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Unliebsame Wahrheiten und Realpolitik

Kissinger rumorte und nun wird kräftig interpretiert und hineingelesen. Seine linken wie rechten Gegner schimpfen, was bei ihm zum Geschäft gehört. Doch der Blick auf seine Jünger lohnt mehr, sämtlich sind sie Teil der globalen Machtelite. Denen brachen dieser Tage kollektiv wegen ihres Heiligen Kissinger die Zacken aus den Kronen. Henry Kissinger machte in Sachen Ukraine, mit seinem Hinweis auf eine notwendige Rückkehr zum Stand der Dinge vor dem Krieg eines klar, dass er der Meinung ist, Russland sollte die Krim behalten. Schon früher wies er in einem Text für die New York Times darauf hin, GERADEZU berichtete darüber, dass er die Krim als historischen Teil Russlands sieht. Schon damals fielen seinen Jüngern vor Schreck sämtliche ihrer Klappen herunter.

Henry Kissinger hatte und hat die Welt eiskalt und zynisch immer unter dem Gesichtspunkt der atomaren Möglichkeiten gesehen. Weil genau diese atomaren Möglichkeiten in den USA, Russland und China im Übermaß vorhanden, weiß Kissinger, wer die Welt ordnet und wer nur über die Ordnung redet. Er war eben nie ein Illusionist. Über die ‚Schwere-Waffen-Dummköpfe‘ kann ein Kissinger nur den Kopf schütteln. In der Zeit eigener Macht war er immer bereit, Atomwaffen einzusetzen und deren Einsatz den US-Präsidenten zu empfehlen. Kissinger hat die Welt immer in Großmächte, Mittelmächte und Ohnmächtige eingeteilt. Wer glaubt, so eine Welt gibt es heute nicht mehr, darf sich schlau halten, sollte sich aber besser naiv nennen. Daher weiß Kissinger selbstverständlich, dass man eine Atommacht wie Russland nicht bezwingt. Die USA und Russland besitzen ca. 90 Prozent aller Atomwaffen weltweit. Den Russen werden ungefähr 6.000 nukleare Sprengköpfe zugerechnet, davon sollen 1.600 aktiv und sofort einsatzbereit sein. So jemanden besiegt man nicht, so jemanden ringt man in Verhandlungen etwas ab und muss, da liegt der saure Apfel begraben, eben Zugeständnisse machen. Aufschrei und Empörung hin oder her. Kissinger weiß so etwas. Was es für die aktuellen Kriegsprediger so schwer macht, er spricht es auch noch dort aus, wo man es nun überhaupt nicht hören wolle. So etwas vernehmen weder Militärzwerge aus Talkshows noch globale Machteliten gern. Was zu Kissingers Ausführungen ein prominenter Unbotschafter in Berlin sagte oder der grün-bunte Generalfeldmarschall Hofreiter ist bisher nicht bekannt. Beide haben sicher den Stahlhelm sofort etwas fester gezurrt.

Das finale Szenario im Spiel mit schweren Waffen. (Foto: Pixabay)

Realpolitik ist bitteres Brot. Selten für die Verursacher, aber meistens für die Leidtragenden. Ein Realpolitiker von hohen Graden, in den Spuren eines Metternich oder Bismarck, deren üblen wie den genialen Abdrücken folgend, meldete sich also aktuell zu Wort. Der Ort seiner Wortmeldung, er war dorthin zugeschaltet, das berüchtigte ‚World Economic Forum‘ in Davos. Ein grausiger Schreckensort für die Zivilisation und bekannte Höllenschmiede des Neoliberalismus. Unser Realpolitiker heißt Henry Kissinger und ist 98 Jahre. Als Juden musste die Kissingers einst Deutschland verlassen, um den Nazihorden zu entkommen und nicht vergast zu werden. Henry Kissinger kehrte als tapferer und sehr kluger US-Soldat unter den Befreiern nach Deutschland zurück. Später dann der sagenhafte Aufstieg vom Campus der Harvard-Universität an die Schalthebel der Weltmacht. Erster bahnbrechender Bucherfolg: ‚Kernwaffen und auswärtige Politik‘ (1959). Auf der Kommandobrücke der Weltmacht USA befahl später Richard Nixon. Kissinger wurde dessen Mephisto. Der einstige Politik-Professor, Nationale Sicherheitsberater und Außenminister der USA, verhandelte nicht nur mit Lê Đức Thọ den Frieden in Vietnam, er saß auch Breschnew und Gromyko wie Mao und Zhou Enlai gegenüber, um die Welt zu ordnen und zu teilen. Kissinger erfand nebenbei die Pendeldiplomatie im Nahen Osten. Dieser teuflische wie brillante Kopf stand auch für grausige Bombenteppiche über Vietnam, Laos und Kambodscha oder den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Allende in Chile. Dem Putschisten Pinochet drückte Kissinger herzlich die Hand. Skrupel kannte dieser Mann nie, nur Interessen.

Kissingers Blick galt im Guten und sehr Bösen immer der Welt. (Bild: p2722754 auf Pixabay )

Wenn Kissinger sich während seiner aktiven Karriere oder später als Elder Statesman in Deutschland blicken ließ, war das Theater immer groß. Mit seinem Freund Helmut Schmidt diskutierte er auf Augenhöhe oft und gern. Der Rest der Eliten unseres Landes schmiss sich schamlos und peinlich an Kissinger ran. Ob Politiker, Wirtschaftsbosse, Multis, Verleger, Herausgeber, Philanthropen oder Meinungsmacher, alle krochen sie vor Kissinger auf dem Teppich, um ein Stück seines Ruhms aufzulecken. Das nahm dann bizarre Formen an. „Henry und ich“, „Henry ist meiner Meinung“, „Henry sagt“, „Henry kommt“, „Henry ruft an“ und viele verwirrende Sprachbilder kamen diesen angeblichen Eliten über die bebenden Lippen. Offenbar hätten diese sich sogar ein „Henry meint, ich bin blöd“ freudig ans Revers gehangen und auf feinen Cocktailempfängen damit geprotzt. Dieser Henry hat jene allesamt überlebt, die ihm überall und sonst wo rein krochen. Längst hängen neue und noch schamlosere Eliten eifrig an seinen Lippen und erwarten, was sie sich von Denkern bestellen und erkaufen, Gefolgschaft und Gehorsam. Da fällt dieser Henry allerdings aus der zugedachten Rolle und spricht Klartext. Was Kesseltreiber und Kriegsplaner ungern hören möchten, kommt nun ausgerechnet aus Kissingers Mund, die unliebsame und harte Wahrheit unserer Zeit. Obwohl immer Gralshüter der Macht im Sinne imperialer und kapitalistischer Wertvorstellungen, dabei ausschließlich die US-Interessen im festen Blick, wusste Kissinger die Kraft und Schwäche der Russen und Chinesen immer einzuordnen. Mit beiden suchte dieser Stratege und Reaktionär stets das richtige Verhältnis zwischen Eskalation und Deeskalation, fand dabei meistens den Weg zum Miteinander. Unter diese Maßgabe stellte er auch seine neue Wortmeldung in Davos:

Der Westen sollte aufhören, mit dem Versuch, Russland eine vernichtende Niederlage zuzufügen. Die Ukraine müsse Verhandlungen aufnehmen, bevor sie weitere Umwälzungen und Spannungen hervorruft, die nicht leicht zu überwinden sind. Idealerweise sollte die Trennlinie eine Rückkehr zum Status quo ante (Stand vor dem infrage kommenden Ereignis.) sein. Bei einer Fortsetzung des Krieges über diesen Punkt hinaus würde es nicht um die Freiheit der Ukraine gehen, sondern um einen neuen Krieg gegen Russland selbst. Es wäre fatal für den Westen, sich von der Stimmung des Augenblicks mitreißen zu lassen und dabei Russlands Machtposition in Europa zu vergessen. Russland ist über vier Jahrhunderte ein wesentlicher Teil Europas gewesen. Die europäischen Führer dürfen die längerfristigen Beziehungen nicht aus den Augen verlieren oder anderweitig riskieren. Ansonsten bringt es Russland in ein dauerhaftes Bündnis mit China. (Henry Kissinger, 24.05.2022, Wiedergabe nach dem Bericht der britischen Tageszeitung ‚The Telegraph‘.)

*Titelbild: Henry Kissinger, Podiumsdiskussion Harvard University 2012 (Screenshot: Harvard University TV)

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