Edgar Morin ist ein bemerkenswerter Mensch und außergewöhnlicher Zeitzeuge. Außerdem gilt er als einer der einflussreichsten Denker des 20. und 21. Jahrhunderts in Frankreich, mit einem der umfänglichsten Werke der Philosophiegeschichte. In seiner Heimat Kraft seiner Gedanken ein Mann mit Einfluss. Geboren am 8. Juli 1921 in Paris, ist er wahrlich eine echte Jahrhundertfigur. Der Philosoph und Soziologe lebt mit seinen 101 Jahren dennoch nicht in der Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt. Nicht weltabgewandt, eher mittendrin. Wer so alt wird, verliert zwangsläufig Menschen. Morin ist darin unsentimental und ehrlich: „Zu viele liebe Freunde sind gegangen, mein Mac und mein iPhone haben ihren Platz eingenommen.“ (Twitter Morin 2022) So betreibt Morin wie selbstverständlich einen Twitteraccount, dem fast eine Viertelmillion Follower ihr Interesse bekunden und wo sich der rüstige und geistig frische Methusalem klug und scharf beobachtend zu Wort meldet. Auch in der französischen Twitterblase ist – wie in anderen Sprachen – viel Wahnsinn und Dummheit unterwegs und nicht nur Kommunikation, Information und Aufklärung. („Einige Tweets enthüllen die Tiefen des menschlichen Bullshit und der Bosheit.“ So Morin im August 2022.) Daher ist dieser Schritt für einen 101-Jährigen durchaus mutig. (Als Morin Twitter beitrat, war er 92. Chapeau.) Furcht, weder vor dem Leben noch vor dem Tod, kennt Morin nach eigener Aussage nicht.
Der Mensch ist entsetzt über den Tod, nähert sich ihm aber gleichzeitig aus religiösen oder anderen Gründen, das zweite Paradoxon entsteht, weil der Mensch glaubt, er könne ein Leben nach dem Tod haben. (Edgar Morin, Interview, Zeitschrift ‚Methode‘, 2021)
An persönlichem Mut und Lust auf Abenteuer hat es Edgar Morin allerdings nie gemangelt. Mit bürgerlichem Namen Edgar Nahoum, studierte er Geschichte, Rechtswissenschaften und Geografie, trat als junger Mann 1942 den französischen Streitkräften und der Résistance bei, wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Mit Beginn der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen hatte er eine aktive Rolle als Untergrundkämpfer gegen die Nazis. In der Zeit des Widerstandes lernte er auch François Mitterrand kennen. Aus diesen Jahren im Widerstand stammt sein Pseudonym Morin, das er danach beibehielt. Nach dem Krieg diente Morin im Generalstab der 1. französischen Armee in Deutschland (1945) und wurde dann Leiter des „Propaganda-Büros“ der französischen Militärregierung (1946). Er war es, der nach der Befreiung das Wort vom „Jahr Null“ Deutschlands in die Historie einbrachte. Aus der Zeit des Krieges, der Besatzung, der Résistance und der Befreiung gibt es viele Berichte von persönlicher Tapferkeit des Edgar Morin
1949 trat Morin aus Protest gegen den Stalinismus aus der Kommunistischen Partei Frankreichs aus. Anfang der 50er-Jahre wurde er Mitarbeiter des CNRS, dem Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Frankreich, wo er später bis zu seiner Emeritierung als Forschungsdirektor tätig war. Aus dieser Zeit stammen seine ersten Buchveröffentlichungen. Er interessierte sich intensiv für das Zusammenwirken von Kultur und Gesellschaft, eines seiner Lebens- und Arbeitsthemen. Im Lauf seines Lebens wurde er Mitgründer des Debattenmagazins ‚Arguments‘ und lebte einige Jahre in Lateinamerika, um dort Sozial- und Gesellschaftsstudien zu betreiben. Sein französischer Landsmann Régis Debray (Jahrgang 1940), ein Kampfgefährte von Che Guevara, wurde in dieser Zeit ein lebenslanger Freund. In den 60er-Jahren schrieb und dozierte er über sein Hauptthema, die Grundlagen des komplexen Denkens. Edgar Morin ist Ehrendoktor mehrerer Universitäten auf der ganzen Welt.
In einer Selbstbeschreibung hat Edgar Morin sich einmal folgendermaßen charakterisiert: „Mensch, Franzose, mit jüdisch-sephardischen Wurzeln, italienischen und spanischen Anteilen, durch und durch mediterran, kulturell Europäer, Weltbürger und Kind der Mutter Erde.“ Ein glanzvollerer Europäer lässt sich wohl nur schwerlich finden. Völlig selbstverständlich hat sich Edgar Morin politisch stets links eingeordnet. Als in Chile mit dem Sozialisten Gabriel Boric ein Mann des Volkes gegen die Kandidaten der von den USA unterstützten rechten Politikklasse die Wahl gewann und dem neoliberalen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell umgehend den Fehdehandschuh hinwarf, machte Edgar Morin aus seinem freudigen Herzen keine Mördergrube und setzte umgehend einen Tweet ab: „Viva Chile, dass auf seinem Territorium den planetarischen Rückschritt unterbricht, der von der Herrschaft des Geldes gelenkt wird und auf Unterwerfungsgesellschaften zusteuert. Was auch immer passiert, dieser große Moment, der uns sagt, dass nicht alles unwiderruflich verloren ist, sollte nicht vergessen werden.“
Die Frische von Morins Denken mag auch in einer Lebensführung liegen, die den schönen Dingen nie abgeneigt war. Zu einer Lebens- und Liebesgemeinschaft von Morin gehörte neben seiner Frau auch die Schriftstellerin Marguerite Duras, die einen Gatten plus einen Liebhaber in diese turbulente Gemeinschaft mitbrachte. Ein Leitspruch in Morins Leben war stets: „In dieser Nacht ist die Liebe mein Mythos, mein Credo, meine Wette.“ In den 1960er-Jahren lebte Morin eine Zeit lang in Kalifornien und interessierte sich dort nicht nur für Kybernetik, den eigentlichen Grund seines Aufenthaltes, sondern auch für Rockmusik und Drogen. Morin gehört zu den französischen Intellektuellen, die nicht nur das Denken bereichern sondern jederzeit wissen, wie man das Leben in all seinen Freuden und Facetten auskostet. Gerade wegen dieser Fülle an Erfahrungen, die Edgar Morin sich mitten aus dem Leben holte, war er in der Fünften Französischen Republik ein geschätzter und gesuchter Dialogpartner der Präsidenten, egal welcher Couleur oder politischen Richtung. Morin stand dabei den Sozialisten nahe, ließ sich aber nicht zu einem Parteigänger machen. Das Denken des Marxisten und gleichermaßen Heraklit-Anhängers Morin sowie seine klaren Analysen ist in der Debatten- und Gesprächskultur Frankreichs selbstverständlicher Teil der Gesellschaft und hat Tradition, so man an André Malraux und Charles de Gaulle denkt. Die politisch Mächtigen hören, was Morin sagt, sie folgen ihm leider selten.
Der Mensch ist durchzogen von einer zugleich äußeren und inneren Kraft, die ihn zum Leben drängt, ohne dass er deren Sinn versteht. Und die Erkenntnis ist nur ein Oberflächenphänomen. Wie Heraklit sagt: Auch wenn wir wachen, schlafen wir. (Edgar Morin, Interview, Philosophie-Magazin, 2021)
Morin fühlte sich mit Herz und Geist stets bei den Ohnmächtigen heimisch, denen ohne Titel, Glanz und Geld, die weder Einfluss noch Macht haben. Er interessiert sich noch heute für das Schicksal einfacher Menschen auf diesem Planeten genauso brennend wie in den Tagen seiner Jugend. Es lohnt immer, sich Sätze und Äußerungen von Morin zu vergegenwärtigen, so man sich selber in der Verwirrung der Zeit und einer Flut von fragwürdigen Nachrichten um ein Stück Durchblick bemüht. Dafür ist und bleibt dieser bewundernswerte und kluge Beobachter, der stets gute Laune verbreitet, eine interessante Adresse, zumindest ein Anreger zum Denken. Deshalb wollen wir hier einige Einschätzungen und Wortmeldungen von Edgar Morin aus dem Jahr 2022 wach halten und wiedergeben, die allesamt seinem Twitteraccount entnommen. Dieses hoffentlich zum geistigen Gewinn für GERADEZU-Leser:
Erst spät entdeckte ich das erfüllende Gefühl, einfach nur auf einem Stuhl in der Sonne zu sitzen.
Es ist erstaunlich, dass wir so wenig überrascht sind, zu leben.
Wo zwei gegeneinander kämpfen, geht der Nutzen stets an einen Dritten.
Wissen wird gegen ein Vorwissen entwickelt.
Die globale Erwärmung lässt uns tendenziell die Verschlechterung und Verschmutzung der Luft, des Wassers, der Städte, der Landschaft und der Lebensmittel vergessen, die durch den unkontrollierten Anstieg der wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Entwicklung verursacht wird.
Es besteht ein unüberwindbarer Widerspruch zwischen ethnischen, nationalistischen, religiösen Abschottungen und der Notwendigkeit eines Bewusstseins der gemeinsamen Menschlichkeit im 21. Jahrhundert.
Besonders die Suche nach der Wahrheit über Kriegsfakten erfordert die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen und gegensätzlichen Informationsquellen.
Wenn wir davon überzeugt sind, dass es dringend notwendig ist, den Weg zu ändern, dann, und nur dann, wird sich ein Weg abzeichnen. Und eine Hoffnung. Ohne Hoffnung, Melancholie, Verdruss oder Resignation geht es nicht.
Desinformation hat einen großen Vorteil gegenüber der Wahrheit, denn die Wahrheitsfindung ist besonders kostspielig.
Die Staatsreform durch Entbürokratisierung und Entwurmung von Lobbysystemen und die Wirtschaftsreform durch fortschreitende Rückbildung der Profithegemonie müssen untrennbar miteinander verbunden sein.
Es gibt eine europäische Barbarei in der Kolonialisierung, dem Sklavenhandel, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus, aber es gibt auch in der europäischen Kultur seit Montaigne Gegenmittel gegen diese Barbarei. Und die Konzepte der Emanzipation der Kolonisierten stammen aus der europäischen Kultur.
Die Quantenphysik zeigt uns wie die Kosmophysik, dass alles sowohl untrennbar als auch getrennt ist (Welle/Teilchen, Raum/Zeit usw.). Dies führt zu einer logischen Revolution, die dazu führt, das Prinzip der Widerspruchsfreiheit zu überwinden.
Wenn ich Gott wäre, wüsste ich, was die Vögel singen, was die Blumen denken, worüber die hohen alten Bäume meditieren.
Es ist die gesamte westliche, mittlerweile globale Zivilisation, die von dem Willen beseelt ist, die Natur zu beherrschen und zu manipulieren.
Das Raubtier, das all seine Beute tötet, verurteilt sich selbst zum Tode.
Die aufklärende, bereichernde, triumphierende Wissenschaft wirft immer mehr Probleme auf, was das Wissen, das sie hervorbringt, das Handeln, das sie bestimmt, und die Gesellschaft, die sie verändert, betrifft. Diese befreiende Wissenschaft bringt gleichzeitig erschreckende Möglichkeiten der Versklavung mit sich.
Das Wettrüsten beschleunigt sich. Die ersten großen Gewinner des Krieges sind die Hersteller von Waffen, Granaten, Raketen, Drohnen.
Es ist (noch?) kein Weltkrieg, es ist bereits ein globalisierter Krieg. Nicht nur in der Rüstungsproduktion und Rüstungsanwendung, sondern auch wirtschaftlich, kybernetisch, politisch sowie in der Meinungsbildung.
Große Romane sind allen Geisteswissenschaften überlegen.
Jede Nacht, wenn wir schlafen, erwacht eine fabelhafte kreative Quelle in uns, die von Traum zu Traum aufspringt und erlischt, wenn wir aufwachen.
Eine Intelligenz, die unfähig ist, den Kontext und den planetaren Komplex zu berücksichtigen, macht einen blind, bewusstlos und verantwortungslos.
Wenn sich fabelhafte Lügen unter den sonst so schlauen Menschen verbreiten konnten, dann deshalb, weil die Menschen immer noch sehr naiv sind, was Ideologien und Mythologien angeht. Sie sind unschuldig gegenüber einer ideologischen Lüge, wie die Kuh gegenüber einem ausgestopften Kalb.
*Beitragsbild: Edgar Morin (Twitter: Edgar Morin)