Interessantes

Krieg gegen Armenien

Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew ist Alleinherrscher, darin Nachfolger seines Vaters Heydər Alijew, mit dem er nicht nur die Präsidentschaft und den Alleinherrscher gemein, sondern auch den Hang zum übersteigerten Personenkult. Vater wie Sohn, Diktatoren hinter dem durchsichtigen Vorhang einer angeblichen Demokratie. In Wahrheit durch und durch korrupte wie skrupellose Autokraten. Der derzeitige Präsident Ilham Alijew hat nun beschlossen, das Nachbarland Armenien militärisch ein bisschen anzugreifen. Armenien übrigens im klaren Unterschied zu Aserbaidschan eine Demokratie. Bei seinem Coup gegen Armenien kann sich Ilham Alijew auf einen anderen Autokraten verlassen, den türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan, der ihm für diese Operation den Rücken stärkt. Armenien ist zwischen der Türkei und Aserbaidschan wie in einem Schraubstock eingezwängt. Verlassen kann sich Alijew natürlich auf den sogenannten Westen, der sich gerne „freier Westen“ nennt und die Demokratie als entkernten Begriff wie eine Monstranz vor sich herträgt, bevorzugt als moralisches Schild gegen andere und Podest für sich selber. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich Schild wie Podest eher als Heuchelei und Doppelmoral.

Ein historischer Einschub muss sein. Die Türken, so etwas darf nicht unerwähnt oder vergessen bleiben, haben sich im letzten Jahrhundert durch einen Völkermord an den Armeniern hervorgetan, bei dem Europa kollektiv wegsah. Imperialisten und Monarchien hatten gerade den 1. Weltkrieg über die Völker gebracht. Zwischen 1915 und 1923 wurden durch türkische Massaker und die von Türken erzwungenen Todesmärsche nach seriösen Schätzungen um die 1,5 Millionen Armenier zu Tode gebracht. Ein Genozid.

Das stets verlässliche europäische Wegsehen, so deren Interessen gewahrt bleiben, selbst im Falle eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, hatten die Aserbaidschaner offenbar auf ihrem kalkulierenden Zettel. Alijew wird ein aktuelles Beispiel im Kopf haben. Der Krieg von Saudi-Arabien im Jemen und die enormen zivilen Opfer, darunter viele Kinder, interessieren die Verantwortlichen der deutschen und europäischen Politik schließlich offen und erkennbar überhaupt nicht. Wer legt sich schon mit Saudi-Arabien an? Europa, also jene, die sich dafür ausgeben und halten, schaut natürlich gerne weg, wenn es dafür etwas zu ernten gibt. Der Grund bei Aserbaidschan ähnlich gelagert wie bei Saudi-Arabien. Erst im August dieses Jahres hat die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen mit Diktator Alijew eine Energiepartnerschaft für Europa besiegelt. Es geht um deutlich erhöhte Gaslieferungen aus Aserbaidschan. Was stört da ein Diktator. Der ist nur das Böse, so er in Moskau sitzt. In Riad, Doha oder eben in Baku sind Diktatoren Partner. So einfach regelt sich die Welt, oder was die Europäer glauben, dafür halten zu dürfen. Alijew hat diese Kumpelei mit seinen europäischen Partnern gleich als Freibrief gegen die Armenier genutzt und führt nun Krieg gegen diese.

In Armenien sind aktuell Demokratie, Land, Menschen und Freiheit durch einen militärischen Angriff bedroht. War da was?

In Deutschland bläut der Springer-Konzern umgehend die Köpfe der Leute. Armenien sei „Moskau nahestehend“ und das sei „Putins neuer Krieg“. So einfach und billig funktioniert Lüge, Verdrehung und Propaganda. Ebenfalls sind noch keine Bild-Redakteure in den Schützengräben der Armenier aufgetaucht. Der Rest neben Springer ist längst nicht besser. Die sogenannte bürgerliche Presse, Betonung auf bürgerlich, das soll seriös wirken, singt das Lied ähnlich. Die FAZ besonders merkwürdig und perfide: „Armenien wirbt hektisch um Unterstützung. Hingehalten wird das Land von seiner früheren Schutzmacht Russland.“ Der Spiegel stellt ebenfalls flott Augenhöhe der Angreifer mit den Angegriffenen her. „Aserbaidschan gegen Armenien“ heißt es da im Ton einer beginnenden Schachpartie. Deutliche Benennung des Aggressors Fehlanzeige.

Oder der Deutschlandfunk, einigen als Hort seriöser Berichterstattung letzte Burg der Wahrheit. Dieser meldete heute „Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan“. Das ist so nicht korrekt. Es muss schon gesagt werden, hier sind nicht zwei zum Kampf angetreten, sondern der eine, nämlich Aserbaidschan, hat den anderen, nämlich Armenien überfallen. Und außerhalb der Hugenberg-Moral unserer Medien? Irgendwo ein Aufschrei? EU, NATO und Annalena Baerbock an der Seite Armeniens und das Bellizisten-Duo Anton Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann unterwegs in Talkshows, um Aserbaidschan zu verurteilen und Panzer für Armenien zu fordern? Geht ja nicht. Talkshows in Deutschland kümmern sich nicht um Armenien, laden lieber den durch Faschistenverherrlichung und Holocaust-Verharmlosung aufgefallenen Andrij Melnyk ein, damit der weiter seinen unsäglichen und gefährlichen Humbug verbreiten kann. Ob auf Twitter die Armenienfähnchen jetzt in Nachbarschaft zu den Ukrainefähnchen wehen, kann jeder selbst überprüfen. Aber der Twittergemeinde als Masse ist das Schicksal der Armenier so Wurst, wie der politischen Klasse. Es soll mit dieser flapsigen Formulierung nicht der Eindruck erweckt werden, es ginge um die Wurst. Mitnichten. Es geht natürlich ums Gas.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Die EU (von der Leyen)  und der Diktator (Alijew). (Foto: Screenshot ARD-Tagesschau)

Ob Gas gut oder schlecht, also von einem bösen oder nach unseren Maßstäben guten Diktator kommt, bestimmen halt wir, die Pächter der Moral auf Erden. Natürlich nicht wir Bürger, sondern unsere politische Klasse und die neoliberale Politik-, Medien und Wirtschaftsallianz, deren Maßstäbe mehr der Chicagoer Schule und dem World Economic Forum entlehnt sind und wahrlich nicht den Zehn Geboten entspringen. Gerhard Mangott, an der Universität Innsbruck Professor für internationale Beziehungen und durch Forschungsarbeiten zur russischen und amerikanischen Außenpolitik bekannt, twitterte die nüchterne Realität am 13.09.2022: „Der neue Gas-Freund der EU, der azerische Diktator Aliev, führt im Windschatten des Ukrainekriegs militärische Angriffe gegen das Staatsgebiet Armeniens durch.“ (Schreibweise Prof. Mangott)

Kritisiert die EU den Angriffskrieg einer Diktatur auf eine Demokratie? Ja und nein nach Gutsherrenart. In diesem Verfahren hat Armenien eben wieder einmal historisch Pech. Damit sind die Armenier nicht allein. Pech haben auch diejenigen, die gerne werbend für die deutsche Außenministerin zu Felde ziehen, um sich und anderen dabei zu verkaufen, bei Annalena Baerbock wären Moral, Ethik, Frieden, Freiheit, Demokratie und alles Gute dieser Welt politischer Maßstab. Natürlich nicht. Baerbock ist eine Opportunistin und vertritt Interessen. Diese Interessen liegen in Kiew und Baku, nicht in Jerewan. Wieder Pech für die aufrechten und verzweifelten Armenier. In Anbetracht von Verlogenheit und Doppelmoral in Politik, Wirtschaft, Medien und auch der Social Media Blase könnten die Armenier mit Recht an dieser Welt verzweifeln.

Nicht überall wird geschwiegen. Frankreich steht in der Außenpolitik immer noch auf dem von de Gaulle bereiteten Boden und nicht in Brüssel oder Washington bei Fuß, egal wer gerade Präsident im Land. Somit konnte auch der aktuelle französische Präsident Emmanuel Macron nicht schweigen. Macron forderte Alijew auf, „die Feindseligkeiten zu beenden und zur Achtung des Waffenstillstands zurückzukehren“. Nach einem Telefongespräch zwischen Emmanuel Macron und dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan erklärte das Büro des Präsidenten: „Frankreich wird die Situation vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bringen, dessen Präsidentschaft es derzeit innehat.“

Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan. (© Armenische Regierung)

Halten wir fest, dass Aserbaidschan einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Armenien begonnen hat. Armenien wurde gleichzeitig an mehreren Stellen im Grenzverlauf und aus der Luft überfallen und angegriffen. Wo bleibt die europäische und deutsche Empörung über Aserbaidschan und die Solidaritätsadresse für Armenien? Nichts. Das deckt allein das Ausmaß an Heuchelei auf, welches uns in Medien und von Politikern Tag für Tag geboten wird. Das Wort ist „Angriffskrieg“, nicht „Kämpfe, die ausgebrochen“. Hören wir etwas von Sanktionen gegen das Regime in Aserbaidschan? Washington schweigt, da schweigt auch Europa. Welch erbärmliches Bild dieses Kontinents. Was glauben Europäer, die gerne das Wort „Welt“ wie die Herren über diese in den Mund nehmen, sich in Reden herausnehmen, im Namen jener Welt zu sprechen, was in der Welt über Europa gedacht wird? Die Journalistin Sonja Eichert (Redaktion @tonline) brachte anders als viele etablierte Journalisten und verschleiernde Konzernmedien das Ausmaß von moralischer Verkommenheit auf den Punkt:

Vor knapp zwei Monaten bezeichnete Ursula von der Leyen Aserbaidschan noch als „vertrauenswürdigen Partner“. Nach den Angriffen in Armenien gibt es von ihr auch auf Nachfrage kein Statement. Das Schweigen ist laut – und nicht nur sie schweigt.

Der in Lateinamerika lebende und arbeitende internationale Journalist und Filmemacher Benjamin Norton fasste die Situation und wie diese in Süd- und Mittelamerika wahrgenommen wird, wie folgt zusammen:

Aserbaidschan hat einen unverhohlenen Angriffskrieg gegen Armenien begonnen, und die europäischen Imperialisten, die Russland endlos verurteilen, werden nichts dagegen unternehmen, weil sie Aserbaidschans Energie brauchen. Keine Sanktionen, keine Kritik. Das ist die „regelbasierte Ordnung“ des Westens. Während Aserbaidschan einen brutalen Krieg gegen Armenien führt, rühmen sich die staatlichen US-Propagandasender Radio Free Europe und Radio Liberty „dass Aserbaidschan seine Erdgasexporte nach Europa in diesem Jahr um 30 % steigert“. Wer westlichen imperialen Interessen dient, kann Nachbarn ohne Konsequenzen angreifen.

Um die Armenier und ihr ewiges und aktuelles Leid nie zu vergessen, hat Franz Werfel 1933 einen der humansten und wichtigsten Romane der Weltliteratur geschrieben und uns hinterlassen. Jeder Mensch sollte dieses Buch einmal im Leben lesen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert