken immer – die NATO-Osterweiterung war aber mehr Versailles als Wien. Das hat ein schwaches Russland geschluckt. Jetzt, wo in der Ukraine der Kern des Zarenreiches wie der Sowjetunion tangiert wird, sehen die russischen Eliten eine rote Linie überschritten. (Zuruf von der SPD: Ist das peinlich!) Solange Russland Großmacht und Atommacht ist, werden Abmachungen nur reißfest sein, wenn sie das Land innerlich mitträgt. Eine westliche Ukraine ist es nicht. Folglich kann nur ein Kompromiss – nur ein Kompromiss! –, aber nicht der Sieg der einen oder anderen Seite diesen Krieg beenden. Die Lieferung schwerer Waffen ist dazu kein sinnvoller Beitrag, meine Damen und Herren. Eine diplomatische Initiative Deutschlands wäre sehr viel sinnvoller und wichtiger. Ich bedanke mich. (Beifall bei der AfD)

Rosa Luxemburg. Sie dachte die Freiheit des Andersdenkenden auch in der politischen Debatte.

Wer sich über eine Gauland-Rede auf diesen Seiten ereifert, noch mehr über die Zustimmung zu weiten Teilen von deren Inhalt, soll dies bitte tun. Wer nicht erkennen will, dass zwischen einer inhaltlichen Zustimmung in Bezug auf den Redetext und einer ideologischen Nähe zum Redner ein gewaltiger Unterschied liegt, dem ist nicht zu helfen. Uns allen in jetziger und künftiger Debatte und im Umgang zu allen Zeiten etwas auf den Weg, was Helmut Schmidt einmal zitierte. Am 15. Mai 1986 hielt Schmidt im ehrwürdigen Rathaussaal zu Hamburg die Laudatio auf den frisch ernannten Ehrenbürger Hamburgs, seinen alten Weggefährten Herbert Wehner. Schmidt erinnerte an eine tiefgreifende Debatte im Deutschen Bundestag des Jahres 1958, wo es über Monate um den militärischen Status Deutschlands ging. Herbert Wehner wurde in dieser Debatte vom politischen Gegner mit Zwischenrufen überhäuft und antwortete laut Bundestagsprotokoll, wie es Helmut Schmidt in seiner Laudatio hervorhob und neu ins Gedächtnis brachte:

Man kann Respekt und sogar menschliche Zuneigung zu jemandem haben, mit dem einen sonst nicht viel verbindet als die Vorstellung von der Sauberkeit, von der Integrität der Person. Ja, um Respekt, darum geht es immer. Im Grunde und am Anfang.

*Beitragsbild: Ricarda Lang und Omid Nouripour (Screenshot: Homepage Bündnis 90/Die Grünen)

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