Kultur

Leichtigkeit für den Urlaub

Im Sommer, zumal im Urlaub und den Ferien, sollte es den Menschen vergönnt sein, der Leichtigkeit des Seins zu frönen. Da jeder unter Leichtigkeit etwas anderes versteht, wird sich an dieser Stelle gehütet ungebetene Ratschläge feilzubieten. Ein Lese-Tipp sei dennoch gestattet, welcher echte Entspannung über genau diese Leichtigkeit herbeizaubert. Ein wunderbarer Roman soll empfohlen werden. Eines dieser Bücher, die man im Leben mehrmals liest und die immer wieder bestens unterhalten. Natürlich kann man auch ‚Krieg und Frieden‘, ‚Germinal‘ oder ‚Ulysses‘ in den Urlaub mitnehmen. Es gibt Menschen, die lesen Kafka am Strand. Warum auch nicht? Es gibt weniger gewichtige Literatur, die dennoch Qualität vorweist und dabei äußerst lesenswert daherkommt. Hier ist die Rede über ein zeitloses Buch, geschrieben in Frankreich im Jahr 1934. Wobei zeitlos sich vor allem auf das wunderbare Figurenpanorama bezieht. Die Szene spielt in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg. Eine Zeit, die man in Deutschland fälschlich wie trügerisch „Goldene Zwanziger“ nannte. Dass in einem Buch, welches in jenen Jahren spielt und 1934 verfasst wurde, niemand auf die Hilfe irgendeiner App zurückgreift, sollte man einem Buch und seinem Autor nicht vorwerfen. Die Menschen erledigen Wege noch mit dem Rad und führen persönliche Gespräche, anstatt zu chatten. Dennoch sollte man den Roman nicht als altmodisch oder überholt abtun. Zumal die meisten Bücher der heutigen Zeit besonders auf dem Gebiet von Ironie und Satire mit diesem nicht mithalten können.

Gabriel Chevallier in späten Jahren.

Der 1895 in Lyon geborene Franzose Gabriel Chevallier war eine Menge in seinem Leben. Plakatmaler, Journalist und Handelsreisender. Zwischendurch schrieb er Bücher. Dabei gelang ihm 1934 der große Wurf. ‚Clochemerle‘ wurde ein Kultbuch für viele Franzosen, dessen Legende bis heute anhält. In Frankreich zum nationalen Gut gehörig wie La Mer, Montand & Signoret, die Piaf, Louis de Funès, Coq au Vin oder Pastis. Clochemerle ist bei unseren Nachbarn längst in die Alltagssprache eingegangen. Die weltweiten Übersetzungen ebenfalls ein Erfolg. So etwas zog natürlich Verfilmungen nach sich. (Ausgerechnet die Briten und die BBC machten aus diesem französischen Stoff 1972 eine 8-teilige TV-Serie. Der Mensch in seiner Bedrängnis, Lust und Lächerlichkeit ist eben grenzüberschreitend wie international.) Clochemerle war in Deutschland immer ein Publikums- und Lesererfolg. Solch ein Erfolg, zumal über einen verständlichen Stil erworben, fand und findet natürlich bei deutscher Literaturkritik wenig Anklang. Wo käme man hin, wenn Autoren Bücher schreiben, die normale Leser sofort verstehen. Chevallier konnte manch Ignoranz gut verkraften, sein Buch wurde ein Welterfolg und ist es über viele Jahrzehnte geblieben. Der Erfolg erklärbar.

Französische Erstausgabe mit Fantasiewappen.

Gabriel Chevallier bedient sich einer Sprache, die verständlich und auch in der Übersetzung trefflich daherkommt. Ein Schriftsteller, den man sofort versteht, weil er schreibt, was er meint und nicht mit Wortdrechselei und Satzgebirgen Rätsel aufgibt. Die Einfachheit ist hier Programm und Stilmittel. Einfachheit bitte nicht mit der hierzulande zwischen Buchdeckeln so gern verkauften Trivialität verwechseln. Clochemerle bietet Qualität und ein pralles Leben. Man wird gut begleitet, ob nun am Strand, auf dem Balkon oder der Terrasse. Am Tag oder Abend bei Kaffee oder Wein, Clochemerle sorgt für Entspannung und Unterhaltung der guten Art. Der dem Buch seinen Titel gebende Ort Clochemerle ist natürlich fiktiv, lässt sich aber geografisch nördlich der Stadt Lyon im Weinbaugebiet Beaujolais verorten. Die kleine Gemeinde Vaux-en-Beaujolais wurde irgendwann als Vorbild für Clochemerle ausgeben, seither klappt es dort bestens mit dem Tourismus. Das nicht existierende Clochemerle hat natürlich längst ein in ganz Frankreich bekanntes Stadtwappen.

Neues Fantasiewappen von ‚Clochmerle‘ (Wikipedia)

Selbstverständlich spielen der Wein und die Besonderheiten der Region in Chevalliers Buch eine gewichtige Rolle. Die Hauptrolle spielen aber Menschen in all ihrer Unzulänglichkeit, mit vielen liebenswerten Schrullen und jedweder Boshaftigkeit und Verschlagenheit. Ein Sammelsurium von Charaktereigenschaften und menschlichen Schwächen zwischen Leben, Liebe, Kampf und Verderben. Als Leser bewegen wir uns unter gerissenen Weinbauern. Gutes Leben ist in Clochemerle durchaus greifbar. Das Panorama der uns angebotenen Figuren ist schon die halbe Miete. Kleine Charakterporträts, die es in sich haben. Jeder Leser wird irgendwen erkennen und wiedererkennen, dessen Eigenschaften ihm – im Guten wie im Schlechten – schon einmal über den Weg gelaufen sind. In Clochemerle herrscht eine latente Lüsternheit, der Wein macht locker. Eines haben Einwohner und Fremde gemeinsam, sie sind allesamt verschrobene Heuchler. Gerade darin das Buch mehr als aktuell und sehr heutig. Natürlich wird der Wein geliebt, wir sind schließlich im Beaujolais.

Im Beaujolais wird der burgunderrote, lauwarme Wein, der aus der Kelter kommt, „Paradies“ genannt. Man trinkt ihn mit einer Hand auf dem Herzen und wünscht sich dabei etwas. (Bernard Pivot)

Alle in und um Clochemerle bekommen vom Autor ihr Fett weg, Chevallier verschont keinen. Politiker, Republikaner und Katholiken, Militärs wie Pfaffen, die versoffenen Zeitgenossen wie die bigotten Erdenbürger, die Reichen und die Armen, geile Böcke wie sexuelle Schnarchnasen. Niemand ist vor Chevalliers spitzer Feder sicher. Der Bürgermeister hat Ambitionen und weiß sich Erfolge in die Tasche zu schieben, Misserfolge anderen anzuhängen. Sein nützlicher Idiot ist der Lehrer, der sabbernd und beflissen auf eine Auszeichnung wartet. Der Arzt im Ort besuchte während des Studiums lieber Bordelle, Kneipen und die Rennbahn. Daraus resultieren allerhand fehlende Kenntnisse, die er durch Brutalität wettmacht, vor allem bei den Zähnen seiner Patienten. Es gibt natürlich die obligate Apotheke und eine Kneipe mit rustikalem Personal. Der Notar im Ort gehört zu den sehr Reichen, sein Geld und seine Rechnungen erfreuen ihn, während sein Sohn keine Lust auf Studium und Arbeit hat und das Ausgeben dieses Geldes kaum abwarten kann. Noch reicher eine Baronin, der viel und mehr gehört, die von oben herab alles und jeden behandelt und betrachtet. Die Fronten in Sachen Vermögen und Rangordnungen sind bei Chevallier völlig klar. Der gute Teil des Ortes befindet sich oben, die ärmeren Mitbürger kommen aus der anderen Ecke. Man sagt „von unten aus Clochemerle“ und hat für diese Sorte Mensch sogar einen eigenen Begriff, „Unterer“. Auch in solcher Beobachtung kann ein Buch aus alter Zeit wohl nicht heutiger daherkommen.

Illustration zu ‚Clochmerle“. (Ausgabe 1945, Zeichner: Dubout)

Ein Ort wie Clochemerle hat selbstverständlich einen Pfarrer. Der kam einst jung und unbedarft in die Gemeinde, hatte noch Feuer und Drang eines jungen Mannes und trieb es bald mit der Haushälterin. Besser gesagt, diese mit ihm. Aus Gewohnheit, weil sie dies schon mit seinem Vorgänger getan. Die Haushälterin hat wenig Reize, aber viel Elan. Weil den Gottesmann dann doch der Heilige Geist oder sein Gewissen plagt, fährt er mit dem Rad 20 km in den Nachbarort und beichtet dem dortigen Pfarrer. Der erteilte umgehend Absolution und bat ebenfalls um Beichte nebst Absolution, weil er und seine Haushälterin in ähnlicher Gemengelage. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit nahm seinen Lauf. So hatten die Geistlichen ab sofort gute Gründe, sich regelmäßig zu besuchen. Zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, haben Körpergröße und Lust beim Pfarrer in dem Tempo abgenommen, wie sein Umfang gewachsen. Wein und üppiges Essen haben nicht nur eine rote Nase, sondern auch Spuren der Fülle hinterlassen.

Es gibt auch Liebe und echte Lust in Clochemerle. Der etwas tumbe und trunkene Besitzer des Kaufmannsladens hat die schönste Perle des Ortes an seiner Seite, eine erotische Augenweide. Viele Bürger von Clochemerle fahren mit ihren Rädern vorbei oder gehen einen Umweg, um die Dame zu bestaunen, wenn sie nur auf der Treppe vor dem Geschäft steht. So gestärkt und aufgewallt geht das männliche Clochemerle des Abends mit der eigenen Gattin der Lust nach. Nur angeglotzt zu werden, ist der Kaufmannsgattin natürlich nicht genug. Sie hörnt den Gemahl und findet spielend Liebhaber. Einer wird vom ahnungslosen Gatten sogar ins Haus gebeten. Erotische Reize – so vorhanden – werden immer und zu allen Zeiten angefeindet, weil beneidet, da macht das Volk von Clochemerle keine Ausnahme. Auch dort eine Tratschtante, die von Neugier geplagt, ihrem eigentlichen Drang frönt, Gift und Galle unter die Leute zu bringen. In damaliger Zeit wurde so etwas noch despektierlich „vertrocknete alte Jungfer“ genannt. Die auf dem Feld von Liebe und Lust arg zu kurz gekommene Megäre sucht sich andere Enthemmungen. So ist sie treibender Keil jener Katastrophe, die den Roman in Fahrt kommen lässt und in die nebst unseren Protagonisten noch viele andere skurrile Figuren mehr oder weniger verwickelt werden.

Ein Pissoir als Stein des Anstoßes für kleine und große Verwicklungen.

Diese Katastrophe kommt über Clochemerle in Form einer öffentlichen ‚Bedürfnisanstalt‘, vulgär auch Pissbude, Pissoir oder etwas vornehmer öffentliche Toilette genannt. Warum dadurch Ereignisse losgetreten werden, die fast nationale und weltweite Krisen auslösen und Clochemerle in einen Hexenkessel der Emotionen verwandeln, das muss und sollte bitte jeder selbst lesen. Vergnügen angesagt und ausreichend vorhanden. Wer dann Feuer gefangen, der hat noch die Chance auf zwei ebenfalls in deutscher Sprache erhältliche Nachfolgebände. ‚Clochemerle Babylon‘, verfasst 1951 und ‚Clochemerle wird Bad‘, verfasst 1963. Diese nicht ganz an die Qualität des ersten Buches heranreichend, dennoch ebenfalls Vergnügen bereitend.

Viel Spaß bei der Lektüre und schönen Urlaub!

CLOCHEMERLE
Autor: Gabriel Chevallier (1895 – 1969)
Übersetzt von: Roland Schacht
Verlag: FISCHER Taschenbuch
Seiten: 316 Seiten
ISBN: 978-3-596-32049-3
Preis: 12,99 Euro

Aktuelle deutsche Ausgabe. (Taschenbuch)

*Titelbild: Weinbaugebiet Beaujolais 

 

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