Wer käme wohl auf die Idee, Hanns Guck-in-die-Luft nach dem Weg zu fragen? Mit Inbrunst die Deutschen. Wer sonst? So man sich politisch nicht verirren will, sollte man Verstand, Augen und Ohren nutzen und selber nach Pfad und Ziel Ausschau halten. Es geht natürlich viel einfacher, das Angebot auf Antworten zu allen Lebenslagen liegt im medialen Präsentkorb des Lebens, griff- und abrufbereit wie Muttis Plätzchen auf dem Weihnachtsteller. Tag um Tag findet man diese Art von ungeistiger Bescherung in Zeitungen, in den Weiten des Netzes, in allen Social Media Blasen, selbstverständlich in der alten Glotze, natürlich im neuen Podcast. Medienmacher und Mediennutzer schlingen dabei in unheiliger Allianz die Arme umeinander. Die Auftaktmelodie zu dem, was abgefragt, weil gerade angesagt, kommt ohne großen Variantenreichtum über uns. Es klingt dann wie folgt: „Was aber denken die Deutschen?“ „So denkt die Mehrheit der Deutschen wirklich!“ „Mehrheit der Deutschen will!“ Lieblingssentenz des Autors dieser Zeilen: „So denken die Deutschen!“ Wobei besonders das schöne Wort „denken“, wie geistiges Schmieröl die Fantasie beflügelt. Perfide wird es, wenn zum Beispiel irgendein Politiker – fast jeder in diesem Geschäft tut dies leider in unschöner Regelmäßigkeit – wieder einmal auf Wählerfang und Stimmenjagd geht. Dabei wird dann dem Gaul „gesundes Volksempfinden“ genau jener Hafer verabreicht, der solche Art Politiker vorher populistisch gestochen. Dann tönt es, dieser spricht nur aus, „was die Mehrheit der Deutschen denkt.“ (Oftmals üble Parolen gegen Minderheiten und Andersdenkende oder was das Organ der Niedertracht gerade auf der Tageskarte hat.)
Es lässt sich ohne große Umschweife sagen, Sätze, die mit „Mehrheit der Deutschen will„ beginnen, stehen meistens für etwas, was kein klar denkender Mensch wirklich möchte. Da sind wir schon wieder bei der Sache „denken“. Es ist eine Krux. Befragungen und Meinungsäußerungen kommen in unterschiedlichem Gewand, vielfältiger Interpretation und verschleiernder Wirrnis daher. Sie werden vom Befrager oder dessen Auftraggebern natürlich für jene oder diese Zwecke benutzt. Jede Auslegung wird angeboten. Die Befrager agieren mit einem Stakkato aus hü und hott, indem sich die Befragten längst verloren haben. Den Menschen wird das Gefühl vermittelt, wichtig zu sein und gehört zu werden, was sich schon bei oberflächlicher Betrachtung als Täuschung herausstellt. Zur Einordnung von Umfragen hier ein scherzhafter Einstieg von Entertainer Harald Schmidt, der Dinge stets trefflich auf den Punkt brachte. „Eine Umfrage ergab, 85 Prozent der Frauen finden ihren Arsch zu dick, aber 5 Prozent sind trotzdem ganz froh, dass sie ihn geheiratet haben.“ (Tucholsky: „Was darf Satire? Alles.“) Natürlich können wir bei einem die Welt und die Menschheit bewegenden Thema – wie und was „die Deutschen wollen“ – nicht in der Satire verharren. Es ist nämlich Vorsicht geboten, wenn die Deutschen sagen, wie sie sich die Dinge denken, was sie wollen, mögen, gerne hätten und dabei ihr Herz, so sie befragt, zu Markte tragen. Ein Blick in die Historie lässt einem das Blut gefrieren. Weil gerade die Deutschen, wenn sie sich hinter ihrem „was die Mehrheit will“ verschanzen konnten und können, durchaus einiges anzurichten wissen. Dabei trugen sie leider oftmals ihr Herz eben nicht nur auf den Markt, sondern machten daraus bei sich bietender Gelegenheit noch eine Mördergrube. Natürlich je nach Stimmungslage und politischem Wind.
Die Deutschen wollten in den Ersten Weltkrieg, als sie ihn hatten und in den Gräben Millionen Menschen schon elend verreckt waren, da wollten sie nicht etwa den Frieden, sondern Hindenburg und Ludendorff. Damit das Gemetzel möglichst lange anhält. Die Weimarer Republik wollten die Deutschen auch nicht, lieber war der schweigenden und dann lauten Mehrheit ihr Adolf Nazi. Als jener den Kontinent an den Abgrund geführt, mit Krieg und Völkermord Millionen in den Tod gebracht hatte, Deutschland längst ein Trümmerfeld war, brüllten sie noch zustimmend nach dem totalen Krieg. Natürlich haben sich die Zeiten geändert. In Deutschland auch deswegen, weil uns ausländische Armeen nach jeweils blutigen Weltkriegen vom „was die Mehrheit der Deutschen will und denkt“ befreiten. Nicht mehr am deutschen Wesen soll daher heute die Welt genesen, sondern am deutschen Meinungsbild. Korrekter gesagt natürlich an der deutschen Mehrheitsmeinung. Baden wir hier nicht weiter in der Geschichte, sondern blicken auf zwei handfeste und aktuelle Beispiele aus neuerer Zeit, welche sich einfach wie ernüchternd selbst erklären. Gefunden im Berliner Tagesspiegel:
So viel dazu. Manche Dinge und „Meinungen“ erklären und kommentieren sich eben von selbst und ersparen Gelaber, Mühe und Arbeit. Ein Paradebeispiel für einen sich immer schneller und schwindelerregender drehenden und verdrehenden Meinungswind bietet Stunde um Stunde das Bild unserer Außenministerin. Vor sieben Monaten attestierte die deutsche Öffentlichkeit („Mehrheit der Deutschen“), dabei veröffentlichte Meinung und öffentliche Meinung im berauschten Gleichschritt, wir wollen das Wort Marschtritt hier bewusst nicht nutzen, der Grünen Annalena Baerbock die völlige Untauglichkeit für jedwede Politik. Sie könne nicht reden, nicht richtig abschreiben, sei inakzeptabel als Kanzlerkandidatin, sehe nicht durch und tauge eben nichts. Es triefte ziemlich übel von den Titelseiten der Gazetten und aus den Köpfen der nachplappernden Leute, die mal wieder zu einer Mehrheit wurden. Selbst wer mit Annalena Baerbock nicht viel an der Mütze hatte, konnte sich eines gewissen Mitleides nicht entziehen. Im April 2022 ist selbige Annalena Baerbock im Schnellgang eine Heilige geworden, mindestens die größte deutsche Politikerin des 21. Jahrhunderts. Irgendwo zwischen Nobelpreis, Oscar und Papstwahl längst für alles die beste Kandidatin. Ein Segen für die Deutschen, das Land und natürlich für die Menschheit zwischen Nord- und Südpol. Jürgen Habermas redet in der Süddeutschen Zeitung von einer „zur Ikone gewordenen Außenministerin“. (Eine große, fast tragische Auffälligkeit. Annalena Baerbock ist in diesem Fegefeuer aus vielerlei Eitelkeiten und noch mehr politischer Drehungen nicht nur von sich selbst berauscht, was sogar verständlich, sie geht dem Budenzauber offenbar auch völlig auf den Leim, glaubt, was sie liest. Sie hat offenbar nie gehört, dass die Fahrstühle nach oben stets wieder nach unten fahren. Aus dem Bundestagswahlkampf hat sie wohl nur wenig gelernt. Man mag sich daher ihr Erwachen aus diesem Traum kaum vorstellen.)
Ganz aktuell wollen die Deutschen („Mehrheit der Deutschen“) und vor allem deren Leib- und Magenpostillen, Annalena Baerbock als Kanzlerin. Jetzt sofort und wenn möglich mit Helm und schweren Waffen. Manchmal trübt noch ein Hauch Konkurrenz diese Baerbock-Sonne. Dann wollen die Deutschen („Mehrheit der Deutschen“) noch Robert Habeck. Der Mann mit dem Lieblingswort „wir“. Manche träumen sogar vom Baerbock/Habeck Duo im Kanzleramt. Wer jetzt zynisch oder gar böse veranlagt, könnte die vorhin angesprochene Geschichte bemühen und einen Vergleich ziehen zum Gespann Hindenburg/Ludendorff (Damals von der Propaganda übrigens „Gottgesandte“ genannt.). Diesen beiden Kriegsherren verdanken die Deutschen nicht nur die große Schlächterei, sondern auch Kino und Film, die Russen sogar ihren Lenin. Bevor wir dieses näher erläutern, verweisen wir dazu etwas faul auf das handelsübliche Google und Wikipedia Universum oder ein gutes Lexikon, vielleicht historische Sachbuchliteratur im eigenen Regal. Wir haben an dieser Stelle nämlich keinerlei Bock mehr auf die Oberste Heeresleitung und wollen lieber mit zwei Humanisten abschließen. Wen demnächst also wieder die Mehrheit anspringt oder „was die Deutschen denken“ überfällt, der darf aus Selbstschutz ein Stück geistiger Zuflucht bei einem legendären Theatermacher suchen. Jener Max Reinhardt sagte einst in völlig anderem Zusammenhang: „Steck deine Kindheit in die Tasche und renne davon, denn das ist alles, was du hast.“ Wegrennen vor Schlagzeilen und dem Denken und Wollen der Mehrheit kommt einem dieser Tage leider nur allzu oft in den Sinn. Mit seinem sezierenden Blick auf die Mehrheit („Was ist die Mehrheit?“) soll der zweite hier angedrohte Humanist das Schlusswort erhalten. Wozu haben wir schließlich Klassiker? Friedrich Schiller, Demetrius-Fragment, entstanden 1805, unvollendet geblieben, Uraufführung 1857 zu Weimar:
Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.
Bekümmert sich ums Ganze, wer nicht hat?
Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
um Brot und Stiefel seine Stimm‘ verkaufen.
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen;
der Staat muß untergehn, früh oder spät,
wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.
*Titelbild: Anemone123 auf Pixabay