Kultur

Chapeau!

Die Französin Annie Ernaux, geboren in dramatischer Zeit am 1. September 1940, eine großartige Schriftstellerin mit Empathie, hervorstechenden menschlichen Qualitäten und von literarisch außergewöhnlichem Format, hat den diesjährigen Nobelpreis für Literatur gewonnen. Verdient gewonnen. Ihre Bücher sollten gelesen werden, immer wieder. Die Bücher von Annie Ernaux atmen den Geist der Freiheit, kämpfen für die Rechte von Frauen wie für die Rechte der Arbeiterklasse gleichermaßen. Ernaux schreibt sozial engagiert, beherrscht die große Sprache der Literatur und schreibt dabei dennoch immer verständlich für ihre Leser, nicht für elitäre Zirkel. Für die Literatur und Sprache von Annie Ernaux sollte man sich allerdings Zeit nehmen, nicht einfach darüber hinweglesen. Annie Ernaux spricht und schreibt nicht die Sprache des Neoliberalismus, der Macht und des Kapitals, bleibt stets engagierte Verfechterin einer sozialen Klassenliteratur. Sie ist die erste Französin, die den Nobelpreis für Literatur erhält. Über die Bücher der Annie Ernaux sagt die französische Politikerin Mathilde Panot:

Dank ihr spricht Frankreich durch die Stimme der Buchstaben zur Welt.

Das Nobelpreiskomitee für Literatur, Stockholm, 06. Oktober 2022:

Der Nobelpreis 2022 in Literatur wird der französischen Autorin Annie Ernaux verliehen. Für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt. Annie Ernaux hat gesagt, dass Schreiben ein politischer Akt ist, der uns die Augen für soziale Ungleichheit öffnet. Dafür benutzt sie die Sprache als „Messer“, wie sie es nennt, um die Schleier der Vorstellungskraft zu zerreißen. Schreiben wird zu einer scharfen Waffe, die die Wahrheit seziert.

Annie Ernaux entstammt der Arbeiterklasse und ist dieser zeit ihres Lebens immer treu geblieben, kein literarischer Ruhm oder materieller Erfolg haben sie ihre Klasse vergessen lassen. Eitelkeit oder literarische Elfenbeintürme sind ihr fremd. So ist es nicht verwunderlich, dass diese weltberühmte Autorin am Tag der Nobelpreisvergabe nicht einmal ans Telefon ging, als das Nobelpreiskomitee aus Stockholm ihr die Verleihung mitteilen wollte. Andere Autoren, die sich Hoffnung machen, liegen meistens schon des Nachts auf dem Telefon. Madame Ernaux hatte einfach Besseres zu tun, erfuhr dann eher nebenbei aus den Medien von ihrem Triumph. Es ist sicher nicht verwunderlich, dass diese Autorin aus der Arbeiterklasse eine engagierte Unterstützerin der „Gelbwesten“ ist und eine Gegnerin der neoliberalen Politik von Präsident Macron. In den letzten Wahlkämpfen hat Ernaux ihre Stimme für den linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon erhoben, später das von ihm geschmiedete Wahlbündnis der linken Kräfte Frankreichs (NUPES) persönlich unterstützt und andere Unterstützer dafür mobilisiert. Trotz ihres Alters unermüdlich und kämpferisch an der Seite der sozialen Kräfte, der Armen und Opfer des Kapitals. Ihr Instrument in diesen Kämpfen der Zeit natürlich stets das Wort:

Die Macht der Worte. Ein Wort kann dich beschämen. Worte verletzen dich. Sie töten dich buchstäblich. Oder im Gegenteil, sie verzaubern dich. Worte, die nicht unbedingt an dich gerichtet sind. Aber die bei dir bleiben. (Annie Ernaux, Interview, France 5, 04.05.2022)

Chapeau! Annie Ernaux.

Wer so exponiert auf der linken Seite des politischen Spektrums kämpft sammelt natürlich Feinde an und hat Diffamierungen und Herabsetzungen zu ertragen, da macht Frankreich keine Ausnahme. Gerade solche Geschichten sollten an glanzvollen Tagen nicht vergessen werden. Eine besonders ekelhafte sei deshalb hier geschildert, weil sie zeigt mit welch perfidem Vokabular sich auch über Annie Ernaux hergemacht wurde. Trotz solcher Anfeindungen wich Ernaux übrigens nie von ihren Positionen und Überzeugungen ab um es sich vielleicht leichter zu machen. Daniel Cohn-Bendit, einst Vorzeige-68er-Revolutionär auf den Barrikaden von Paris, damals von Freund und Feind noch „Dany le rouge“ (Rote Dani) genannt, landete nach der knapp verpassten Revolution irgendwann bei den französischen und den deutschen Grünen, dort an der Seite seines alten Kumpels Joschka Fischer. Atemberaubender als alle Grüne vor und nach ihm wurde er „Realpolitiker“ oder anders gesagt, ein fürchterlicher Opportunist. Keine linke Position, die der auch heute noch sehr wortgewaltige Cohn-Bendit nicht räumte, wenn der rechte Zeitgeist es verlangte. Längst schwimmt Cohn-Bendit auf der Welle grüner Bellizisten mit, ist den Neoliberalen in Frankreich wie in Deutschland willkommener Stichwortgeber, so es gegen linke Kräfte geht. Als nützlicher Idiot der neoliberalen Politikelite wanderte er im französischen Präsidentschaftswahlkampf durch die Medien. Es galt Emmanuel Macron zu verteidigen und anzupreisen, zugleich als angeblich linker grüner Politiker, als der er sich scheinheilig immer noch verkauft, den linken Kandidaten Mélenchon zu bekämpfen. Bei diesem Kampf geriet auch Annie Ernaux ins Visier von Cohn-Bendit. In einer TV-Sendung entblödete sich Cohn-Bendit nicht, folgende Entgleisung zu begehen:

Annie Ernaux, die Mélenchon unterstützt, ist mit Sartre zu vergleichen, der Stalin unterstützte.

5.12.2021. Cohn-Bendit (Links im Bild.) wütet während einer TV-Sendung mit seinem Hass auf Mélenchon auch gegen Annie Ernaux.

Reaktionäre Tonalität und Verkürzung in Reinkultur, inklusive rechter Diffamierung. Der infame Angriff auf Ernaux und Mélenchon hat Cohn-Bendit mehr entlarvt als diese beiden getroffen. Mélenchon mit Stalin in einen Topf zu werfen, zeigt auch die ganze Bandbreite von historischer Dummheit, die ein angeblicher Intellektueller aufzubringen vermag. Dem ruchlosen Opportunisten Cohn-Bendit wollen wir hier natürlich nicht das Feld in Sachen Annie Ernaux überlassen. Deshalb greifen wir ganz bewusst zu den Worten, die Jean-Luc Mélenchon fand, als er heute vom Nobelpreis für Annie Ernaux erfuhr:

Annie Ernaux, Nobelpreisträgerin für Literatur. Man weint vor Glück. Die französischsprachige Literatur spricht eine feine Sprache zur Welt, die nicht die Sprache des Geldes ist.

Freude über den Nobelpreis an Annie Ernaux. Jean-Luc Mélenchon. (Foto: JLM)

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH auch von GERADEZU an Annie Ernaux. Chapeau!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert