Interessantes

Blick auf die Insel

Ein lebenskluger und älterer Herr aus Cambridge, der Hochschullehrer Michael Harmon stellte dieser Tage ganz sachlich fest, die meisten britischen Wähler „sind kaum noch in der Lage, zwischen Reality-Show und dem wirklichen Leben zu unterscheiden. So kämen dann halt Figuren wie Boris Johnson an die Macht.“ Medien in Großbritannien stellen plötzlich fest, Boris Johnson sei „ein lügender, narzisstischer Soziopath“. Dabei vergessen sie dann gern und schnell ihren eigenen Anteil an seinem unaufhaltsamen Aufstieg. Der noch im Amt befindliche Premierminister bleibt sich jedenfalls auf der Zielgeraden treu. Als es im Unterhaus zur Debatte um die Hitzewelle und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung kam, glänzte der Regierungschef durch Abwesenheit. Er hatte mal wieder eine private Party hinter sich zu bringen. Der Mann weiß die Feste zu feiern, selbst wenn er fällt. Der Guardian fand einen guten Satz dafür: „Boris Johnson hat ‚ausgecheckt‘, während Großbritannien in sengender Hitze schwelt.“ Sorgen muss sich um Johnson niemand machen. Es warten auf den größten Scharlatan in der britischen Politikgeschichte in Sachen seiner Memoiren dicke und verlockende Honorarangebote in Millionenhöhe.

Der etwas lahme Oppositionsführer Keir Starmer von Labour hielt den Tories in der montäglichen Parlamentsdebatte vor, sie hätten mit Johnson einen Mann zu ihrem Vorsitzenden gewählt, der vorher in allen seinen Jobs gefeuert wurde. Nun ja. Die Tories kratzte das wenig, sie kennen ihre Trümpfe, wissen die Murdoch-Medien und die Anhänger von Reality-Shows halt hinter sich, daraus macht man Wahlsiege, egal was man vorher alles in den Sand gesetzt. Außerdem ist Labour wie deren Anführer Keir Starmer politisch sehr blutleer und kaum eine Alternative, die wirkliche Veränderungen bringt. Die von Labour-Funktionären betriebene Zerstörung der Corbyn-Politik und ihres Vorsitzenden Jeremy Corbyn wirkt unheilvoll nach. Labour wird wieder zum nützlichen Idioten der Tories und der Neoliberalen.

Politikstil Clown. Boris Johnson. (Collage: New Statesman)

Derweil Boris Johnson Auslaufmodell, suchen die Tories einen neuen Anführer, der dann auch Premierminister wird. Rishi Sunak war Finanzminister unter Johnson und hat die schlimmste neoliberale Agenda der Nachkriegszeit vertreten, da wäre sogar Margaret Thatcher vor Freude fast aus dem Grab gestiegen. Die gewöhnlichen Briten leiden hart unter dieser Politik, während die Oberschicht Steuererleichterungen als milde Gabe gereicht bekommt. Sunaks Politik verarmt die Bevölkerung. Mittlerweile wird sogar der Cheddarkäse, der zur DNA von Briten gehört, in den Supermärkten mit einer Diebstahlsicherung versehen, als handle es sich um Rolex-Uhren. Die Handelsgiganten wollen vermeiden, dass jene, die sich nicht mal mehr Cheddar leisten können, diesen stehlen. Was für eine Welt. Die Welt des Rishi Sunak.

Käse mit Diebstahlsicherung. Britischer Alltag.

Rätselhaft verhält es sich mit der Außenministerin Liz Truss, auch sie würde gerne in 10 Downing Street einziehen und Great Britain regieren. Jene Dame, die den Ausgang nicht findet und der Überzeugung war, Schüsse würden Drohnen vertreiben, könnte noch ein größeres Fiasko werden, als Boris Johnson es je war. Der zu direkter Sprache neigende Teil der Bevölkerung nennt sie dumm-frech. Der Guardian-Kolumnist und Humorist John Crace, im Blatt für die satirische Beobachtung des englischen Parlamentes zuständig, stellte fest: „Die Zeit verbiegt sich und bleibt stehen, wenn Sie sich im Paralleluniversum von Liz Truss befinden und einer Rede von ihr folgen. Sie lässt das Publikum um eine tödliche Injektion betteln.“ Harter Tobak. Damit nicht genug, John Grace lief in Sachen Liz Truss noch zu Hochform auf und bekam dafür eine riesige Zustimmung seiner Leser und Kollegen, weil er den Nagel auf den Kopf traf: „Zumindest Theresa May war sich vage bewusst, dass es eine Realität gab, von der sie losgelöst war. Truss besteht nur aus einigen frei schwebenden Atomen auf der Suche nach einer Persönlichkeit und Ideen. Praktisch nichts, was sie sagte, ergab irgendeinen Sinn. Und wenn, dann war es reiner Zufall. Sie ist jedermanns bevorzugte Comedy-Kandidatin.“ Was sich wie die Mischung aus Realsatire und Albtraum liest, könnte durchaus die Fortsetzung der Clownerien an der Spitze der Atommacht Großbritannien bedeuten.

Drohne? Flucht beim ersten Schuss? Liz Truss hatte laut gedacht.

Es gibt noch die Kandidatin und Außenseiterin Penny Mordaunt, die nie etwas sagte und nur deshalb den Eindruck erweckte, etwas zu wissen. Sobald sie etwas sagte, war es damit auch vorbei. Eine TV-Debatte zwischen Sunak und Truss wurde kurzerhand sogar abgesagt, weil sich hier zwei langjährige Johnson-Minister gegenseitig so viele Unzulänglichkeiten in ihren Ämtern um die Ohren hauen könnten, dass die Parteistrategen der Tories befürchten, den Leuten könnte evtl. doch ein Licht aufgehen, was die Tories mit ihnen und dem Land angestellt haben und noch anstellen werden. Also lieber gemeinsam schweigen. Dann wäre Penny Mordaunt wieder in der Pole-Position.

Außer den Figuren an den Hebeln der Macht, die permanent den Eindruck erwecken, als seien sie Pausenclowns auf einem Narrenschiff, gibt es auch in England noch Leute mit Ratio und Seriosität, die Führungspositionen besetzen. Wobei man die langsam mit der Lupe suchen muss. Ein solcher ist Admiral Sir Tony Radakin, als Chief of the Defence Staff oberster militärischer Befehlshaber der Streitkräfte des Vereinigten Königreichs. Eine sehr britische Marine- und Militärkarriere, die auf Integrität und Kompetenz basiert. Solche Leute haben einstmals das British Empire geprägt. Radakin – für seine trockene Sachlichkeit bekannt – war in Sachen Ukraine Studiogast der BBC und wurde natürlich zu Russland und auch zu Wladimir Putin befragt. Dabei arbeitete der Admiral keine Klischees ab, sondern bezog sich auf eigene Beobachtungen und Erkenntnisse, die auch von Informationen des britischen Geheimdienstes gestützt werden. Da wir in Sachen Putin allesamt ziemlich im Nebel stochern, ist die vom britischen Spitzenmilitär gelieferte Kurzanalyse durchaus interessant.

Admiral Sir Tony Radakin. (Screenshot: BBC)

Der Admiral führte aus, er halte Meldungen und Kommentare, dass es Putin gesundheitlich nicht gut geht, dieser ermordet oder ausgeschaltet werden soll, für Wunschdenken. Aus Sicht militärischer Profis zeigt sich Russland als ein relativ stabiles Regime“. Putin hätte bewiesen, „dass er immer in der Lage war, jede Opposition zu unterdrücken.“ Radakin wies auch darauf hin, dass Putin einiges in die Hierarchie seines ihn umgebenden Machtapparates investierte und deshalb niemand an der Spitze der russischen Politik Interesse oder Motivation hat, Präsident Putin herauszufordern“. Über die militärischen Fähigkeiten der russischen Armee wertete RadakinIhre Landstreitkräfte sind aufgrund der Verschlechterung und Erschöpfung, die wir bei ihrem Kampf in der Ukraine sehen, kurzfristig wahrscheinlich weniger eine Bedrohung. Aber Russland ist nach wie vor eine Atommacht, es hat Cyber-Fähigkeiten, es verfügt über Fähigkeiten im Weltraum. Und es hat bestimmte Programme unter Wasser, mit denen die Unterwasserkabel bedroht werden können, die ermöglichen, dass die weltweiten Informationsströme um den ganzen Globus übertragen werden. Nach Einschätzung des britischen Stabschefs hätten die russischen Streitkräfte bisher mehr als 30 Prozent ihrer Bodenkampfeffektivität verloren. Was bedeutet, es sind ca. 50.000 russische Soldaten, die in diesem Konflikt entweder gestorben oder verletzt wurden. Dazu kommt der Materialverlust von fast 1.700 zerstörten russischen Panzern und ungefähr 4.000 zerstörten gepanzerten Kampffahrzeugen. Außerdem sei es bei den russischen Kampftruppen nicht gut um die Moral bestellt. Präsident Putin ist nicht in der Lage, die Menschen mit der Ausrüstung, die er hat, in Einklang zu bringen.“

Rote Haare. Elisabeth I. Könnte umsonst ins Kino. (Screenshot: ‚Elizabeth‘ – Cate Blanchett)

In der Kindheit oft gehänselt, andere Kinder können immer grausam sein, hatten es Rothaarige in unseren Gegenden nicht immer einfach, irgendwann legt sich dann das blöde Gequatsche oder die davon betroffenen sind längst abgehärtet. In England ist die Gilde der Rothaarigen wohlgelitten, es gibt ihrer sehr viele. Natürlich in Englands Nationalsport Nr. 1, dem Rugby. Ohne rothaarige Spieler wäre manch großer Titel nicht im nationalen Trophäenschrank. Und wer erinnert sich nicht an Ron Weasley, den besten Kumpel von Harry Potter, an das Manchester United Arbeitstier Paul Scholes oder die großartige Schauspielerin Tilda Swinton?  Am Montag und Dienstag dieser Woche nun ein kleiner Triumph für alle Rothaarigen in Großbritannien, die wahrlich nicht als Freunde von grellen Sonnenbädern oder übermäßigen Temperaturen gelten. Im Land von Regenschirm und Wolken sind und waren sie bisher damit gut aufgehoben. Da Großbritannien nie gekannte Rekordtemperaturen erlebt und die Sonne gnadenlos brennt, wollte die Kinokette Showcase rothaarige Menschen wegen derer empfindlicher Reaktion auf die Sonne unterstützen. Showcase hat angekündigt, dass Kunden mit roten Haaren an diesen heißen Tagen Anspruch auf Freikarten haben, um sich fernab der Hitze Filme in klimatisierten Kinosälen anzusehen. Jeder rothaarige Kunde würde pro Tag einen kostenlosen Eintritt erhalten, der an der Kasse der Kinos ausgehändigt wird. Schon schrullig, diese Briten.

Natürlich zeigen sich Auswirkungen der Hitzewelle über Großbritannien nicht nur von ihrer skurrilen Seite. Unzählige Menschen leiden wie vielerorts weltweit, ob nun rothaarig oder nicht. Am schlechtesten sind in Großbritannien wieder britische Arbeitnehmer dran, deren Rechte mittlerweile auf eine Briefmarke passen. Während andere Länder eine gesetzliche Höchsttemperatur für Arbeiten in Innenräumen verankert haben – die USA (24 °C), Deutschland (26 °C) oder Spanien (27 °C) – gibt es so etwas in Großbritannien nicht. Forderungen, diese Höchstgrenze wenigstens ab 30 °C einzuführen, wurden bisher von Arbeitgebern wie der Regierung nicht gehört. Es heißt also weiter schmachten oder sich die Haare färben und ab ins Kino für zwei Stunden Linderung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert