Kultur

Chandler, Marlowe, Mitchum

Selbstverständlich war Raymond Chandler manchmal ein Trinker. Er rauchte auch gern Pfeife. Galten Tabak und Alkohol einst als sophisticated sind sie heute verpönt und verteufelt. Der kontrollierte Suff, oftmals auch der unkontrollierte, stand Kreativität nie im Weg. Natürlich wankt jedes übertriebene Laster immer am Rande des Abgrunds. Schriftsteller hin oder her. Der Krimiautor James M. Cain benannte das Problem nüchtern wie prosaisch: „Normalerweise können Sie an der Höhe seiner Schnapsrechnung erkennen, wann es mit einem Schriftsteller bergab geht.“ Wer bei Kippe und Schnaps abwinkt und nur edel und nüchtern durchs Leben, der werfe den ersten Stein. Hier soll nicht gesteinigt, sondern gewürdigt werden. Ernest Hemingway und William Faulkner waren Alkoholiker, die ihre Nobelpreise literarisch absolut verdient hatten. Joseph Roth, vielleicht der beste Autor deutscher Zunge, starb im Delirium. Malcolm Lowry trank, was das Zeug hielt und schuf mit „Unter dem Vulkan“ das faszinierende Porträt des sich Richtung Tod saufenden Konsuls Geoffrey Firmin. Ein literarisches Meisterwerk. Beim Stichwort Meisterwerk sind wir wieder bei Chandler, dem König im Reich der Kriminalautoren. Chandlers Krimis waren allesamt zudem Literatur. Was er zu Papier brachte, ist längst in den Kanon der Kriminal- und Weltliteratur eingegangen. Mögen die Gralshüter einer überkommenden Hochkultur darüber die Nase rümpfen, wie und wo sie wollen.

Noch ohne Handy unterwegs. Marlowe (Robert Mitchum) ermittelt.

Chandler schuf mit dem Privatdetektiv Philip Marlowe jene Art von Figur, die ähnlich den Figuren seiner Kollegin Agatha Christie, Miss Marple und Hercule Poirot, losgelöst von ihrem Schöpfer, ein unsterbliches Eigenleben annehmen und bis heute lebendig führen. Marlowe ist allerdings aus anderem Holz als Agatha Christies Detektivlegenden. Miss Marple, die gebildete alte Dame mit einem hohen Faktor an Neugier und Trotz wie auch Hercule Poirot, der verschrobene Schöngeist mit dem Hang zum Edlen und einer legendären Spürnase, besitzen wie ihr Kollege Marlowe ebenfalls Weltruhm. Miss Marple stolpert eher zufällig in Morde und Verbrechen. Den Belgier Hercule Poirot, der immer für einen Franzosen gehalten wird, engagiert man für viel Geld, damit er seine kleinen grauen Zellen aktiviert. Bei Miss Marple darf die Tee-Zeit nicht fehlen, bei Poirot nicht das Dinner in feinen Salons. Beide würden in der Welt des Philip Marlowe arg fremdeln. Marlowe trinkt keinen Tee, sondern lieber Whiskey aus der Büroflasche, er speist nicht edel, isst zwischendurch beim Chinesen um die Ecke. Er weiß sich recht ordentlich zu kleiden, seine Markenzeichen sind der Trenchcoat und breitkrempige Hüte. Marlowe steht im Telefonbuch und bekommt oft Kunden, die selbst 20 Dollar nicht bezahlen wollen. Die Ausbeute des Tages oft spärlich. Des Öfteren ist er daher ziemlich abgebrannt. Seine Selbstbeschreibung lapidar: „Ich bin lizenzierter Privatdetektiv und mach das schon eine ganze Weile. Ich bin ein einsamer Wolf, unverheiratet, in mittleren Jahren und nicht reich. Ich war mehr als einmal im Gefängnis und bearbeite keine Scheidungsfälle.“

Kundschaft beim Essen. Marlowe bekommt Besuch von Moose Malloy.

Im ersten Roman („The Big Sleep“) der Marlowe-Reihe aus dem Jahr 1939 ist dieser Marlowe 33 Jahre alt. Merkwürdigerweise ändert Chandler daran nichts mehr, lässt Marlowe in keinem der folgenden Bücher altern, deren letztes 1958 (Playback) erscheint. Für Geburtstage hätte Marlowe auch keine Zeit noch die nötige Muße. Er ist ein kräftiger Kerl, der austeilen und einstecken kann, hat wohl dunkelbraunes Haar und braune Augen bei einer Größe von 184 cm. Philip Marlowe raucht Pfeife wie sein Schöpfer. Vor allem genießt er Zigaretten und trinkt bevorzugt Whiskey. Der Bourbon liegt im Schubfach des Schreibtisches, als Stärkung immer in Griffweite. Er spielt ab und an zum Zeitvertreib alte Schachpartien nach. Marlowe ist in einem bestechlichen Umfeld ein Unbestechlicher, ein harter Hund, der sentimentale Schübe hat, sich Melancholie gönnt und kleine Fische auch mal laufen lässt. Marlowe für einen Moment näherzukommen, soll hier an „Farewell, My Lovely“ aus dem Jahr 1940 versucht werden. Der zweite Roman um Marlowe vielleicht nicht so legendär wie „The Big Sleep“ (1939) und so ausgereift wie „The Long Goodbye“ (1953). Für den Verfasser dieser Zeilen allerdings der ultimative und beste Marlowe. Chandler in Hochform. Der deutsche Titel erschien 1958 unter dem Namen „Betrogen und gesühnt“, seit 1980 dann in der 1zu1 Übersetzung „Lebwohl, mein Liebling“. 1975 eine kongeniale Verfilmung ebenfalls unter dem Buchtitel „Farewell, My Lovely“, im deutschen Verleih reißerischer „Fahr zur Hölle, Liebling“.

Auf diesen Roman und jenen Film soll nun der Blick fallen. Es gibt natürlich Unterschiede in Handlung, Dramaturgie und bei den Personen. Diese verschwimmen allerdings auf wunderbare Weise. Einige Personen lässt der Film wegfallen, andere bündelt er oder wandelt ihre Story ab. Doch nie werden der Stil und Geist von Chandler missbraucht oder verfälscht. Eine großartige Leistung der Drehbuchautoren und des Regisseurs. Chandlers Figuren wirken im Film so glaubhaft und unmittelbar wie in der Romanvorlage. Ein korrupter Polizist wird im Buch von Marlowe ständig als Hemingway verspottet. Der so angesprochene und hart erscheinende Kerl kapiert nichts und wird nur wütend. Was man durchaus als äußerst ironische Spitze Chandlers gegen den Macho und Großwildjäger Hemingway verstehen kann. Es gab nicht wenige Zeitgenossen, die es hinter vorgehaltener Hand flüsterten, Chandler schreibe besser als Hemingway. In der Sprache von Knappheit und Direktheit sowie dem völligen Verzicht auf Verzierungen und Wortgirlanden ähneln sie sich in der Tat. Gegeneinander auf- und abwägen sollte man zwei Meister ihres Fachs nicht.

Alkohol befördert die Erinnerung und lindert den Abstieg. Sylvia Miles als Jessie Florian.

Die Polizistenfigur Hemingway bei Chandler sagt an einer Stelle: „Keiner kann ehrlich bleiben, auch wenn er sich noch so anstrengt.“ Genau in dieser verdorbenen Welt versucht Marlowe Auskommen und Überleben. Auf die Einlassung einer Dame: „Man kann auch ein bisschen allzu unverfroren sein“ erwidert Marlowe: „Nicht in meinem Beruf.“ Beim einstigen Revuegirl Jessie Florian ist mit der Jugend auch jeder Glanz gewichen. „Ihre Stimme kam ätzend und schwerfällig aus ihrer Kehle – wie ein kranker Mann aus seinem Bett.“ Die trunksüchtige Witwe des längst toten Nachtklubbesitzers, mit ihrem neuen Radio im verwahrlosten Haus spricht die Zeit und die Atmosphäre an „Ich fühle mich wie das Tal des Todes“. Marlowe denkt sich dabei: „Sie tut aussehen wie ein toter Maulesel“ und hegt doch Sympathie für dieses Wrack. Marlowe hat eine Auge für Elend aber nie Verachtung für die Elenden. Das Haus, eher eine Absteige, macht der Optik von Frau Florian alle Ehre: „Lampen mit zerschlissenen, einst pompösen Schirmen, die jetzt so fröhlich wirkten wie überalterte Straßenmädchen.“ Es gibt noch ganz andere Frauen in Chandlers Universum. Vor allem die Gattin des mächtigen und einflussreichen Mr. Grayle, der allerdings für die junge Ms. Grayle arg alt, hat so ihre Tücken. „Ms. Grayle schlug ihre Beine übereinander; ein bisschen sorglos. Sie goss uns Scotch nach. Er schien ihr ebenso wenig anzuhaben wie Wasser einem Staudamm.“ Chandler kann Menschen und Erotik mit wenig Worten einfangen, davon profitiert Marlowe, davon profitiert der Leser. Marlowe verliert, falls er ab und an beeindruckt, zumindest nicht den Verstand: „Sie warf ihren Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Ich habe in meinem Leben nur vier Frauen gekannt, die das tun konnten, ohne an Schönheit einzubüßen. Sie war eine von ihnen.“ Dafür benötigen große Autoren manchmal drei Seiten. Chandler erledigt so etwas in drei Sätzen.

Noch kühl. Ms. Grayle (Charlotte Rampling) begutachtet Marlowe.

Als im Film Marlowe bei späterer Gelegenheit Ms. Grayle die Frage „Wo gehen wir hin?“ zuwirft, kommt die Antwort der Dame prompt: „Wozu? Alles was wir brauchen hast du dabei.“ Besser hätte es Chandler nicht hinbekommen. Wenn Mitchum im Film den Weg der unterkühlten Charlotte Rampling als Ms. Grayle kreuzt, erhitzt sich die Szenerie und entfalten sprühende Dialoge eine Art Magie. Ein Fest für jeden Filmfan. (Neben der Kamera mochten sich Mitchum und Rampling nicht sonderlich. Eben zwei Schauspieler und Menschen aus fremden Welten. Sobald die Kamera lief, umgehend Vollprofis.) Die brutale wie furchterregende Puffmutter Amthor wirkt im Film sogar stärker als der Quacksalber und Scharlatan Amthor im Buch. Der Kinnhaken, den Marlowe ihr als Gegenwehr für betonartige Ohrfeigen verpasst, der sie dennoch nicht von den Brettern holt, führt Marlow in einen unfreiwilligen Drogenrausch. Für Marlowe ein gelebter Albtraum, schlimmer als das sonstige Tagwerk. Im Buch wie im Film ziehen wir mit Marlowe durch das Los Angeles Anfang der Vierzigerjahre. Heruntergekommene Straßen mit billigen Absteigen. Philip Marlowe raucht viel, trinkt und wartet. Typisch Raymond Chandler. Sein Archetyp eines Privatdetektivs verfolgt die Schattenseiten dieser Stadt stoisch und ohne jede Illusion. (Die Filmmusik fängt diese Stimmung fantastisch ein.) Die reizende wie neugierige, nur im Roman vorkommende Anne Riordan hat viele Fragen an Marlowe und eine Feststellung: „Die Rechnungen Ihrer Freundinnen für Alkohol müssen toll sein.“

Wo der Film zur Größe der Buchvorlage wächst, ist Robert Mitchum als Philip Marlowe der Ausgangspunkt. Mitchum überstrahlt alles und lässt seinen Mitspielern dabei Platz zur Entfaltung. (Sylvia Miles liefert als Jessie Florian ein Kabinettstück, spielt eine der besten Rollen ihrer Karriere.) Wie Marlowe seinen Whiskey trinkt, die Zigarette anzündet, alles auf den Punkt. Mitchum schauspielert nicht, er ist Marlowe. Der Film macht „Farewell, My Lovely“ und Chandler lebendig. Die Charaktere viel wichtiger als die Story. Die Leute, denen Marlowe begegnet, sind oft Zerrbilder, manchmal groteske Figuren, fast immer zwischen gefährlich und wehrlos, dabei korrupt und moralisch hässlich. Die Frauen um Marlowe sind klug wie schön, manche von Alter und Leben gezeichnet, bei jeder Skrupellosigkeit halten sie eiskalt mit. „Farewell, My Lovely“ beginnt mit Liebe, die bedrohlich daherkommt. Der frisch aus dem Knast kommende Hüne Moose Malloy sucht seine Velma und beauftragt Marlowe mit der Findung. Suchhinweis „Velma ist süß“. Es erwächst daraus allerhand Schlamassel für den Privatdetektiv Marlowe. Die Schatten hinter ihm mehren sich, viele suchen mit nach Velma und haben dabei alle den Tod im Schlepptau. Mehr soll hier nicht verraten werden.

Robert Mitchum wird zu Philip Marlowe.

„Farewell, My Lovely“ bleibt eine zeitlose Kriminalstory und geht weit darüber hinaus. Als Film kommt er etwas altmodisch daher und ist dennoch großartiges Kino. Robert Mitchum zelebriert ein wahres Fest der Schauspielkunst. Ohne Aktion ist er einfach da und das Zentrum von allem. So etwas nannte man einst Leinwandpräsenz. Sein Marlowe wirkt müde, ausgelaugt und dennoch auf dem Sprung. Ein Mann, der allerhand erlebt und darin überlebt hat. Marlowe/Mitchum werden eins. Damit überflügelt Robert Mitchum sogar seinen alten Freund Humphrey Bogart, der 1946 in „The Big Sleep“ einen unwiederholbaren Marlowe für den Schauspiel-Olymp kreierte. So dachte man. Bis Mitchum diesem Marlowe neues Leben einhauchte. „Farewell, My Lovely“ wurde 1975 in Szene gesetzt und liegt damit eine Ewigkeit hinter uns. Seither ist kein glaubwürdiger Leinwand-Marlowe in Film oder Kino mehr aufgetaucht, die Latte liegt vielleicht zu hoch. Schwer vorstellbar, wer diesen Sprung noch einmal wagen könnte. Chandler (gest. 1959), Bogart (gest. 1957), Mitchum (gest. 1997), sie sind seit langer Zeit tot. Nur Marlowe lebt und wird dies weiter tun. Über ihn und sich sagte Chandler: „Wir sind so ehrlich, wie man es von Männern in einer Welt erwarten kann, in der Ehrlichkeit aus der Mode gekommen ist.“

Hinweis: Raymond Chandlers Romane um den Privatdetektiv Philip Marlowe gibt es im Diogenes Verlag. Den Film „Fahr zur Hölle, Liebling“ bekommt man als DVD und Blu-ray im Handel. Manchmal ist der Film auch im Angebot von Streamingdiensten.

*Die im Beitrag enthalten Screenshots stammen sämtlich aus der englischsprachigen Originalversion des Films „Farewell, My Lovely“ von 1975, produziert von der E. K. CORPORATION für United Artists.

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