Porträts

Narrenweisheit des RDP

Die Schweizer Zeitung Blick wollte dem Leser etwas Kluges gönnen. Dafür hatte man allerdings den falschen Gast geladen, den umtriebigen Hans Dampf sämtlicher Mediengassen Richard David Precht, der vom Blatt als „Bestseller-Philosoph“ vorgestellt wurde. Der legte in gewohnter Manier los. Boulevardesk wie immer segelte dieser Schmalspurphilosoph auf großer Fahrt durch die ihm angebotenen Fragen. Eine soll hier herausgegriffen werden, weil sie exemplarisch und Herrn Precht im Licht seiner Oberflächlichkeit zeigt. Der falsche Kern der Antwort bewegt sich auf dem Niveau von Prechts Studierzimmer, dem Podcast mit Markus Lanz. Jener Herr Lanz ist solcher Art Journalist wie Precht Philosoph, wenn man z. B. Günter Gaus für den Journalisten-Vergleich und Herbert Marcuse für den Philosophen-Vergleich als Maßstab heranziehen würde. Lassen wir das lieber und schauen also auf die Blick-Frage und die Precht-Antwort.

Blick: „Wenn Karl Marx heute durch zentraleuropäische Städte flanieren und Tagebuch führen würde, was würde darin stehen?“

Precht: „Er käme erst mal aus dem Staunen nicht mehr heraus. Marx würde sich wundern, dass der Kapitalismus solche wirtschaftlichen Segnungen für einen erheblichen Teil seiner Bevölkerung geschaffen hat. Und er müsste seinem Erzfeind, dem Schweizer Ökonomen Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi, den heute leider keiner mehr kennt, recht gegeben: Der Kapitalismus ist lernfähig, und wenn man seine Arbeiter anständig bezahlt, dann erlebt man eine gesellschaftliche und kulturelle Blüte.“

Bei der Antwort kommt auch der geneigte Leser nicht aus dem Staunen heraus. Viel Unfug in wenigen Zeilen. Dafür braucht es wohl der Qualitäten eines Podcast-Philosophen. Der von Precht zum staunenden Fußgänger gemachte Marx sollte bei seinem Stadtbummel besser nicht zu den Geringverdienern, Arbeitssuchenden und Rentnern oder gar in Pflegeheime der Unterschicht gehen, dann könnte Prechts bunte Spazierwelt sich schnell trüben. Von dem 2003 hierzulande durch Sozialdemokraten eingeführten größten Niedriglohnsektor Europas hat Precht sicher ebenfalls noch nie gehört, sonst wäre ihm die Fabel von den „anständig bezahlten Arbeitern“ nicht aus dem Kopf gefallen. Der Kapitalismus samt seiner Segnungen hat natürlich nie etwas gelernt. Veränderungen haben ihm soziale, demokratische, christliche und ökologische Kräfte in oft schweren Kämpfen abgerungen und aufgezwungen. Precht zeigte jedenfalls deutlich, dass er Karl Marx offensichtlich niemals gelesen hat. Deswegen bieten wir mit dem nachfolgenden Auszug dem Bestseller- und Podcast-Philosophen einen Anreiz auf Marx, vielleicht liest er ihn dann. Marx ging nicht staunend durch Städte, sondern erkennend und verstehend, von tiefem Wissen um die Dinge angetrieben. (Noch lieber als durch Städte ging Marx allerdings in die Bibliothek des British Museum in London und sog die Welt in sich auf.) Wie sein Kumpel Friedrich Engels war Marx 1848 schon wesentlich weiter, als Precht je kommen wird. Marx war außerdem etwas, was Precht gerne wäre: ein ernsthafter Philosoph. Und was für einer.

Karl Marx/Friedrich Engels (Kommunistisches Manifest, 1848, Auszug)

„Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt, und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht.“ (…) „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen, als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welch früheres Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“

Karl Marx. Die ihn nie gelesen, benutzen ihn besonders gern. (Foto: Mary Blank auf Pixabay)

Weil wir ihn schon erwähnt, sei für die Lernkurve von Herrn Precht diesem noch eine Passage von Herbert Marcuse („Vernunft und Revolution“, 1962) mit auf den Weg gegeben:

„Die Marx’schen Kategorien zielten auf eine neue Form der Gesellschaft ab, selbst wenn sie ihre herkömmliche beschreiben. Ihrem Wesen nach wenden sie sich einer Wahrheit zu, die nur durch die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft zu erreichen ist. Marx zufolge besteht die richtige Theorie im Bewusstsein einer Praxis, die auf die Veränderung der Welt abzielt.“

*Titelbild: Richard David Precht (Screenshot Schweizer TV)

 

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