Sport

Sensation vollbracht

Mit dem festen Vorsatz sämtliche  Goldmedaillen im Wasserspringen der Frauen und Männer zu holen fuhr China zur Olympiade nach Tokyo. Wasserspringen hat in China den Stellenwert von Tischtennis. Man ahnte also die Order der Partei. Kaum jemand zweifelte an der Umsetzung dieses Ziels. Acht Olympiasiege sind nötig um den Auftrag der Partei in dieser Sportart zu erfüllen. Im Wasserspringen gibt es schon seit Jahren das geflügelte Wort von der „Goldmedaille hinter der Goldmedaille“, womit immer Silbermedaillen bezeichnet werden, die man hinter den Chinesen gewinnen kann. Im Synchronspringen vom 10 m Turm der Männer erwuchs den favorisierten Chinesen Chen Aisen und Cao Yuan allerdings eine mächtige Konkurrenz, die in einem Herzschlagfinale zumindest diesen chinesischen Großmachttraum in Sachen Wasserspringen platzen ließ. Das britische Duo Thomas Daley und Matty Lee gehört seit Jahren zur absoluten Weltspitze, aktuell sind sie Europameister und  gewannen bei der WM 2019 Bronze. Daley besitzt bereits zwei olympische Bronzemedaillen, war zweimal Weltmeister im Einzelturmspringen.

Tom Daley sowieso der einzige Wasserspringer, der den Chinesen im letzten Jahrzehnt Paroli bot. Mit 15 Jahren wurde er 2009 erstmals Weltmeister und wiederholte diesen Triumph dann 2017 in einem atemberaubenden Zweikampf gegen den chinesischen Olympiasieger von Rio, Chen Aisen. Auch Matty Lee kein unbeschriebenes Blatt. Er holte mit seiner Sprungpartnerin Lois Toulson im Mix vom 10 m Turm bei der EM 2018 Bronze. Daley/Lee haben gegen Chinesen schon gesiegt, was im Wasserspringen mittlerweile eine absolute Seltenheit. Gold für Daley/Lee in Tokyo dennoch überraschend. Sie waren von Experten für Silber vorgesehen. Die Chinesen galten als unschlagbar, sprangen stets wie ein Schweizer Uhrwerk. Doch die Briten traten extrem selbstbewusst auf und saßen den Chinesen alle sechs Runden frech im Nacken. Die Chinesen machten in Runde 4 erstmals einen Fehler und verloren den Spitzenplatz. Das britische Duo setzte sich dann in einem Herzschlagfinale der Runde 6 mit 1,23 Punkten Vorsprung vor dem chinesischen Wunderduo durch. Der letzte Sprung mit dem extrem hohen Schwierigkeitsgrad 3,7 von Daley und Lee erreichte eine Punktzahl von 101,01. Eine Sensation im Turmspringen, der Fahnenmast für Gold. Es ist Daley und Lee zu verdanken, dass diese olympischen Wettbewerbe im Wasserspringen nicht ausschließlich zur chinesischen Meisterschaft geworden sind. So gesehen in der Tat eine historische Leistung.

Tom Daley ist schon lange eine Galionsfigur der britischen Sportwelt, der mit seinen 27 Jahren in Tokyo schon zum vierten Mal an einer Olympiade teilnimmt. Mit 18 Jahren war er bereits das Werbegesicht der Olympiade 2012 in seiner Heimat London. Über Daleys Lebens- und Sportweg ließen sich Romane schreiben. (Auch Fußballlegende Gary Lineker jubelte wegen der Lebensgeschichte und des langen Weges von Tom Daley nach dem Olympiasieg: „Was für eine famose Story des Tom Daley“. Es ist genau dieser Tom Daley, der solche Dinge stets sofort gerade rückt. Für ihn ist der Sieg eine Teamleistung. Er tritt jedem Ansatz entgegen, der ihn allein in den Mittelpunkt rücken will und teilt sich die Aufmerksamkeit als echter Teamplayer mit seinem Sprungpartner Matty Lee. Einst hätte man zu solcher Art Verhaltensmuster und Fair Play sogar das Wort olympischer Geist bemüht.) Nur eine Geschichte sei hier erzählt. Sie rundet das Außergewöhnliche dieses Olympiasieges besonders ab. Einst bat der neunjährige Matty Lee den populären dreizehnjährigen Wasserspringer Tom Daley um ein Autogramm. Der eine trainierte in Leeds, der andere in London. Seit 2018 sind sie Synchronpartner vom 10 m Brett. In London zusammengeschweißt von der legendären Trainerin Jane Figueiredo. Diese hat beider Potenziale genial zusammengeführt und immer den Mix aus sportlicher Leistung, hoher Trainingsanforderung und Lebensfreude wie Empathie praktiziert, der den Geist des gesamten britischen Diver-Teams beseelt. Diese Gemeinschaft hat den Olympiasieg möglich gemacht.

(Lee, Daley und Trainerin Figueiredo bei Verkündung des Endergebnisses am Beckenrand.)

Den chinesischen Athleten soll hier nicht die Ehre abgeschnitten werden. Sie sind großartige Sportler und genießen gerade in der sehr kollegialen und fairen Welt des Wasserspringens hohe Anerkennung. Wenn aber Pekings Allmachtsanspruch im Sport, der ja über die Köpfe der Sportler bestimmt wird, ab und an einen Dämpfer bekommt, darf bitte Freude erlaubt sein, die keine Schadenfreude ist. Zwei englischen Turmspringern und ihrer Trainerin sei Dank. Wenn einst bei einer Fußballweltmeisterschaft ein Gegner im Endspiel den Chinesen gegenübersteht und auf elf eingebürgerte Brasilianer blickt, soll man sich an Tom Daley und Matty Lee oder an David mit der Steinschleuder erinnern. Alles ist möglich. Derweil sind die Chinesen übrigens erfolgreich auf dem Weg die verbleibenden sieben Olympiasiege im Wasserspringen abzuarbeiten.

*Bild: Screenshot von Tom Daleys YouTube-Kanal. (Tom Daley und Matty Lee im Olympischen Dorf mit ihren Goldmedaillen.) 

 

 

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