Von einem nichtigen und doch exemplarischen Tweet zur großen Politik braucht es manchmal nur einen Klick oder einen Gedanken. Schauen wir also auf einen kleinen Auslöser und das große Thema. Frankreichs Präsidentschaftswahl rückt näher. Am Wochenende die erste Runde. Wer nur deutsche Medien als Quelle für den dortigen Wahlkampf nutzt, der ist schlecht beraten und sollte sich anderweitig kundig machen. Das Netz bietet dafür fast jedem die Gelegenheit. Manche machen sich bewusst nicht kundig, blasen dennoch mit der Überzeugungskraft ihrer Unwissenheit Meinungen in den Raum, die näherer Betrachtung nicht standhalten. Auch dafür bietet das Netz Raum und Bühne. Schauen wir einmal auf ein sehr typisches und längst weitverbreitetes Beispiel politischer Dummheit auf der Basis fehlender Kenntnisse. Damit sind wir bei einem Tweet von Sawsan Chebli. Warum Frau Chebli? Es twittern nun wirklich viele Menschen Dummheiten und Unfug über Frankreichs Präsidentenwahl. Der Blick auf Frau Chebli könnte deswegen willkürlich erscheinen. Ist er aber nicht. Es gibt dafür Gründe. Frau Chebli ist nämlich eine ehemalige Staatssekretärin des Berliner Senats und sollte daher über ein Mindestmaß an politischer Kenntnis verfügen, wenn sie sich öffentlich äußert. Außerdem weist Frau Chebli in der biografischen Unterzeile ihres Twitteraccounts auf etwas hin, was den Inhalt ihrer Meinungsäußerung noch zusätzlich als völlig oberflächlich entlarvt. Wer es noch nicht wusste, Sawsan Chebli ist Sozialdemokratin. So weit, so gut und aller Ehren wert. Am 5. April 2022 nimmt Frau Chebli also auf Twitter das gute Recht in Anspruch, auf eine eher fragwürdige Umfrage zur Präsidentenwahl in Frankreich zu reagieren. Diese Befragung zeigte an, dass Marine Le Pen, die rechts-konservative Kandidatin der Rassemblement National, im zweiten Wahlgang, der für den 24. April 2022 angesetzt, dem Amtsinhaber Emmanuel Macron angeblich bis auf drei Prozent nahegekommen ist. Frau Cheblis wörtlicher Tweet dazu: „Le Pen kann tatsächlich in Frankreich gewinnen. Sehen die Franzosen nicht, was in Europa gerade passiert? Oder hat die Ukraine nichts mit ihnen zu tun und nur das eigene Leid zählt? Ich verstehe Menschen manchmal nicht. Echt nicht.“
Ach was! Echt nicht? Es geht umgehend die Frage an Frau Chebli, ob diese eigentlich einen Funken Kenntnis hat, was in Frankreich politisch und gesellschaftlich passiert? Wir wollen ihr dabei helfen. Vor der zweiten Runde gibt es eine erste Wahlrunde am 10. April 2022. In dieser ersten Runde entscheidet sich, wer überhaupt in die Stichwahl einzieht. Macron gilt als sicher, wird diese nach Stand der Dinge erreichen. Marine Le Pen ist Favoritin für den zweiten Finalplatz, könnte allerdings schon in der ersten Runde eliminiert werden. Jetzt nähern wir uns langsam den Sozialdemokraten, die in Frankreich noch Sozialisten genannt werden. Bitte Obacht geben, verehrte Frau Chebli. Le Pen steht nämlich vor allem so gut da, weil sie über eine sichere wie aberwitzige Bank verfügt, die ihr hilft, eine Niederlage in der ersten Runde zu vermeiden. Diese politische Lebensversicherung besteht aus drei linken Politikern, der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, dem Kommunisten Fabien Roussel und vor allem dem Grünen Yannick Jadot. (GERADEZU berichtete schon am 14. März 202 über diese Handlanger-Allianz.) Die drei genannten Akteure würden dies zwar weit und empörend von sich weisen, viele Franzosen gehen ihnen dennoch nicht mehr auf den Leim ihrer faulen und beschämenden Ausreden. Frau Hidalgo, womit wir bei Frau Cheblis politischer Familie wären, ist angeblich eine Sozialistin. Ihres Zeichens somit Sozialdemokratin, also Genossin von Frau Chebli und liegt bei Umfragen um 1,5 bis 2 Prozent aussichtslos und ohne Chance hinten. Viele Franzosen, von Stadt- und Landbevölkerung über Intellektuelle bis zu einfachen Bürgern aus dem gesamten linken Spektrum flehen Hidalgo, Jadot und Roussel an, doch auf ihre Kandidaturen zu verzichten, die Spaltung der Linken aufzugeben, um dem einzig aussichtsreichen linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon mit ihren Prozenten in die Stichwahl zu helfen. Besonders die Aufrechterhaltung der kläglichen Hidalgo-Kandidatur dient jetzt nur noch der Mélenchon Verhinderung und dem Sprung von Marine Le Pen ins Finale.
Die Sozialdemokratin Hidalgo hat natürlich gute Gründe. Mélenchon ist Kämpfer für die kleinen Leute, ein vehementer Gegner neoliberaler Politik und will den Superreichen ans Leder. So etwas ist mit Sozialisten und Sozialdemokraten natürlich nicht zu machen. Wir kennen so etwas in Deutschland, von Ebert bis Schröder. Wie schrieb Peter Panter am 19.07.1932 in der Weltbühne: „Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.“ (Falls vergessen: Peter Panter = Kurt Tucholsky.) Jedenfalls könnte doch die Genossin Chebli flott ihren Horizont weiten und von Sozialdemokratin zu Sozialdemokratin abfragen, warum eine vorgebliche Sozialistin ihren Anteil leistet, dass Marine Le Pen die Stichwahl erreicht und ein linker Kandidat scheitert? Vielleicht lernt Frau Chebli dabei nichts über Menschen, aber sicher etwas über Sozialdemokraten. Noch schlimmer als Frau Hidalgo kommt der Grüne Spitzenmann Yannick Jadot daher. Ein selbstverliebter Möchtegerngroß, in der Rolle des Spalters der Linken in Frankreich. Deswegen ist Jadot äußerst beliebt in neoliberalen Kreisen. Viele sehen ihn in den nächsten Jahren als Minister unter dem Präsidenten Macron. Jadot beharrt ebenfalls auf seiner aussichtslosen Kandidatur, die ihm ca. 6 Prozent der Stimmen bringen wird, was Mélenchon wohl die Stichwahl kostet, somit Le Pen den Einzug in selbige ermöglicht. Wer am Wahlabend die Stimmen der linken Aufsplitterung zusammenzählt, der wird schnell feststellen, es hätte gereicht, um Frau Le Pen die von Frau Chebli so angstvoll erwartete Stichwahl zu verwehren. Dies sollte sich Frau Chebli einfach vor Augen führen, bevor sie nochmals die große Besorgtheit und Fassungslosigkeit in die Welt trompetet und die Franzosen dafür in ihre moralische Haftung nimmt. Einfach an die sozialdemokratische Nase fassen und sich einmal im linken Lager Frankreichs umschauen, das dortige Versagen und Falschspiel begreifen, um dann die Realität anzuerkennen.
Da Frau Chebli also „manchmal Menschen nicht versteht“ und dieses Kopfschütteln Richtung Frankreich sendete, muss sie sich leider noch etwas anhören. Weil ihre Wortmeldung natürlich implizieren sollte, nur Emmanuel Macron wäre die richtige Wahl und mit Le Pen ginge die Welt unter. Präsident Macron hielt genau eine Wahlkampfkundgebung ab, geschlossene Halle und 30.000 Zuhörer. Mehr gab es vom Präsidenten der Republik nicht. An der TV-Debatte aller Kandidaten nimmt er nicht teil, zwang allerdings die Sender per Verordnung, Versatzstücke aus seinen Reden einzuspielen. Ein Affront gegenüber den Menschen in Frankreich. So etwas ist das Gebaren eines Monarchen. Nun beruft sich Macron gerne auf de Gaulle und Mitterrand. Außenpolitisch bewahrt er einigermaßen deren Geist der außenpolitischen Eigenständigkeit Frankreichs. Innenpolitisch fehlt ihm deren feines Gespür für die Franzosen. Er entlarvt sich immer mehr als der kühle Investmentbanker, der er vor der Präsidentschaft war. Ein Berufsbild, dem Menschen und Schicksale so egal wie Not und Elend. Die Rechte Le Pen wie der Linke Mélenchon beackern dagegen Plätze und Straßen, sind fast täglich dort, wo es Franzosen nicht nur gut geht. Mélenchon dabei ein Massenphänomen, dessen Wortgewalt und Argumente Marktplätze und Hallen füllen, seine Zuhörer begeistern. Ein Publikumsmagnet. (Mit der Hilfe eines Hologramms tritt er mittlerweile zeitgleich an unterschiedlichen Orten in Aktion.)
Eine andere Auffälligkeit in diesem Wahlkampf, wie stark Marine Le Pen in den einstigen Arbeiterhochburgen reüssiert, die fast ein ganzes Jahrhundert den Sozialisten die Treue gehalten haben und die von deren Politik bitter enttäuscht, betrogen und verlassen worden sind. Als die institutionelle Linke in Frankreich, die Sozialisten, die Grünen und die Kommunisten allmählich aufhörten, über Armut und Ausbeutung zu sprechen, wandten sich große Teile dieser davon betroffenen Gesellschaftsschicht der Rechten und vor allem Marine Le Pen zu. Hier ein besonderer Gruß an die Sozialistin Hidalgo im noblen Pariser Rathaus und an die über die Franzosen herablassend wundernde Sozialdemokratin Chebli in Berlin. Jenes von Frau Chebli eher von oben herab hingeworfene „eigene Leid“, welches die Franzosen beschäftigt, treibt die Menschen in Frankreich völlig berechtigt mehr um als die Ukraine, was mit Blick auf Lebensverhältnisse der Unterschicht logisch und legitim. Eine deutsche Sozialdemokratin mit den Pensionsansprüchen einer Staatssekretärin kann so etwas natürlich schwerlich verstehen. Um das alte französische Proletariat und die Verlierer des neoliberalen Zeitalters in Frankreich bei deren Überlaufen zu Marine Le Pen begreifen zu können, wäre Frau Chebli gut mit einem Buch bedient. „Rückkehr nach Reims“ vom Autor Didier Eribon. Daraus könnte sie alles lernen, was ihr offenkundig in Sachen Frankreich fehlt. Der Autor Didier Eribon schreibt über den Niedergang der Arbeiterklasse aus dem eigenem Erleben seiner Familie. Eribon ist übrigens ein vehementer Kämpfer und Unterstützer für Mélenchon und prangert die zerstörende Verhaltensweise von Jadot und Hidalgo oftmals an. Am 2. April 2022 twitterte er: „Stimmen wir gegen die wirtschaftliche und soziale Gewalt des Macronismus und am 10. April für Jean-Luc Mélenchon.“
Mélenchon wird übrigens in Deutschlands Medien so ähnlich diffamiert wie einst Jeremy Corbyn in seinem Wahlkampf gegen Boris Johnson. Die Hamburger Wochenzeitung Zeit entblödet sich nicht, von einer „röhrenden Stimme“ zu sprechen, das Handelsblatt hantiert mit dem hierzulande so gern gebrauchten Denunziantenbegriff vom gefährlichen „Linkspopulisten“. Marine Le Pen kommt in Deutschland noch schlechter weg, wird im Wahlkampf von der politischen Konkurrenz auch nicht geschont, dennoch in Frankreich weder von den Mitbewerbern noch von der Bevölkerung so verzerrt gesehen, wie deutsche Medien es möchten und suggerieren. Längst ist Le Pen, wie eben nur noch Jean-Luc Mélenchon, eine ernsthafte Gegenspielerin von Präsident Macron, mit großem Anklang in der Bevölkerung. Macron hat beide stark gemacht, weil er die Franzosen mit neoliberalen „Reformen“ der Marke Schröder/Blair überziehen wollte und sich nicht um die Unterschicht kümmerte. Resultat waren die landesweiten Proteste der „Gelbwesten“. Aus deren Reihen rekrutieren sich heute viele Wähler von Le Pen und Mélenchon. Le Pen hat dabei den Vorteil einer gespaltenen Linken, was wiederum für Mélenchon ein fataler Klotz am Bein. Macron entzieht sich seinen politischen Gegnern, stellt sich kaum noch den Fragen politischer Journalisten und speist die Franzosen mit der bereits erwähnten einmaligen Wahlkampfveranstaltung ab. Von der Nähe zu den Bürgen hat er sich längst verabschiedet. Im großen Unterschied dazu agieren Mélenchon wie Le Pen am Puls der Zeit und sind enorm volksnah. Mélenchon der gewaltige Redner, Le Pen eine gute Zuhörerin. Beide gewinnen mit unterschiedlichen Charaktereigenschaften viele Sympathiepunkte vor allem bei den einfachen Leuten. Weder Mélenchon noch Le Pen, die schon im Wahlkampf 2017 die Klingen kreuzten, werden in Frankreich als Untergang des Abendlandes angesehen oder stehen im Verdacht, Frankreich nach dem Amtseid an Putin auszuliefern. Beide gelten als gewichtige Kandidaten gegen einen innenpolitisch enttäuschenden Präsidenten.
Le Pen wie Mélenchon würden außenpolitisch der NATO und der EU wesentlich mehr auf die Finger schauen und Brüssel nicht Carte blanche geben. Frankreichs eigenständige Verteidigungsfähigkeit bliebe bei beiden bewahrt. Diplomatie auch gegenüber Putin wäre weiterhin Option französischer Politik. Vom Konflikt und Krieg in der Ukraine nicht zu Getriebenen werden oder sich fremdbestimmt dazu machen lassen, scheint eine Gemeinsamkeit ähnlich dem typisch französischen Festhalten an der Unabhängigkeit gegenüber den USA. Außenpolitisch stehen sich die französischen Präsidenten der Nachkriegsära eher nah. Diese Kontinuität über de Gaulle, Pompidou, Giscard d’Estaing, Mitterrand und in großen Teilen auch von Macron konnte selbst von Fehlbesetzungen wie Hollande und Sarkozy nicht zerstört werden. Fehden liefen immer in den innenpolitischen Themenfeldern, welche für Franzosen bei ihrer Wahlentscheidung stets eminent wichtig. Die Unterschiede zwischen Le Pen und Mélenchon sind vor allem auf den Feldern der Sozial-, Gesellschafts-, Innen- und Wirtschaftspolitik gravierend und fundamental. Der Riss durch die aktuelle französische Gesellschaft wird durch Betrachtung dieser beiden Pole erkennbar. Wir werden darauf in einem gesonderten Beitrag eingehen. Es gibt natürlich noch andere Bewerber. Auf der rechten Seite des Kandidatenspektrums tummeln sich die Konservative Valérie Pécresse und der rechtsradikale Journalist Éric Zemmour. Beide mit deutlich besseren Aussichten als das beschämend peinliche Trio Infernal aus Hidalgo, Jadot und Roussel auf der angeblich linken Seite. Dieses und noch sehr viel mehr muss Frau Chebli völlig durchgegangen sein. Sie versteht die Menschen in Frankreich nicht, weil sie keinerlei Ahnung von deren Leben und den dortigen Verhältnissen hat. Dennoch fühlte sie sich berufen, ihr Werturteil abzugeben. Vielleicht sollte sie so etwas in anderen Fällen von Unkenntnis künftig unterlassen und sich die Dinge erst aneignen, bevor sie darüber palavert.
Zum Abschluss noch eine Petitesse der ulkigen Art. Ein in französischer Politik offenkundig ähnlich bewanderter Zeitgenosse wie Frau Chebli, verkündete ebenfalls in der Angelegenheit etwas über Twitter. Dario Schramm, einstmals Boss bei der Bundesschülerkonferenz, twitterte wörtlich: „Wenn Le Pen auch noch in Frankreich übernimmt Wander ich zum Mond aus.“ Die Auswanderungspläne von Herrn Schramm sind wirklich nicht des Berichtens wert, eines allerdings schon. Herr Schramm ist ebenfalls Sozialdemokrat. (Ob dieser Genosse jemals etwas von der Genossin Anne Hidalgo gehört hat, ist uns bisher nicht bekannt.)
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