Kultur

Wie eine Träne im Ozean

EIN BUCH FÜR DIE EWIGKEIT

Die Frage nach dem Buch für die einsame Insel liest und hört man des Öfteren. Sie lässt eine Menge Kriterien ungenannt. Wie kommt man auf welche Insel und weshalb/warum? Schiffbrüchig wie Robinson Crusoe? Freiwillig oder gar ausgesetzt wie Dreyfus und Papillon durch Verurteilung? Oder mit einem Kreuzfahrtschiff und 8000 Mitpassagieren, die solcher Art menschlicher Legebatterie als Urlaub empfinden? Ist man allein auf dem Eiland? Wird es dort kalt? Brät einem die Sonne das Hirn weg? Muss man Feuer machen? Was bekanntermaßen die meisten Zivilisationsbürger schon zum Scheitern verurteilt. Was sollte man da also um alles in der Welt lesen? Ein Sachbuch „Wie baue ich ein Zelt“ könnte praktisch sein.

Kommen wir vom Zeltbau zur Kultur und machen das Spiel mit dem Buch für die Insel mit. Der Schreiber dieser Zeilen ist dabei so subjektiv wie jeder Leser. Von Objektivität kann in dieser Frage keine Rede sein. Bestsellerlisten und die darüber fabulierenden Experten haben ihn nie interessiert. Zur Leseratte machte ihn in der Kindheit Jack London mit seinem „Seewolf“ und Fenimore Coopers „Letzter Mohikaner“. Er mag die Krimis von Chandler, die historischen Romane von Feuchtwanger, von Beginn an die nun fertige Cromwell-Trilogie von Hilary Mantel. Lieblingsautor schon sehr lange Stefan Zweig, dessen „Joseph Fouché“ er oft neu liest, genau wie dessen „Sternstunden“. Tucholsky liegt meistens griffbereit. Heinrich Mann ist ihm als Autor und Mensch wesentlich lieber als Herr Thomas Mann. James Joyce „Ulysses“ hat er in mehreren Anläufen nie bewältigt. An Proust ist er gescheitert, für Charles Bukowski hat er einiges übrig. „Reise ans Ende der Nacht“ von Louis-Ferdinand Céline und „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth sind lebenslange Lieblingsbücher. Was aus vielen Jahren Leserei noch so in Erinnerung blieb, zum Beispiel Upton Sinclair und dessen „Dschungel“ (Dennoch nie Vegetarier geworden.) würde in der Aufzählung klugscheißerisch wirken und als runtergebeteter Einkaufszettel daherkommen.

(Foto: meineresterampe auf Pixabay)

Daher Mut zur Entscheidung. Manès Sperber „Wie eine Träne im Ozean“ soll es sein. Geschrieben zwischen 1949 und 1955. Darin die Bücher „Der verbrannte Dornbusch“, „Tiefer als der Abgrund“ und „Die verlorene Bucht“. In der Taschenbuchversion schleppt man mit dieser Trilogie ca. 1000 Seiten auf die Insel. Mit dem Buch kochen so viele Berufene und Unberufene ihr Süppchen, dass die Deckel von deren Töpfen hier nicht gehoben werden sollen. Leser sollten sich das Wagnis gönnen, dem Buch vertrauen, dann ihr eigenes Urteil fällen.

Das Buch erzählt nicht von Helden, obwohl es einige gibt. Es handelt von Menschen aus dem prallen Leben in der Zeit von 1930 bis 1945. Vom Arbeiter bis zur Baroness ist alles vertreten. Orte, Handlungen und Personen durchziehen ganz Europa. Die Stärken und Schwächen der Protagonisten gehen unter die Haut. Die zentrale Figur des Dojno Faber hat Träume und kämpft für eine bessere Welt in schlimmer Zeit. Er erlebt Illusionen und Desillusionierung in harten Kämpfen. In den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts Alltag für viele Menschen. Der Leser ist an seiner Seite und wird in alles hineingezogen. Was ein Leben und dessen Wert ausmacht, wird selbst im Scheitern sichtbar. Hier geht es gegen den Totalitarismus aller Couleur, kommt er nun faschistisch oder kommunistisch daher. Die dagegen ankämpfen, stehen auf verlorenem Posten, werden enttäuscht, verraten und ermordet. Der Verrat durch Freunde und Genossen erzeugt Schmerz von biblischen Ausmaßen, den Manès Sperber seinen Lesern unter die Haut jagt. Man kann auf manchen Seiten wirklich verzweifeln. Wie aber gerade kleine Leute zu neuer Größe wachsen und in all dem Dreck ihre Würde behalten lässt einen dauernden Funken Hoffnung glimmen. Die Macht ist roh, brutal und mörderisch, wirkt unbezwingbar. Und doch gibt es sie, jene die dagegen ankämpfen, denen keine Aussichtslosigkeit Furcht versetzt, die sich erheben und gegen die Übel dieser Welt stemmen. Einmal heißt es im Roman über einen, der alles in die Waagschale geworfen: „Alles, was er bekämpft hatte war nur immer stärker geworden.“

Dojno Faber erklärt seinen Mitkämpfern:

Die Welt ist noch sehr jung. Sie hat noch nicht richtig zuhören gelernt. Ihr Gedächtnis behält das Ereignis des vorangegangenen Tages, nicht das der vorangegangenen Woche. Auf den Schulbänken sitzen die Leichen des kommenden Krieges. Nichts von dem, was sie lernen, wird sie befähigen, sich vor diesem Schicksal zu bewahren. Und ihre Eltern wollen uns nicht glauben.

Im Mittelteil des Romans heißt es:

Keinem kam ernsthaft der Gedanke, seinem Leben ein Ende zu machen, die Verzweiflung war noch immer nur die Ungeduld des Hoffenden.

Ein besonderer Mensch in Sperbers Monumentalwerk ist der Arbeiterführer Herbert Sönnecke. Der Fünfzigjährige mit dem gemarterten Körper, der verkrüppelten Hand und eiserner Energie. Anführer seiner Klasse aus Anstand und Charakter. Für die kleinen Leute und Gemarterten Tribun und Hoffnung zugleich. Furchtloser Kämpfer gegen Hitler im Widerstand gegen das Naziregime. Auf ständiger Flucht vor der Gestapo und SA-Schlägern lässt er das karge Feuer einer winzigen Hoffnung nie verglühen. Das Wort Kapitulation ist aus seinem Wortschatz gestrichen. Wer den Teil des Romans mit Sönnecke liest, wird künftig einen anderen Umgang mit dem Wort „Kumpel“ pflegen. Dieser Kämpfer Sönnecke, unbeugsam, Kommunist, Arbeiter und Mensch, adelt seine Zunft und zieht den Hass vieler Feinde auf sich. Sein Ende ist unausweichlich, er weiß es von Beginn an. Nicht seine Erzfeinde, die Folterknechte der Nazis in einem KZ oder mit ihren Drahtschlingen in Plötzensee zerstören dieses kämpfende Leben. Die letzten Wochen jenes Lebens, das da schon keines mehr ist, verbringt er bei den Genossen in Moskau in deren Terrorzentrale Lubjanka. Wieder meucheln sie mit Wonne einen der ihren. Verhöre, Folter, Demütigungen, ein Rattenloch und physischer wie psychischer Druck bestimmen diese letzten Tage. Man will nicht nur Hand an das Leben dieses Aufrichtigen legen, man will ihn vorher brechen. Der alte Kämpfer ist körperlich zerstört, beugt sich seinen Schergen dennoch nicht. Diese Prüfung vor sich selbst besteht er. Der Ohnmächtige trotzt diesen Mächtigen, die sich vor der Geschichte für immer beflecken, bis an sein Ende. Die Arbeiterklasse und woran er geglaubt, verrät er nicht vor der Partei, die in ihrem ideologischen Größenwahn immer recht haben muss. Er bleibt der Sache treu, die von dieser Partei längst verraten und in den Schmutz gezogen. Selbst im Angesicht des Todes wird er nicht deren Handlanger. Der Rest ein lapidarer Satz: „In der Nacht wurde Sönnecke liquidiert: hinterrücks erschossen.“ Was Sönnecke den Apparatschiks des Todes in endlosen Verhören entgegenschleudert, gehört zum intensivsten und menschlichsten, was Literatur einem Leser bieten kann.

Noch ein Auszug, wir befinden uns in einem Schützengraben bei Kämpfern, die der Niederlage ins Auge sehen und sind dabei an der Seite von Hans:

Man starb nicht mit dem Ruf „Es lebe die Weltrevolution!“, wenn niemand da war, ihn zu hören. Nach alledem würde er sterben wie der Großvater, den die Schwindsucht erstickt hatte. Man kann das Leben verändern; der Tod ist immer der gleiche. Hans glaubte, nun ganz wach zu sein, er war durstig, aber seine Flasche war leer. Ihn fror. Er konnte sich wohl im Graben zusammenkauern, er würde hören, wenn jemand sich näherte. Doch nein, es würde zu spät sein, er durfte sie nur bis auf 200 Meter herankommen lassen. Er wollte sich erheben, der Atem ging ihm aus, noch eine Weile, dann würde es besser werden, er wird sich dann ans MG stellen und bis zum Schluss stehen bleiben. Nein, nein, hier kommt niemand durch. Jemand rief. Er würde sofort antworten, nur eine kleine Minute, sofort. Er antwortete nicht, er starb. Niemand hatte ihn gerufen.

Eine Moral verbreitet der Autor Sperber nicht, er lässt seinem Leser die Freiheit der Entscheidung. An einer Stelle steht etwas für alle Generationen und Zeiten, es reicht weit über ein Buch hinaus:

Die meisten Menschen werden deshalb politisch nie klug, weil sie, was sie erleben, erst erfahren, wenn es Vergangenheit geworden ist. Erst beim zweiten Erlebnis erfahren sie, was sie nachdem ersten so leicht vergessen haben. Es naht die Zeit, da die Gunst der zweiten Warnung nur noch besonderen Glückspilzen gewährt wird.

Wenn man also auf besagter Insel so am Strand döst, dabei auf das Boot am Horizont wartet, kann man sich die Wartezeit im Schatten einer Palme doch bestens mit der Lektüre von Manès Sperber vertreiben. Man wird so gefesselt, dass man Raum und Zeit vergisst. Versprochen. Kommt dann überraschenderweise doch Gesellschaft in Form von Frau oder Herrn Freitag des Weges, lässt sich die Lektüre mit einem Lesezeichen durchaus unterbrechen. Man ist bei Neustart sofort wieder im Sog. Natürlich kann man das ganze Zeug mit der Insel auch weglassen und „Wie eine Träne im Ozean“ im heimischen Sessel, auf dem Balkon, einer Parkbank oder der Wiese am Baggersee lesen. Bereichert wird man durch diesen Lesestoff auf jedem Fleck unserer Erde. Garantiert. Hiermit sei eine gute Lektüre gewünscht. Dieses Buch sollte man einmal im Leben gelesen haben und dann bitte unbedingt weiterempfehlen.

Das letzte Wort gebührt Manès Sperber:

Gleichgültigkeit ist die sicherste Stütze aller Gewaltherrschaft.

Manès Sperber

BIOGRAPHIE

Der Schriftsteller Manès Sperber wurde am 12. Dezember 1905 in Zablotów, Ostgalizien (Heute: Zabolotiv, Ukraine) geboren und starb am 5. Februar 1984 in Paris. Die Jugend verbrachte Sperber in Wien und gehörte zum Schüler- und Mitarbeiterkreis des Arztes und Psychotherapeuten Alfred Adler. 1927 ging Sperber nach Berlin und trat dort in die Kommunistischen Partei Deutschlands ein. Er erlebte das Ende der Weimarer Republik und den Beginn der Naziherrschaft. Im März 1933 wurde er verhaftet, floh später über Österreich und den Balkan, um 1934 nach Paris zu gelangen. Er fand in Frankreich Arbeit als Verlagsdirektor. 1937 verfolgte er mit Entsetzen aus der Ferne die Moskauer Schauprozesse gegen die alte Revolutionsgarde und brach für immer mit der Kommunistischen Partei. In dieser Zeit begann seine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus und der Rolle des Individuums in der Gesellschaft. Alles durch die Kraft seiner literarischen Mittel. Nach dem Sieg von Nazideutschland über Frankreich flüchtete Sperber in die Schweiz. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges kehrte Sperber 1945 nach Paris zurück und machte es zu seiner Wahlheimat. Manès Sperber hinterließ ein umfangreiches Romanwerk, Essays und Studien. Weit über seinen Tod hinaus wurden immer wieder Versuche unternommen, Sperber, der sich nie vereinnahmen ließ, zu vereinnahmen. Ob Fanatiker jeder Couleur, Putschisten, Kommunisten, Antikommunisten, Reaktionäre, Faschisten, Nationalisten oder Gewaltherrscher, die Liste derer, die sich an Sperbers Werk bedienen wollten, um genau das auszufiltern, was ihnen in den jeweiligen Kram und die Zeit passte, wäre lang. Auf dem Friedhof Montparnasse in Paris fand Manès Sperber seine letzte Ruhe.

Kein geringerer als Heinrich Böll verglich „Wie eine Träne im Ozean“ mit Tolstois „Krieg und Frieden“.

 

 

 

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