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Kein Zarewitsch in Sicht

In alter russischer wie sowjetischer Zeit waren hinter den meisten Herrschern die möglichen Nachfolgekandidaten erkennbar, deren Aufstieg oder Untergang sogar in Westeuropa manchmal sichtbar. Bei den Zaren war der Nachfolger stets mit dem Titel „Zarewitsch“ ausgestattet und dadurch wie natürlich durch Familienbande herausgehoben. Garantie für den Thronfolger, heil, gesund und lebend ins Ziel zu kommen, war dies allerdings nicht. Iwan IV., besser als Iwan der Schreckliche bekannt, soll seinen Thronfolger und Sohn Iwan Iwanowitsch in einem Wutanfall höchstselbst erschlagen haben. Peter I., ruhmreich als Peter der Große bekannt, warf seinen Zarewitsch und Sohn Alexei Petrowitsch ins Gefängnis, legte dabei nicht selbst Hand an diesen, ließ ihn aber von anderen zu Tode foltern. Raue und erbarmungslose Sitten. Dass die Revolution die Romanows als Familie ausradierte, lag in der grausigen Natur der Ereignisse. Schon die Französische Revolution hatte selbst vor dem 10-jährigen Sohn des geköpften Königs keinen Halt gemacht. Keine Glanzseite von Revolutionen, weder da noch dort. Die in Russland brachial entstandene Sowjetmacht wurde dann bald eine Gruppenherrschaft mit einem Spitzenmann. Die fällige Lenin-Nachfolge und Macht ging dabei schnell an Stalin, weil dieser sie sich nahm. Ihn interessierte keine Gruppe, er war nur für sich da. Seinen Widersacher Leo Trotzki, immerhin Macher der Revolution, Gründer der Roten Arme, diplomatischer Retter des Landes und Sieger im Bürgerkrieg, hatte keine Chance gegen die Verschlagenheit und Brutalität dieses Josef Wissarionowitsch Stalin. Schon zu Lebzeiten Lenins waren diese beiden Gegner absehbare Nachfolgekandidaten und genau darauf lief es letztendlich hinaus. Mit bekanntem Ausgang und einem Eispickel in Mexiko.

Iwan der Schreckliche mit seinem erschlagene Sohn. (Gemälde von Ilja Repin, 1885)

Stalins Soldaten und Offiziere besiegten Hitlers Wehrmacht und den Faschismus. Was Stalin, der da schon längst ein säubernder Massenmörder war, nicht nur zu einem zweiten Weltherrscher neben dem US-Präsidenten machte, sondern ihn endgültig in den Größen- und Verfolgungswahn gleiten ließ. Auch seine direkte Umgebung entging dem Henker selten. Dennoch waren selbst unter diesem blutrünstigen Diktator im Schatten seiner Mordmaschinerie an der Spitze von Partei und Staat der Sowjetunion immer Nachfolgekandidaten in der Gruppe seiner Lakaien vorhanden, über die spekuliert wurde. Als Stalin in seiner Datscha auf dem Teppich lag und sein Leben ausröchelte, traten bekannte Namen zum Machtkampf an. Georgi Malenkow gewann die Nachfolge, weil Stalins Bluthund Lawrenti Beria ihn antrieb und sein finsterer Schattenmann wurde. Beria der wahre Herrscher. Beider Namen lange im politischen Geschäft bekannt, im Westen ihr Aufstieg keine Überraschung. Weil Beria bald von seinen Genossen gestürzt und erschossen wurde, fiel auch der einfältige Malenkow. Sieger über diesen und damit dessen Nachfolger dann der bauernschlaue Nikita Chruschtschow. Ebenfalls kein unbekannter Sowjetführer, weil schon im Weltkrieg und in der Stalin-Ära immer irgendwie dabei.

Erst Abrechnung mit dem toten Stalin. Später von Breschnew gestürzt. Nikita Chruschtschow.

Leonid Breschnew war im Politbüro der KPdSU und damit im Zentrum der Macht, stürze dort seinen Chef Chruschtschow. Als der vergreiste Breschnew starb, war die Nachfolge aus dem Politbüro sicher. Nur die Frage nach dem Namen offen, es wurde dann der KGB Chef Juri Andropow, der nicht lange lebte und im Politbüro von einem noch kränkeren Greis beerbt wurde, von Konstantin Tschernenko. Alles irgendwie im normalen Bereich der Erwartungen und eben aus der Riege sehr alter und bekannter Funktionäre. Da nach dem verstorbenen Greis die anderen Greise einfach schon zu entkräftet, kam Michail Gorbatschow zur Führung, weil bei ihm nicht gleich das nächste Staatsbegräbnis geplant werden musste. Gorbatschow war im Westen als Name eine Überraschung, kam aber aus dem Politbüro, also keine wirkliche Sensation. Im Umfeld von Gorbatschow tauchte Boris Jelzin auf, bald der größte Widerpart des neuen Anführers. Als der naive, freundliche und oft ohnmächtige Gorbatschow mit seiner Perestroika fertig war, brach der Ostblock zusammen, fiel die Mauer und die angeblich große Sowjetunion zerbröselte wie eine Sandburg, wurde kleiner und wieder zu Russland. Der trinkfreudige Jelzin als Präsident dort Anführer eines korrupten Oligarchensystems. In Jelzins Russland war eine Präsidenten-Nachfolge schwer absehbar, bis kurz vor Jelzins Ende dann Wladimir Putin auftauchte, aus niederer KGB-Position und völlig unbekannt. Drei Jahren im Machtzentrum des verfallenden Jelzin reichten ihm, um dessen Nachfolger zu werden. Schon im letzten Jahr von Jelzin war allen Beobachtern klar, es wird Putin.

Erst Kommunisten und Genossen. Dann Gegenspieler und Feinde. Jelzin und Gorbatschow.

Und jetzt? Putin sitzt trotz der Ukraine anscheinend fest im Sattel. Gibt es Diadochen? Offenbar nicht. Jenen ehemaligen Platzhalter und Zwischenpräsidenten Dmitri Medwedew kann man wohl nicht als möglichen Nachfolger ansehen. Weit und breit kein Name, der ins Auge fällt oder heraussticht. Unter russischen Generälen keine Persönlichkeit und im Sicherheitsrat viele graue Funktionsträger. Weder ein politischer Sturz noch ein militärischer Putsch bedrohen die Zarenzeit des Wladimir Putin. Machtübergabe, Rücktritt und andere Optionen stehen nicht auf der Tagesordnung. Es mangelt eindeutig an der dafür nötigen Person. Vor Jahren, so ungefähr bis 2016, war ein leibhaftiger Generaloberst möglicher Nachfolgekandidat unter Insidern. Sergei Borissowitsch Iwanow war nach seiner Militärära beim Geheimdienst Putins Stellvertreter, später dessen Verteidigungsminister und leitete von 2011 bis 2016 die Präsidialkanzlei, das eigentliche Machtzentrum im Kreml. Putin und Iwanow sind enge Vertraute, Gefährten aus Leningrader Geburtsrecht. Aber das ist Vergangenheit. Seit seinem 2016 erfolgten Rücktritt von diesen Schalthebeln der Macht ist Iwanow Sonderbeauftragter des Präsidenten der Russischen Föderation für Umweltschutz, Ökologie und Verkehr, so jedenfalls sein Titel. Was immer das sein mag. Sergei Iwanow kannte Politik, Geheimdienst und Militär aus der Nähe und persönlichem Erleben. Er verfügt über enorme Erfahrungen, besitzt Charisma. Fast ein natürlicher Präsident, aber nur ein Jahr jünger als Putin. Doch die Messe ist gesungen und vorbei. Iwanow hat das Zentrum um Putin verlassen, sitzt allerdings weiter im einflussreichen Sicherheitsrat.

Sergei Iwanow. Wie Putin aus Sankt Petersburg (Leningrad). Einst als Nachfolger gehandelt.

Ein Militär ging, ein Bürokrat kam. Leiter der Verwaltung des Präsidenten der Russischen Föderation ist in Nachfolge von Generaloberst Iwanow der 1972 in Tallin geborene Anton Vaino. Einen künftigen Präsidenten sieht niemand in ihm. Aber so wurde auch über Putin einst gesprochen. Schwer vorstellbar auch Michail Mischustin, Jahrgang 1966. Er ist seit 2020 Ministerpräsident von Russland, also Regierungschef und gilt als fleißiger und effektiver Apparatschik. Als Anführer einer Weltmacht schwer vorstellbar. Wer dann? Keine Ahnung. Niemand weiß Genaues. Hinter den Kremlmauern bleibt es dunkel und geheimnisvoll, was Korridore der Macht bei globalen Supermächten durchaus gemeinsam haben. Also sehr wahrscheinlich, dass Putin sich 2024 erneut wählen lässt. Eine Macht, die ihn stürzt, nicht in Sicht, eine Person, der er den Laden übergibt, ebenfalls nicht. Ob er jemanden aufbaut, ist nicht erkennbar. Russland bleibt so rätselhaft wie sein politischer Machtapparat. Daher eigentlich nichts Neues an der Kremlmauer.

*Beitragsbild: Joney Brain auf Pixabay

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