Porträts

Martha Argerich

Auf nach Wien

Als die 1941 in Buenos Aires geborene Martha Argerich Mitte der fünfziger Jahre nach Wien kam, war sie schon ein Versprechen am Klavier. Der argentinische Staat besorgte den Eltern eine Anstellung in der Wiener Botschaft des Landes. Einzig aus einem Grund. In Wien lebte Friedrich Gulda, der gehörte zu den wenigen Titanen des damals noch bewohnten Pianisten-Olymp. Einer der Auserwählten, der das Wort „bester Pianist der Welt“ auf sich ziehen konnte. Es gab im 20. Jahrhundert fast eine Hundertschaft von Spitzenpianisten. Aber für den Olymp dieser Kunst waren nur ganz wenige bestimmt. Sie waren in ihrem Musizieren außergewöhnlich. Jeder von ihnen einmalig auf seine sehr persönliche Art, brachte das Klavierspiel in eine andere Dimension. Auf den 88 Tasten waren sie Genies, daneben eher ziemliche Chaoten. Diese Edlen der Klavierwelt waren Arthur Rubinstein, Vladimir Horowitz, Emil Giles, Svjatoslav Richter, Arturo Benedetti Michelangeli, Glenn Gould und Wilhelm Kempff, sämtlich mit einer weltweiten Fangemeinde. Alle sind sie schon sehr lange nicht mehr auf dieser Welt. Sie hoben das Klavierspiel im 20. Jahrhundert auf eine Stufe, die heute, abgesehen vom famosen Daniil Trifonov, von niemandem mehr erreicht wird. Waren der Deutsche Kempff, die Russen Gilels und Richter neben dem Klavier eher normale Zeitgenossen, konnte man dies über die anderen Herren nicht sagen. Über Gulda, Rubinstein, Horowitz, Gould und Michelangeli ließe sich ein mehrbändiges Buch der Exzentrik und Skurrilität schreiben.

(Screenshot Konzertmitschnitt. Arthur Rubinstein im Jahr 1973.)

Ein Einschub sei an dieser Stelle gestattet: Künstler sind keine Rennpferde oder Leichtathleten, die zuerst durchs Ziel müssen. Der beste Pianist (Pianistin) der Welt ist in der Musik kaum zu küren. Es geht in der Spitze auch immer um Sympathien und Geschmäcker. Natürlich ist man dabei dann oft subjektiv und nicht immer objektiv. Der eine mag die makellose Studioaufnahme und andere ziehen riskante Livemitschnitte vor, die längst authentischer, ehrlicher und lebendiger wirken. Wo manch Pianist jede Note als Heiligtum ansieht, ist dem Kollegen die Interpretation und Spontanität wichtiger. Als Sviatoslav Richter 1960 in den USA debütierte, dort gleich in der Carnegie Hall, sah er auch seine Mutter nach vielen Jahren erstmals wieder. Eine Nervosität machte sich breit, die er nicht völlig unter Kontrolle bekam. Die von ihm stets tadellos gespielte Appassionata gelang ihm dennoch in einem solchen Rausch, dass am Ende im 3. Satz im Eifer und in völliger Raserei einige Noten unter den Teppich fielen. Der Gesamteindruck des heimlichen Mitschnittes und der Eindruck derer, die dabei waren, ist der einer Jahrhundertaufnahme. Und keiner hat spontanes Musizieren so geschätzt wie Beethoven, der wohl seine begeisterte Zustimmung umgehend erteilt hätte. Und Arthur Rubinstein antwortete auf die ewige Konkurrenzfrage, wer nun der beste Klaviervirtuose der Welt sei, er oder Horowitz: „Er ist der bessere Pianist, ich aber der bessere Musiker.“ Eine schöne und diplomatische Antwort. Viele der ganz großen Tastenvirtuosen ließen sich nie in einen Wettkampf hineintreiben. Argerich verehrte immer Horowitz, Rubinstein und Gulda, Rubinstein verehrte Argerich und Gilels. Dieser Giles wiederum war ein Fan von Rubinstein. Richter und Gilels sagten „er ist besser als ich“ über den jeweils anderen. Kempff mochten sie alle, weil er jeden Kollegen neidlos schätzte, der etwas konnte. Gould war begeistert von Rubinsteins Risikobereitschaft und Improvisationskunst. Horowitz mochte Richters Spiel. Nur Arturo Benedetti Michelangeli hielt sich selbst für das Nonplusultra der Klavierkunst. Jeder der Genannten hat über den Tod hinaus bis heute eine weltweite und treue Fangemeinde, die oft wie Fußballfans miteinander streiten. Warum auch nicht.

(Screenshot aus ARTE-Doku über Vladimir Horowitz. Argerich schwärmt über den Kollegen.)

Richtung Klavierhimmel

In die exklusive Klavierwelt jener Herren machte sich nun unbemerkt das Mädchen Martha auf. Niemand ahnte etwas. Mutter Argerich bettelte vorstellig beim Genie Gulda und bezahlte Klavierunterricht. So fing es an. Oder auch nicht. Nach der ersten Unterrichtsstunde stellte Gulda fest: „Die war tatsächlich ein Wunderkind. Es war ein ganz seltsamer Unterricht, weil das Mädel ja alles konnte. Ich hab’ nicht gewusst, was ich ihr beibringen soll. Beim größten Talent, das mir je untergekommen ist, Geld zu verlangen: Ich hätte es nicht fertig gebracht.“ So fing es an und hörte nie wieder auf. Eine Legende nahm ihren Lauf. Anderthalb Jahre arbeiteten Gulda und Argerich miteinander. Gulda, der außergewöhnliche Mozart- und Beethovenspezialist, machte sie mit seinen Vorlieben vertraut. Argerich spielte später Mozart wie Beethoven in ihrem Konzertleben nicht so häufig wie Gulda. Wenn sie aber Beethovens 1. Klavierkonzert in C-Dur und Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 in D-Moll spielte, war sie darin triumphal. Vor allem das Beethovenkonzert Nr. 1 wurde ihr wie seine Nr. 2 zum lebenslangen Begleiter. Das 5. Klavierkonzert op. 73 in Es-Dur von Beethoven müsste ihr wie auf den Leib geschrieben sein, sie fasste es dennoch nie an. Irgendwo hat sie es angeblich einmal gespielt, dann nie wieder. Nichts Genaues weiß man nicht. Vielleicht Ehrfurcht vor dem Lehrer und Freund Gulda? Der war gerade mit diesem Konzert eine Art ungekrönter König.

(Screenshot Konzertmitschnitt: Gulda spielt 1966 Beethovens 5. Klavierkonzert mit den Wiener Philharmonikern unter George Szell.)

Lotterleben?

Guldas geniale Interpretation sämtlicher Beethoven-Sonaten könnte sie ebenfalls geschreckt haben, sie rührte da kaum etwas an. Die Welt hätte gern die Appassionata von ihr gehört. Aber wenn Martha nicht wollte, dann wollte sie nicht. Die Waldsteinsonate bot sie. Und wie! Wo Legionen von Pianisten sich schleppend über die Runden bringen, donnert sie im Tempo von Gulda los und spielt begeisternd wie richtig. Man kann sich vorstellen, wie Friedrich Gulda sich darüber diebisch freute. Selbst er hatte in Sachen Martha Zweifel. Als er sie besser kannte, nörgelte er öffentlich über ihr „Lotterleben“. Bis mittags im Bett, dann literweise schwarzen Kaffee und Zigaretten auf Kette, für Gulda ein Beleg die Weltkarriere und das wirkliche Klavierspiel zu verpassen. Gulda fand seine beste Schülerin sogar „neurotisch, willensschwach, verwöhnt“. So etwas von einem Mann, der nackt und mit Blockflöte auf die Bühne trat, um ins Publikum zu rufen „ich bin auch ein Idiot“. Gulda irrte in Sachen Martha. Wenn die Dame mit dem Lotterleben ins Aufnahmestudio ging, hatte sie den Kaffee auf dem Klavier, die Zigarette im Mund und bot den staunenden Tontechnikern drei Varianten eines Stückes in atemberaubender Qualität und einem Durchgang. Bei Argerich musste niemand etwas schneiden oder einen Take stückeln, um eine perfekte Aufnahme zu bekommen. Wenn sie am Flügel saß, kam alles wie von selbst. Das phänomenale Gedächtnis konnte sogar auf eine Partitur verzichten. Nach der Zeit mit Gulda begann Argerichs Laufbahn, früh gekrönt mit einem triumphalen Sieg 1957 in einem bedeutenden Klavierwettbewerb. Mit Gulda blieb sie sein Leben lang befreundet. Später tauschten sich die beiden eher darüber aus, wer gerade ein Verhältnis und mit wem ins Bett ging. Tratsch belebte den Wiener wie die Argentinierin. Über Musik unterhielt man sich weniger, man improvisierte lieber ein bisschen vierhändig an einem oder zwei Flügeln.

(Screenshot Doku „Martha Argerich und Charles Dutoit“. Martha 1972.)

Wo die Liebe hinfällt

Mit 20 heiratete sie dann einen Komponisten und bekam ihr erstes Kind, was 1960/61 allerdings die beginnende Karriere knickte. Das Piano wurde zweitrangig, doch die Familie führte eher zu einer Lebenskrise als zur inneren Ruhe und Glück. Echter Gabe und Berufung entkommt man nicht. Fluch und Segen von Genies. Die Ehe endete 1964, es folgten noch zwei davon im Lauf der nächsten Jahrzehnte mit dem Dirigenten Charles Dutoit und dem Pianisten Stephen Kovacevich. Jede Ehe brachte Martha Argerich eine Tochter in ihr Leben. Mit den drei Töchtern wie den verflossenen Gatten pflegt sie bis heute beste Verhältnisse. Die Frau, die es mit der Liebe auf ewig nicht so hatte, ist eine Meisterin für lebenslange Freundschaften. Als sie in den 90er-Jahren an Krebs erkrankte, brach der Pianist Stephen Kovacevich, dritter Ex-Ehemann aus den 70er-Jahren, umgehend seine eigene Welttournee ab und flog direkt zur OP von Martha in die USA. In der Gemengelage vielfältiger Beziehungen ging auch irgendwann das Vermögen aus gigantischen Gagen flöten. In ihrem Haus in Brüssel hatte sie auf mehreren Etagen unterschiedliche Flügel zu stehen, so etwas geht ins Geld. Martha musste, um das Loch zu stopfen, viel touren und das merkte man ihrem Spiel dann doch irgendwann an. Wobei ein bekannter Kollege konsterniert meinte: „Wenn sie schlecht spielt, ist sie immer noch besser als ich an meinen guten Tagen.“ Das Tal ist längst durchschritten, Argerich hat die Krise überstanden und ihre Welt ist wieder auf dem Marthagleis.

(Screenshot Doku „Bloody Daughter“. Argerich mit Exmann Stephen Kovacevich beim Italiener.)

Unaufhaltsam

Nach der ersten Scheidung startet Argerich am Flügel unaufhaltsam durch. 1965 wieder ein Wettbewerbssieg, diesmal beim internationalen Chopin-Wettbewerb. Damit Weltruhm und nun die Straße Richtung Piano-Olymp. Was dann kam, grenzt bei Betrachtung immer wieder neu an ein Wunder. Sie spielte, was sie spielte, sofort wie von einem anderen Stern. Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 3 wurde zu ihrem Paradepferd, darin sogar den Wahnsinnsaufnahmen des jungen Horowitz überlegen, auf einer Stufe mit Emil Gilels. Schumanns Klavierkonzert machte den Eindruck, als wäre es für sie geschrieben. Zu einem Hochamt der Komplexität machte sie Ravels Klavierkonzert. Das Konzert Nr. 3 von Rachmaninow, ein Höllenritt für jeden Pianisten und deshalb nur von sehr wenigen gespielt, bewältigt sie nicht, sie überfällt es und macht keine Gefangenen. Eine Jahrhundertleistung. Hier auch Gilels und Horowitz ebenbürtig. Dabei noch den Beweis angetreten, die im dritten Satz benötigte Muskelkraft spielend aufzubieten. Eine angebliche Männerdomäne wurde von ihr pulverisiert. Jedenfalls hatten die Herren im Olymp von nun an weiblichen Besuch und taten sich schwer mit dem Einschlag der Ebenbürtigen und in Teilen auch überlegenen Martha Argerich. Einige Kritiker wollten nur Klaviergötter in ihren Köpfen haben, ließen sich schwer ein mit dieser Göttin, machten dann Dinge neben dem Klavier aus, mit der sie die Argentinierin herabsetzten. Die Namen diese rückwärtsgewandten Dummköpfe kennt heute kein Mensch mehr, jenen von Martha Argerich die Welt.

(Screenshot Konzertmitschnitt. Argerich bereit für Rachmaninow 3)

Lampenfieber

Argerich spielte außerdem Klavierkonzerte von Prokofiev, Shostakovich und Bartok, natürlich von Chopin und Liszt. In Begleitung eines Orchesters nebst Dirigenten konnte sie sich etwas geschützt vor dem Rachen von Bühne und Publikum fühlen und ihrem Können ungehemmten Lauf lassen. Zum Pianisten gehören aber Soloauftritte. Die Angst vor diesen rafft gerade den Großen der Klavierzunft die Nerven weg. Zu hohe Ansprüche an sich selbst lassen Versagensängste aufkommen und Lampenfieber eintreten, wo mittelmäßige Tastenhauer kraftstrotzend auf die Bühne hüpfen, um ihre Unzulänglichkeiten der Welt feilzubieten.

(Screenshot Konzertmitschnitt. Argerich am Flügel. Ihr Ort zwischen Himmel und Hölle.)

Argerich war mit dieser Panik nicht allein. Horowitz betrat aus Furcht ganze 12 Jahre kein Konzertpodium, saß lieber streitend mit der Gattin Wanda auf dem New Yorker Sofa und wartete täglich auf den Flieger aus Paris, der seine frische Seezunge an Bord. Glenn Gould flüchte 1964 völlig aus der Öffentlichkeit, ging die letzten 18 Jahre seines Lebens nur noch ins Tonstudio. Dort hätte er den Technikern am liebsten frei gegeben, um allein zu sein. Arturo Benedetti Michelangeli, von seinen Fans nur ABM gerufen, verzog bei betreten der Bühne ein so blasiertes und sauertöpfisches Gesicht der Übellaunigkeit, dass dem Publikum mulmig wurde. Manchmal ließ er einen Tag vor Konzerten den Flügel komplett auseinandernehmen, weil er etwas Störendes hörte. Wenn niemand etwas fand, reiste er einfach ab. Konzert geplatzt.

(Screenshot aus Doku „Bloody Daughter“. Die beruhigende Zigarette.)

Martha Argerichs Tochter Stéphanie drehte 2012 den Dokumentarfilm „Bloody Daughter“ über ihre Beziehung zur Mutter. Darin eine beklemmende Szene, wie Martha Argerich in der Garderobe immer unsicherer und nervöser, übellauniger wird. Der Weg über die Hinterbühne zum Bühneneingang nur wenige Meter, die ihr mit jedem Schritt zur Qual. Dabei murmelt sie jeden böse an, der leichtfertig des Weges. Eine verängstigte Mitarbeiterin des Hauses legt ihr sanft die Hand auf den Rücken, um ein Weglaufen zu verhindern. Argerich schimpft derweil über sich selbst, sie könne nicht spielen, hätte wohl Fieber und überhaupt sei sie nicht gut genug für einen Klavierabend. Dann Tür auf und Argerich raus, die berühmte Verbeugung vor dem Publikum. Die Haare treffen nicht mehr ganz den Boden, die Frau zählt da bereits 71 Jahre. Der Begrüßungsapplaus wird eher als störend empfunden, schnell auf den Klavierhocker und los. Die ersten Takte schon absolut makellos, ihr Friede kehrt ein und es wird natürlich wieder meisterhaft. Wer etwas über Lampenfieber lernen möchte, der sollte in den Film schauen. Wer so etwas nicht versteht und als Allüren einer Diva abtut, ist für Kunst wahrscheinlich verloren.

(Screenshot aus Doku „Bloody Daughter“. Nervosität setzt ein.)

In dem Film gibt es auch eine Szene aus Warschau. Argerich spielt im Konzerthaus Chopins 1. Klavierkonzert. Während einer Probenpause geht sie aus dem Saal, überquert die Straße, erwirbt in irgendeinem Lokal einen Espresso und läuft mit der Tasse in der Hand wieder ins Konzerthaus zurück. Heute hat jeder mittelmäßige Künstler längst Cateringlisten, die er gefälligst erfüllt haben möchte, sonst reist er gar nicht an. Manchen muss sogar der Stuhl unter den Hintern geschoben werden. Die letzte lebende Legende der klassischen Musik marschiert derweil allein zur Café-Bar. So viel zum Thema Allüren.

(Screenshot aus Doku „Bloody Daughter“. Weltstar ohne Stargehabe.)

Unter dem Dach Freundschaft

Dem panischen Lampenfieber versuchte Argerich mit vielen Finten zu entfliehen. Nie unterschrieb sie einen Vertrag, nie ließ sie sich binden, so war „Flucht“ immer möglich. Für Veranstalter und Publikum ein Horror. So Martha sich mit einem Orchester und einem Dirigenten auf der Bühne verbinden konnte, ließ sich die Furcht einfangen, die Soloabende zehrten weiter an ihren Nerven. Irgendwann trat sie allein nicht mehr auf. Wenn kein Orchester, dann holte sie sich befreundete Geiger, Cellisten oder andere Pianisten für Duos, Trios, Quartette oder vierhändiges Klavierspiel hinzu. Alle kamen, sobald Martha rief. So ging sie dem Alleinauftritt aus dem Weg.

(Screenshot Konzertmitschnitt. Mozart vierhändig mit Jewgenij Kissin)

Zuschreibungen wie Wirbelwind, Löwin oder Tigerin waren bei Martha Argerich an der Tagesordnung. Sie konnte allen Granden der Klavierkunst das Wasser reichen. An guten Tagen machte sie sich Orchester und Publikum zu Untertanen. Wenn sie früher Konzertsäle betrat, saßen im Orchester fast nur graue Männer, kaum eine Frau. Sie muss sich allein gefühlt haben. Heute ist dies anders. Ihr Anteil daran nicht gering. Der Ausklang dieser Laufbahn ist noch nicht in Sicht. Energiegeladen zieht Martha Argerich weiter ihre Kreise über die Konzertpodien der Welt. Arthur Rubinstein gab sein letztes Konzert in London im Alter von 89 Jahren. Wackelig und halb blind war sein Klavierspiel immer noch ein Ereignis. Martha Argerich kannte ihn, gehörte zum Freundeskreis bis zu dessen Lebensende. Rubinstein war ihr Chopin-Spiel zu schnell. Sie antwortete darauf: „Ich weiß. Ich kann aber nicht anders.“ Er bewunderte sie dennoch uneingeschränkt von gleich zu gleich.

(Screenshot Konzertmitschnitt. Argerich bei der Arbeit.)

Chapeau der Musikwelt

Sehr früh schon liefen Orchester und Musiker zu Argerich über. Bis zum heutigen Tag hat sich daran nichts geändert. Kaum beginnt sie, staunten selbst alte Hasen über dieses Spiel und vergaßen darüber fast den eigenen Einsatz. Wenn Martha Argerich sich auf die Bühne gequält hatte, war sie auch bereit. Durch die federnde Verbeugung Richtung Publikum in jungen Jahren schlugen ihre pechschwarzen Haare auf den Bühnenboden, dann ans Klavier, Blick zum Dirigenten und los. Nach dem letzten Takt raste das Publikum und waren auch Orchester und sogar Dirigenten aus dem Häuschen. Nie hat wohl ein Künstler mehr Applaus und Anerkennung von Kollegen, Musikern und Dirigenten erhalten als Martha Argerich. Oftmals spielt sie nach einem Orchesterkonzert noch ein, zwei Zugaben. Bachs Rondo und Capriccio aus der Partita Nr. 2 oder Scarlattis Sonate K.141. Man muss dabei nur in die Gesichter der auf der Bühne noch anwesenden Musiker schauen. Verehrung pur. (Wer sich übrigens die insgesamt nur 8 Minuten für diese genannten Zugaben aus seiner Lebenszeit nimmt, wird das Genie Argerich erkennen. Wer nicht, dem ist dann auf diesem Gebiet nicht mehr zu helfen.) Ein Kritiker meinte einst, nie zuvor hätte jemand mit so fesselnder Kraft Klavier gespielt wie Martha Argerich. Da ist was dran. Ihre mühelose Technik und Unmittelbarkeit bringt Lebendigkeit in alle Stücke die ihr unter die Finger kommen. Hierfür sollte jeder Mensch einmal im Leben Argerich spielen hören, auch sehen. YouTube hilft da bei fehlender Konzertkarte äußerst umfangreich.

(Screenshot Konzertmitschnitt. Allein mit Bach.)

Zeitlos

Martha Argerich wurde im Juni 2021 in der Tat 80 Jahre, wobei alt einem dabei nicht über die Tastatur geht. Lange schon lebt sie im Pianisten-Olymp ziemlich allein, nur wenige haben noch die Fähigkeit, dort anzuklopfen. Martha hat ihre wahren Mitbewerber allesamt überlebt und ist nun seit über 60 Jahren Gast auf den Konzertpodien dieser Welt. Dabei wirkt sie völlig zeitlos. Die Künstlerin mit der Löwenmähne tut nach wie vor, was sie immer tat, sie spielt und spielt und spielt. Komplimente und Ovationen pflastern ihren Weg. Was kann man dieser charismatischen Musikerin und Pianistin für ein größeres Kompliment machen als jene Worte, die der legendäre Geiger und Musikerkollege Itzhak Perlman 2016 für die Ewigkeit sprach: „Liebe Martha, ich bin glücklich zu deinen Lebzeiten zu leben, damit ich deine Musikalität erleben kann, deine Brillanz und deine Poesie. Vielen Dank, dass es dich gibt.“

(Screenshot Konzertmitschnitt. Verdienter Applaus.)

Martha Argerich erleben, hören und sehen (Empfehlungen)

(Die Hände von Martha Argerich.)

Einige Anregungen, die sich allesamt auf YouTube finden lassen. Hören und sehen, einfach genießen. Vielleicht ja der Beginn einer Argerich-Leidenschaft:

  • Johann Sebastian Bach: Piano Partita No. 2 (Rondo und Capriccio)
  • Robert Schumann: Kinderszenen (VII. Träumerei)
  • Scarlatti: Sonata K 141
  • Beethoven: Klaviersonate Op. 53 „Waldstein“
  • Mozart: Sonate KV 521 für 4 Hände (Argerich mit Kissin)
  • Bach: Konzert für 4 Klaviere BWV 1065 (Argerich, Pletnev, Levine, Kissin)
  • Rachmaninoff:  Klavierkonzert Nr. 3 (3. Satz) unter dem Dirigenten Riccardo Chailly
  • Tchaikovsky:  Klavierkonzert Nr. 1 (3. Satz) unter dem Dirigenten Charles Dutoit
  • Robert Schumann: Klavierkonzert unter dem Dirigenten Riccardo Chailly
  • Beethoven: Klavierkonzert Nr. 1 (3. Satz) unter dem Dirigenten Gábor Takács-Nagy
  • Mozart: Klavierkonzert Nr. 20, K. 466 unter dem Dirigenten Christian Arming
  • Ravel: Klavierkonzert (2. Satz) unter dem Dirigenten Emmanuel Krivine
  • Beethoven: Klavierkonzert Nr. 2 (3. Satz) unter dem Dirigenten Claudio Abbado

Highlight: Wie Martha Argerich den 3. Satz im 3. Klavierkonzert von Prokofjew und den 3. Satz in Prokofjews Klaviersonate Nr. 7 spielt, sollte man nicht nur hören, sondern unbedingt auch sehen. Schauen Sie auf die Hände! Wie geht das? Staunen in Fassungslosigkeit! Eigentlich müsste man vor Verehrung niederknien…

Dokumentarfilm: „Argerich – Bloody Daughter“ (Regie und Drehbuch: Stéphanie Argerich; Schweiz-Frankreich 2012, 95 Minuten). Einer großen Künstlerin mehr als nur über die Schulter geschaut und absolut empfehlenswert. Ein großartiges Porträt ohne Weihrauch, ehrlich, konsequent und liebevoll.

(Screenshot aus Doku „Bloody Daughter“. Weiter unterwegs. Immer, weiter, weiter, weiter…)

 

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