Interessantes

Frustrierender Zieleinlauf

Der Wahlkampf seit Freitag offiziell beendet. Leben und Politik gehen aber unbarmherzig weiter. Die politisch interessierten Menschen in Frankreich, die seit heute Morgen an die Wahlurnen gehen, schweben eher in einem Zustand zwischen gleichgültig, ernüchtert und frustriert als in einer freudigen Aufbruchstimmung, so sie auf die zwei Zettel ihrer Wahlmöglichkeit blicken. Am Vorabend dieser zweiten Runde Macron gegen Le Pen waren erneut Gelbwestenproteste auf den Straßen von Paris. Sie zeigen jetzt schon an, was sie von der Agenda des Amtsinhabers und seiner Herausforderin halten und erwarten. Nichts Gutes für den Sozialstaat Frankreich und seine Menschen. Die Gelbwesten werden und können ein entscheidender Faktor für den Kampf gegen den Neoliberalismus bleiben, allein sind auch sie nicht siegesfähig. Frankreichs drei große Politikblöcke, die neoliberal-konservative Rechte (Macron, Pécresse), die neoliberal-nationale Rechte (Le Pen, Zemmour) und die Volksunion (Mélenchon) plus linker Sektierer (PS, Kommunisten, Grüne) greifen aktuell auf ein ähnlich starkes Wählerreservoir zu. Jeder Block verfügte über ca. 11 Millionen Stimmen, so man den ersten Wahlgang als gültigen Maßstab nimmt. Der Schlüssel für den Sieg bei der Parlamentswahl im Juni liegt zwar ein Stück weit bei den Gelbwesten, aber vor allem bei den 12,8 Millionen Nichtwählern. Sie stellten im ersten Wahlgang den größten Block, welcher hauptsächlich aus der sozial geschlagenen Unterschicht gewachsen ist. Diesen Block, worin auch viele Teilnehmer der Gelbwesten-Proteste zu finden, mehrheitlich zu mobilisieren und dann noch für sich zu gewinnen, ist Aufgabe jener, die sich im vielleicht letzten Versuch aufmachen, dem Neoliberalismus in den Arm zu fallen. Ob er gelingt, steht in den Sternen. Es ist eine fast unlösbare Aufgabe, der das große Scheitern durchaus innewohnen kann.

Kraft der Straße. Politischer Faktor, die Gelbwesten in Frankreich. (Foto: Screenshot Arte-Doku.)

Jene 12,8 Millionen Nichtwähler setzen keine Hoffnungen mehr in die Politik und die Politiker ihres Landes. Bei den Gelbwesten auf der Straße kann man sie allerdings finden. Dem System Politikbetrieb und dem Interesse an Mitwirkung über Wahlen haben sie sich dagegen längst entzogen. Jeder Politiker, jede Partei Frankreichs hat sie besonders in den letzten 20 Jahren schon mit Versprechungen und Unwahrheiten geködert (Sarkozy, Hollande, Macron), um im politischen Tagesgeschäft dann genau gegen diese Wähler frontal zu agieren. Wie sollen Menschen mit diesem persönlichen Erlebnishorizont noch für einen künftigen Urnengang und eine Wahlbeteiligung gewonnen werden? Insofern ist fast Nebensache, ob heute Abend beim politischen Zieleinlauf der erwarte Jubel eines Macron Sieges laut wird, der dann eher auf einer Le Pen Antipathie als auf einer Macron Sympathie basiert. Oder ob die Wähler ihre aufgestaute Abneigung gegen Macron tatsächlich in eine Le Pen Sensation umwandeln, diese zur ersten Präsidentin Frankreichs machen. Was dann auch wesentlich mehr eine Wahl gegen Macron und nicht für Le Pen wäre. Eines lässt sich im Rückblick auf den Wahlkampf deutliche erkennen. Die Probleme in Frankreich und vor allem die sozialen Auseinandersetzungen fangen mit dem Endergebnis so oder so erst richtig an.

*Titelbild: Gelbwesten-Proteste Paris, 23.04.2022, (Screenshot, Twitter Clip: M. Aiphan)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert