Interessantes

Clausewitz behält Gültigkeit

Hierzulande zählt, was medial verblasen und der Mehrheit als Wahrheit eingepaukt wird. Wunderbar immer wieder die Formulierung „Faktencheck“, die impliziert, es muss stimmen und richtig sein, weil es ein Faktencheck. Wer da weshalb und warum gerade in Zeiten des Krieges für wen Fakten findet und solche überbringt, egal. Geglaubt wird viel bis alles oder auch nichts. Diese hausgemachte Verwirrung der Leute ist durchaus willkommen. Tucholsky dreht sich in schwedischer Erde vor Gram oder Bestätigung („Die Verblödung des Bürgertums ist vollständig.“), weil 90 Jahre bei den Menschen nichts verändert haben. Einem Herrn aus Großbritannien, der, ganz anders als Tucholsky, weder ein Pazifist und nun wahrlich kein Antimilitarist, würden hierzulande die Bellizisten, mit Unterstützung jener Faktenchecker in den Mainstream- und Konzernmedien sowie den Kriegspredigern der Social Media Blase, dennoch jeden verfügbaren Kübel Diskreditierung über sein Haupt schütten. „Putin-Freund“, „Pazifist“, „Kommunist“, „Demokratiefeind“, „Verräter“, „Feind der Freiheit“ usw. hallte es diesem Briten aus schweren Propagandawaffen entgegen. Dieser Herr sagt nämlich unverblümt, was er beobachtet und analysiert, lässt sich in Großbritannien nicht ganz aus dem öffentlichen Meinungsbild herauslösen, findet auch nicht immer mit allem Gehör und eckt in sämtlichen Winkeln politischer Gesäßgeografie an, ob nun links, rechts, oben, unten, hinten oder vorn. Herr trifft es ehrlicherweise nicht ganz, es handelt sich schließlich um einen Lord, worin die Briten pingelig. Für GERADEZU wäre die Sache mit dem Lord wahrlich kein Grund zur Berichterstattung. Was der Mann allerdings an Beobachtung und Wissen verbreitet, macht ihn interessant und seine Äußerungen wichtig. Zumal wir in einem heimischen Medienumfeld leben, wo es an Kompetenz und realistischer Information wie an klarer Sicht in den Dingen des Ukrainekonflikts so arg mangelt wie Wasser in der Sahelzone fehlt. Dem Internet sei dank, dass man nicht mehr von heimischen Medien leben muss. Welch grausiger Gedanke, es wäre noch so.

Richard Dannatt im Dienst. Generalstabschef des britischen Heeres von 2006-2009. (Foto: BBC-News)

Die Rede ist von Lord Richard Dannatt, General a. D. und von 2006 bis 2009 Generalstabschef des britischen Heeres. Einer der angesehensten Militärbefehlshaber der letzten Jahrzehnte in Großbritannien. Dannatt kümmerte sich engagiert um Belange von Soldaten, deren höhere Besoldung ihm Anliegen war. Daher eckte er mit seiner Geradlinigkeit oftmals auch beim politischen Establishment an. Als Lord Dannatt 2009 seinen Abschied nahm, blickte er auf 38 Dienstjahre in der britischen Armee und Erfahrungen als Offizier im Bosnien- und im Kosovokrieg zurück sowie als Soldat im langlebigen und bitteren Nordirlandkonflikt. Hochdekoriert und geehrt landete Dannatt nach seiner Dienstzeit natürlich – für Britannien nicht unüblich – im House of Lords und gehört weiterhin zu den Eliten des Königreiches. Dannatt will, kann und muss nichts mehr werden, hat sozusagen ausgesorgt. Was die Freiheit des Wortes oftmals zusätzlich beflügelt, weil eben das Fallbeil materieller Zwänge nicht mehr über dem Haupt schwebt. In Sachen militärischer Fragen, Kriege und Konflikte wurde Dannatt ein gern gesehener und gehörter Analytiker in britischen Medien. Ein Profi, der weiß, worüber und wovon er spricht. Zumal Dannatt Dinge direkt und verständlich benennt und nicht verschwurbelt, wie viele andere vorgebliche oder echte Experten. Als der Ukrainekonflikt zum Krieg wurde, gaben sich Medien bei Dannatt die Klinke oder den Monitor in die Hand. Der russischen Kriegsführung stellte der erfahrene britische General a. D. ein desaströses Zeugnis aus:

Jeden möglichen militärischen Fehler, den die Russen hätten machen können, haben sie gemacht und noch ein paar mehr, von denen wir nicht einmal geträumt hatten. Und dieser Angriff aus dem Norden ist spektakulär gescheitert. Eine Überraschung für jeden objektiven Militärbeobachter aus dem Westen. Ich denke, wir alle haben ihnen eine größere Fähigkeit zugeschrieben, als sie dann real gezeigt haben.

Privatmann Lord Dannatt in seinem heimischen Arbeitszimmer. (Bildrechte: Richard Dannatt)

So Dannatt die Ukraine und die NATO lobte, dabei gleichzeitig Putin und die russische Armee kritisierte, wurden seine Aussagen vielfältig transportiert und von unzähligen Medien an eine breite Öffentlichkeit weitergereicht. Hatte Dannatt Kritik an der Ukraine und eine andere Sicht auf die Russen als erwartet und angesagt, musste man die von ihm gemachten Aussagen in den sozialen Medien suchen, wo man fündig wurde. Dieses Muster ist hierzulande bestens bekannt und wird bei Bedarf angewendet. Die Angestellten von Massen- und Konzernmedien wissen natürlich auch in Großbritannien, wer sie bezahlt und wem sie zu dienen haben. Da kommt selbst ein hochdekorierter General unter die Räder von Ignoranz und Verschweigen. Aber ganz lässt sich solch eine Meinung dann doch nicht unter den Teppich des Meinungsmarktes kehren. Da Dannatt nicht irgendwer ist, hört immer irgendwo einer hin, merkt auf, bleibt aufmerksam und hilft bei der Verbreitung. Diese Schleuse können sogenannte etablierte Medien nicht mehr schließen. Am 24. August 2022, hörte der investigative britische Journalist und Buchautor Matthew Kennard genau hin und machte darauf aufmerksam, was der Generalstabschef a. D. Lord Dannatt in aller Öffentlichkeit sagte. Kennard ist Gründer von Declassified UK, einer der besten Blogs im Netz, sobald man sich mit Großbritannien beschäftigt. Starker und erstklassiger wie sauber recherchierter Investigativ-Journalismus auf hohem Niveau, wie man ihn nur noch sehr selten findet. Matthew Kennard verkörpert noch den Journalismus bester Schule: „Sagen, was ist.

Stets aufmerksam: Journalist Matt Kennard.

Lord Dannatt sprach nicht etwa auf einem Marktplatz oder vom Dach eines parkenden Autos vor einem Supermarkt. Er redete an einem Ort, der dem allerschrecklichsten Medienmogul gehört, nämlich bei Times-Radio. Besitz von Rupert Murdoch, dem Herrscher über Großbritanniens Meinung und Verblödung. Dass beim Antidemokraten Murdoch kein Linker, kein Pazifist oder gar „Putin-Freund“ zu Wort kommt, dessen Demokratieausnutzung noch wesentlich schlimmer ausgeprägt als einst die Demokratieverachtung von Alfred Hugenberg, muss sicher niemandem erklärt werden. Was der Lord und Ex-Generalstabschef auf Times-Radio zum Thema Ukraine meinte, gefiel allerdings in einigen Passagen so wenig, dass es außerhalb der Livesendung von Times-Radio weder Widerhall noch große Verbreitung fand. Times-Radio, dies gehört zur Korrektheit und soll nicht unterschlagen werden, hat die Sendung mit dem Ex-General inkl. der Social-Media-Kanäle des Senders nach der Übertragung beworben. Auch der Rat von Richard Dannatt, dass der ukrainische Präsident „Verhandlungen aufnehmen sollte, da Russland nicht verlieren wird“, wurde in den Meldungen im Wortlaut genannt.

Lord Dannatt am 24. August 2022 im Telefon-Interview mit Times-Radio.

Für interessierte Menschen hier die von Matt Kennard über soziale Medien verbreiteten Sendeausschnitte der Meinungsäußerung von General a. D. Lord Richard Dannatt in Times-Radio vom 24. August 2022 in deutscher Übersetzung:

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ukraine, auch wenn sie vom Westen erheblich gestärkt wurde, zahlenmäßig stark genug ist, um die Russen zu vertreiben. Russland wird diesen Krieg nicht verlieren. Wie auch immer ich die Sache betrachte, ich finde es ziemlich schwierig zu sehen, wie die Ukraine ihn gewinnen soll. Ich halte Begriffe wie „gewinnen“ und „verlieren“ in der Tat für die falschen Begriffe. Irgendwann wird dieser Konflikt wieder Gegenstand von Verhandlungen werden.

Es wird weithin berichtet, dass Russland inzwischen etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums kontrolliert. Die Vereinten Nationen, die Welt, die Medien, alle können den Russen sagen, dass sie gehen müssen, aber die Russen werden niemals freiwillig gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ukrainische Bevölkerung jemals stark genug sein wird, um sie zu vertreiben. Und der Westen, die NATO und wer auch immer, wird keine kuwaitähnliche Koalitionsoperation durchführen, um sie zu vertreiben. Irgendwann muss man also die Realität akzeptieren. Ein neuer Modus Vivendi zwischen der Ukraine, die nun nach Westen blickt, und Russland, das einen Teil des ukrainischen Territoriums kontrolliert, muss ausgearbeitet werden. Ich denke, das wird die neue Realität sein. Das ist für niemanden leicht akzeptabel, aber das ist die Grundlage, diesen Krieg im Großen und Ganzen auf Eis zu legen. Die Russen sind im Donbass so gut wie zum Stillstand gekommen, und obwohl die viel gepriesene Gegenoffensive bei Cherson zweifellos irgendwann stattfinden wird, sehe ich nicht, dass sie in nächster Zeit stattfindet. Die Ukraine hat ihre Kräfte noch nicht ausreichend gebündelt.

Ich denke, dass Boris Johnson ganz vernünftigerweise einen letzten Besuch machen möchte, bevor er aufhört, Premierminister zu sein. Aber ich denke, es unterstreicht die Stärke der britischen Unterstützung für die Ukraine. Unabhängig davon, wer Premierminister wird, denke ich, dass diese Unterstützung anhalten wird. Und ich denke, die hochrangigen Militäroffiziere, die neben Boris Johnson sitzen, würden das auch so sehen. Und natürlich ist es richtig, dass das Vereinigte Königreich, die NATO und alle anständigen westlichen Länder die Ukraine unterstützen, denn die Ukrainer kämpfen im Großen und Ganzen für die gleichen Werte wie wir. Ich denke also, dass es absolut vernünftig war, dass Johnson dort war. Aber es besteht die reale Gefahr, dass er dazu beiträgt, ihnen ein größeres Gefühl für die Kunst des Möglichen zu geben, ein größeres Gefühl für Optimismus, als es angebracht wäre. Eine Dosis Realismus legt wirklich nahe, dass es nicht Sache des Westens ist, sich auf Selenskyj zu stützen und jetzt zu sagen: Komm schon, Selenskyj, du musst der Realität ins Auge sehen. Denn dann würden die Ukrainer mit Fug und Recht sagen, dass der Westen, der sie erst ermutigt hat, sie jetzt an den Pranger stellt. Irgendwann müssen Selenskyj und seine Berater es selber erkennen. Die militärischen Befehlshaber müssen dazu raten: Sehen Sie, Herr Präsident, wir haben so viel getan, wie wir konnten, aber wir können die Russen wirklich nicht hinauswerfen.

Ich glaube, wir befinden uns in einer Patt-Situation. Präsident Selenskyj, Sir, Sie müssen mit den Verhandlungen beginnen.

Lord Dannatt führte noch bewusst wiederholend aus: „Es begann mit einem Scheitern der Verhandlungen. Jetzt gibt es eine Zeit der Kriegsführung“ und leitete aus lebenslanger militärischer und politischer Erfahrung ab, dass die Konfliktparteien aus seiner Sicht „irgendwann“ zu Verhandlungen zurückkehren werden und schloss mit der oft zitierten Erkenntnis des Generals Carl von Clausewitz:

Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

*Titelbild: Carl von Clausewitz (Gemälde von Wilhelm Wach, 1820)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert