Kultur

Zum Buch greifen (Geschenk- und Lesetipps)

Bücher können sich behaupten und haben unsere Aufmerksamkeit weithin verdient. In Zeiten von Weihnachten und Jahreswechsel, eventuell mit einem erneuten Lockdown im Bereich des Möglichen, können sie der Entspannung, der Ablenkung, vielschichtiger Erkenntnis, dem profanen Spaß oder neuen Sichtweisen wie alten Weisheiten dienen. Alles, was das Herz und der Kopf begehren, ist zwischen Buchdeckeln zu finden. Oftmals weniger, manchmal sogar mehr. Auch als Geschenk kann man mit einem Buch Wertschätzung zum Ausdruck bringen. Deswegen folgen hier einige Tipps und Anregungen, bewusst außerhalb der rauf und runter verbreiteten Bestsellerlisten, die ohnehin jedem zugänglich.

Max Goldt

Sein berühmtes Zitat kennt jeder, es gehört sozusagen zum Kanon der Anständigen in diesem Land: „Die Bild-Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muss so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zulässt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun.“ Natürlich ist dieser Autor wesentlich mehr. Als Schriftsteller und Typ entzieht sich Max Goldt der Selbstbespiegelung eines gaukelnden Literaturbetriebs völlig. Er geht dahin, wo ein Schriftsteller hingehört, zu seinen Lesern. Durchs Land touren und den Leuten aus seinen Geschichten und Alltagsbeobachtungen vorlesen, darin sieht Goldt seine Aufgabe und Berufung. Er trägt so gut vor, wie er schreibt. Alltägliches, so profan es sein mag, ist seine große Meisterschaft. Ob nun ein Kinobesuch am Kinotag oder die Beobachtungen während eines Hotelfrühstücks, Goldt durchschaut die Menschen und interessiert sich noch für die unscheinbarste Schrulle. Wir Menschen sind letztendlich skurrile und eher lächerliche Wesen, die sich in dieser Lächerlichkeit gerne aufblasen und genau dabei die Geschichten liefern, die Goldt so saftig aufschreiben kann. Wer bei dieser Lektüre nicht auch lachen kann, dem ist nicht mehr zu helfen. Großartige Unterhaltung für alle Lebenslagen.

Upton Sinclair und John Dos Passos

„Der Dschungel“ zeigt auf, was das industrialisierte Schlachterhandwerk Tieren antut und sagt dabei viel über Menschen. Was Upton Sinclair 1905/06 über die Schlachthöfe von Chicago zu Papier brachte, ist eines der ehrlichsten Bücher der Literaturgeschichte und gleichzeitig fantastisches Panorama von Einwandererfamilien in die USA und deren täglichen Überlebenskampf. Vor allem hat es nicht an Aktualität verloren, wenn wir an diverse Skandale deutscher und internationaler Fleischbarone denken. Sinclair hat den Typus Tönnies schon vor über 100 Jahren entlarvt. Alles, was den Menschen ausmacht, ist im „Dschungel“ zu finden. Das Leid kaum erträglich und der darin doch nie verzagende Lebensmut faszinierend. Was mit einer großen Hochzeit beginnt, spart die darauf folgenden Schatten nicht aus. Sinclair schreibt nicht fürs Gemüt und Seelchen, er schreibt für Menschen über reale Menschen in ihrer ganzen Not wie in ihrer bescheidenen Freude. Dieser „Dschungel“ kann als Anklageschrift gegen Tierquälerei und Ausbeutung, aber auch als großer Unterhaltungsroman gelesen werden. Er wird auf allen Feldern mitreißender und spannender Literatur gerecht.

In der „USA-Trilogie“ von John Dos Passos finden sich die Romane „Der 42. Breitengrad“ (1930), „1919“ (1932) und „Das große Geld“ (1936). Mit Liebe zu seinen Figuren und einer tollen Gabe der Beschreibung, durchsetzt mit durchaus humoristischen Elementen, bietet uns der Autor einen Blick auf eine Gemeinschaft, die eigentlichen nie ein richtiges Land im herkömmlichen Sinne werden konnte. Das Dasein seiner Protagonisten verbindet Dos Passos mit Ereignissen der Zeit, lässt dafür wie bei einem Dokumentarfilm auch Zeitungsmeldungen über große und kleine Ereignisse einfließen. Wer die Gründungsmythen der USA, ihren Weg zur Weltmacht und die heutigen Verwerfungen begreifen und verstehen will, der sollte sich diese Bücher unbedingt aneignen. Die USA und ihre Menschen pur und unverstellt.

Noch eine Trilogie. Aber was für eine! Diese kommt in drei gewichtigen Bänden daher und ist wohl das beste Stück Literatur, welches im 21. Jahrhundert bisher geschrieben. In der Reihenfolge „Wölfe“ (2009), „Falken“ (2012) und „Spiegel und Licht“ (2020) erleben wir die atemberaubende Meisterschaft historischer Romankunst. Geschichte und Fiktion vermischen sich zu etwas Grandiosem. Für den Autor dieser Zeilen ist Hilary Mantel auf Basis dieser drei Bücher die mit Abstand außergewöhnlichste und beste Schriftstellerin unserer Zeit. Es sind solche Bücher und Autoren, die den Nobelpreis verdienen, ihn aber nie bekommen. In Hilary Mantels Trilogie begegnen wir Thomas Cromwell (1485 – 1540). Nicht zu verwechseln mit Oliver Cromwell, der hundert Jahre später einen englischen Monarchen köpfen ließ und in der Republikphase der Insel Lordprotektor von England, Schottland und Irland war. Thomas Cromwell war für England vielleicht sogar folgenreicher. Er bekämpfte den Papst und nahm ihm und seinen Pfaffen sämtliche Ländereien und Besitztümer, verjagte den Katholizismus aus England, schuf eine neue Kirche, stampfte Gesetze und Regeln aus dem Boden, gab diesem brutalen Durcheinander Ordnung. Alles natürlich im Namen seines blutrünstigen wie liebestollen Herrschers und Königs Heinrich VIII. Cromwells geistiger Zweikampf bis auf ihren Tod mit Anne Boleyn ist einer der fulminanten Höhepunkte der Trilogie. Dieser Thomas Cromwell stieg vom armen Sohn eines Hufschmieds zum mächtigsten Mann nach dem König auf. Eigentlich unmöglich in dieser Zeit der Hofschranzen von Geblüt und Geburt. Dafür hassten ihn nicht nur der Papst in Rom, sondern auch die königlichen Höfe Europas und vor allem der verdorbene und degenerierte Adel Englands. Selten hatte ein Politiker in der Menschheitsgeschichte wohl mehr Feinde auf sich gezogen und wandelte mitten unter diesen. Dazu ein wankelmütiger und Frauen mordender König, dessen geile Gelüste oft die politischen Erfordernisse bestimmten. Dieser absolute Monarch hatte wenig mit der verklärenden Romantik von TV-Serien der Marke „The Tudors“ gemein. Eine Menge Glatteis für jeden, der auf dieses Parkett gelangte. In dem Spannungsfeld machte sich Thomas Cromwell keine Illusionen. Er wusste um die Begrenztheit der ihm verfügbaren Zeit. Und so begleiten wir seinen unfassbaren Aufstieg, der einzig seiner Intelligenz zu danken, aus dem Blick seiner Innensicht auf die Ereignisse und Menschen um ihn herum.

Schuf literarisches Gold und pure Weltliteratur: Hilary Mantel (Screenshot: Waterstones Interview)

Wie Hilary Mantel dies bewerkstelligt, ist einmalig in der Weltliteratur und fasziniert auch in der deutschen Übersetzung. Man spürt es schon von der ersten Seite an, wie man sich in einem kostbaren Meisterwerk befindet. Ihr historisch verbürgter Cromwell organisiert alles und jedes. Inklusive natürlich der Ehen und Scheidungen seines Königs. Selbst unter Zuhilfenahme von Henker und Schafott. Am Ende besteigt er selber dieses und verliert durch das Beil auch seinen Kopf. Bis zu dem Zeitpunkt hat er England aber verändert wie wohl niemand vor und niemand nach ihm. Hilary Mantel hat ihn aus dem historischen Abseits geholt und ein atemberaubendes Denkmal gesetzt. Es lesend zu bestaunen ist ein Privileg und nicht immer ganz einfach. Herausfordernde Literatur, die Aufmerksamkeit und Konzentration erfordert. So man dazu bereit, gibt es eine geistige Bereicherung, die weit über ein Buch und Literatur hinausgeht. Hilary Mantel hat in Cromwell ihren Stoff gefunden. Wir sollten dafür dankbar sein.

Tagebücher: Fritz J. Raddatz und Erwin Strittmatter

Beide nicht mehr unter uns. Zwei Tagebuchschreiber aus dem Elfenbeinturm der Literatur und weit weg, wenn sie dies auch beide bestreiten würden, vom Alltag eines Otto Normalverbraucher. Der eine (Fritz J. Raddatz) König des Feuilletons, Kritikergenie, Tucholsky-Herausgeber und noch vieles mehr. Der andere (Erwin Strittmatter) wohl bedeutendster und meistgelesener Schriftsteller der DDR. Der Westler Raddatz mit Ostanfängen, ein Mann von Welt und Umgang, scharfe Feder und noch schärfere Zunge, basierend auf einem enormen Intellekt. In allem schnell, manchmal zu schnell, dann auch ein schlampiges Genie mit Stockfehlern, die ihm von niederen Geistern gerne vorgerechnet wurden. Der Ostler Strittmatter, ein bedächtiger und schlauer Bauerntyp mit Hof und Pferden, ein Naturliebhaber nebst dörflicher Gerissenheit. Seine Bücher lasen die Menschen, weil er sich einer einfachen Sprache in vollendeter Schönheit bediente. Der Mann und die Frau von der Straße verstanden und verstehen diesen Autor. Beide gehörten zur intellektuellen Elite. Raddatz in Ost und West und Strittmatter im Osten. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein. Ihre sehr unterschiedlichen Tagebücher sind Spiegel deutsch-deutscher Verwerfungen und unserer Teilung, natürlich lebendige Kulturgeschichte, vor allem Einblick in den deutschen Literaturbetrieb der BRD wie der DDR. Da beide nebenher vorzügliche Lästermäuler und Tratschtanten, kommt der Leser auf seine Kosten. Raddatz wie Strittmatter bejammern sich gern auch selbst. Manchmal ersaufen sie fast in diesem Selbstmitleid. Den Gehalt der jeweiligen Tagebücher mindert dieser Schönheitsfehler nicht. Wer etwas über unser Land erfahren möchte, der ist mit diesen beiden Aufschreibern gut beraten und wird außerdem auf hohem Niveau abwechslungsreich unterhalten.

Erich Kuby

Bei Erich Kuby denken viele Leute umgehend an die Edelnutte Rosemarie Nitribitt. Deren reales Leben wie ihren dubiosen Tod im Wirtschaftswunderdeutschland goss der Journalist Kuby unter dem Titel „Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind“ in einen Roman. Längst Teil der Kollektivgeschichte deutscher Vergangenheitsbewältigung und Entlarvung des Mythos vom Wirtschaftswunder. Hier soll allerdings ein anderer Kuby empfohlen werden. Der legendäre Autor Kuby als famoser Beobachter, Soldat und Zeitzeuge im 2. Weltkrieg, der in seinem Kriegstagebuch „Mein Krieg“ schonungslos zu Papier brachte, was er sah und erlebte. Keine Illusionen, keine Reinwaschung und keine Schönfärberei. Früh hat Kuby die Mörder erkannt und sich später nicht hinter Floskeln oder dem kollektiven „nichts gewusst und nichts gesehen“ versteckt. Die große Lüge von der anständigen Wehrmacht war mit Erich Kuby nicht zu machen. Wer wissen will, was Krieg bedeutet, der sollte Kuby lesen. Jene, die heute wieder dümmlich mit den Säbeln rasseln, sollten zuallererst einen Blick in Erich Kubys Aufzeichnungen werfen. In seiner Artikelsammlung „Mein ärgerliches Vaterland“ begegnen wir einem der besten und außergewöhnlichsten Journalisten, die es nach dem Krieg in Deutschland gab. Seine besten Artikel erneut zu lesen bereitet Vergnügen, bildet enorm und ist außerdem hautnaher Geschichtsunterricht. Zudem bekommt man bei Kuby eine Vorstellung, was Journalismus einmal war und mit welcher Qualität dieser daherkam. Kuby ist einer der ganz wenigen, die den Vergleich mit Tucholsky standhalten. Wer es nicht glaubt, sollte Erich Kuby lesen und wird danach zu keinem anderen Ergebnis kommen.

Ewige Weltliteratur

Es gibt Bücher, die sollte man besitzen oder zumindest einmal im Leben gelesen haben. Zeitlose Weltliteratur, ewig gültig und von einer Qualität, die alles überdauert. Vielleicht bis ans Ende unserer Tage.

John Steinbecks „Früchte des Zorns“ von 1939 zeigt uns Ausbeutung auf der untersten Stufe, das Schicksal von Wanderarbeitern und deren täglichen Kampf ums nackte Überleben. Das Phänomen kennen wir bis heute. Wir sind nicht in Katar auf einer WM-Baustelle, die Szene spielt in den USA der Depression. Was dort der Familie Joad zustößt, wegen nicht mehr zahlbarer Zinsen alles zu verlieren, ist in unserer heutigen Welt lebendig wie eh und je. Welch kalte Brutalität, die an den Tag legen, die Geld und das Land besitzen und welch Erniedrigungen jene erdulden, die nichts haben, wird von Steinbeck großartig auf die Seiten gebracht. Seine Sprache fasziniert und wirkt wie ein Sog. Die menschliche Wärme und den Anstand, der sich bei den Armen finden lässt, den beschreibt Steinbeck fast zärtlich, die Rohheiten des Lebens erschütternd, die Kargheit von Landschaft mit biblischer Emphase. Ein besserer Roman ist in der Geschichte der USA vielleicht nie geschrieben worden. Ein Buch von Wucht und Größe.

„Reise ans Ende der Nacht“ von Louis-Ferdinand Céline führt uns in die Gräben und auf die Straßen des 1. Weltkrieges in Frankreich, aber auch in eine Irrenanstalt. Bei Céline ist der Mensch selten edel, hilfreich und gut, sondern vielmehr des Menschen ärgster Feind. Der Roman aus dem Jahr 1932 ist aufgebaut wie eine TV-Serie und kommt eher im Episodenformat daher als in einer durchgehend schlüssigen Handlung. Zu bewundern ist die Sprachgewalt dieses sehr umstrittenen Autors. Natürlich seine Fähigkeit, jeder verlogenen Bürgerlichkeit die Maske vom Gesicht zu reißen. Dieser Unhold Céline konnte schon gut schreiben.

Mit dem „Radetzkymarsch“ hat Joseph Roth 1932 wohl die österreichischen Buddenbrooks geschrieben. Seine Familie Trotta spiegelt das Habsburger Reich in seinem Verfall und Untergang, die letzten Zuckungen der Monarchie. Alle haben das morbide k. u. k. Reich in den Knochen und der Seele. Aufhalten können sie nichts. Wollen nicht erkennen, was unvermeidlich. Deshalb gehen sie einem Alltag nach, der vor ihren Augen zerbröselt und machen gehorsamste Miene zum bösen Untergangsspiel in allen verfügbaren und längst überkommenen Ritualen der Habsburger. Nie ist der schleichende, aber unaufhaltsame Verfall einer Gesellschaft und eines Staatswesens plastischer beschrieben worden. Nicht laut polternd, sondern still und leise geht das Land und die Monarchie dem Grab entgegen. Wie Roth dieses langsame Siechtum beschreibt und dabei jede Person seines Romans vor unseren Augen lebendig macht, hat eine Höhe, die in der Literaturgeschichte so nur wenige erreichten. Ein großer Roman, ein großes europäisches Buch. Der Begriff Weltliteratur greift bei diesem Werk fast zu kurz. Unserem Europa von heute sollte es zur Mahnung gereichen.

Ein Verstand braucht Bücher, wie ein Schwert den Schleifstein.

(George R. R. Martin)

*Titelbild: Luisella Planeta Leoni auf Pixabay

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