Kultur

Frohe Ostern

Zu Weihnachten das Weihnachtsoratorium und zu Ostern natürlich die Matthäus-Passion. Einst Selbstverständlichkeit, heute immer öfter überkommenes Ritual. Für die Menschen unserer Gegenwart zu lang und auf den ersten Versuch schwierig wirkend, vor allem mit zu wenig Spaß behaftet. Und Spaß ist längst der neue und fast einzige Lebensmaßstab. Egal. Die abendländische Kultur hat Johann Sebastian Bach viel zu verdanken. Immer weniger Menschen greifen zwar darauf zurück, dennoch bleibt besonders die Matthäus-Passion ein grandioser Monolith der Zivilisation, gerade in Zeiten, wo diese an allen Ecken und Enden bröckelt. Bachs „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ bleibt gültig. Deshalb hier einige Tipps, es ist schließlich Ostern. Keine Werbung für Bach, die hat er absolut nicht nötig, seine Musik wird uns und unsere Zeit überdauern, überleben. Wie sagte Ludwig van Beethoven: „Nicht Bach, Meer sollte er heißen!“ Es gibt eine Flut von Einspielungen der Matthäus-Passion, man könnte es auch Überflutung nennen. Seit Tonträger die Ohren der Menschen erfreuen oder schrecken, steht auch Bach auf dem Zettel. Wer nicht ins Konzert kann, der hat eine große Auswahl, darunter viel Einerlei, viel puristisches Zeug unter dem Vorwand des Originalklangs und allerhand modernistische Varianten mit kleiner Besetzung und dünnen Stimmen. Kleine Chöre bleiben leider kleine Chöre, zu wenig Orchesterklang ist zu wenig Orchesterklang. Wer es so mag, der kann es finden. Alles erhältlich und jeder kann sich zu Gemüte führen, was seiner Hörgewohnheit entspricht. Damit möchten wir uns hier nicht aufhalten. GERADEZU empfiehlt einige Giganten, die etwas zeitlos Großes geschaffen und für uns alle zugänglich hinterlassen haben.

Karl Richter gilt als eine Art Maßstab für Bachinterpretationen, mit ihm kann man wenig falsch machen. Als ausgewiesener Spezialist, Richter dirigierte fast nur Bach, brachte er in München Bach zum Klingen und setzte diesem wie sich selbst ein Denkmal. Karl Richter war ein Aushängeschild für den Münchner Anspruch auf kulturelle Weltklasse, kam allerdings aus Sachsen, geboren in Plauen. Seine Matthäus-Passion liegt am Rande der Perfektion, ohne gekünstelt zu wirken. Die deutsch-deutsche Teilung galt nicht in der Klassik. Sogar in Zeiten der Mauer und des Kalten Krieges funktionierten Künstler zusammen und miteinander. Der berühmteste Evangelist der Klassikära, Peter Schreier aus Dresden, stand vor Ost- und Westmikrofonen. In einer Karl Richter Konkurrenz machenden Aufnahme singt Schreier mit Richters ehemaligem Dresdner Mitschüler Theo Adam in einer legendären Matthäus-Passion, die als absoluten Trumpf über die Klangwolken der Thomaner und des Dresdner Kreuzchores verfügt. In keiner Aufnahme ist die Sprache so verständlich, jedes Wort hörbar wie in diesem außerordentlichen Musikerlebnis. Für viele Klassikfans die beste Matthäus-Passion aller Zeiten.

Die ultimative Matthäus-Passion sehen andere Hörer in Otto Klemperers Aufnahme, welche wohl die berühmteste Besetzung und das beste Tonstudio im Rücken hatte. Produzent Walter Legge und EMI waren einst die Königsklasse der Tonaufnahmen in der Klassik. Klemperer setzt ruhige und breite Tempi, langsam wäre ein despektierliches Wort. Erhabenheit trifft es besser.

Klemperers Aufnahme enthält auch einen berühmten Patzer, der die Zeiten überdauert, technisch nie getilgt wurde. In einer erhabenen Sternstunde der Musikgeschichte, „Nun ist der Herr zur Ruh gebracht“, tritt ein Sängerquartett vor das Mikro, welches unvergleichlich. Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Nicolai Gedda, Walter Berry in voller Pracht. Doch dann passiert es. Als die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf „Habt lebenslang, vor euer Leiden tausend Dank“ ansetzt, ruckelt entweder irgendwer kurz einen Stuhl zurecht oder es kommt jemand ans Mikrofon. Wie auch immer. Aus unerfindlichen Gründen hat dieses unbedeutende Nebengeräusch es damit in die musikalische Ewigkeit geschafft. Eine lässliche und unerhebliche Sünde bei dieser Aufnahme, die ans Tor zum Himmel klopft. (Ironie der Geschichte. Walter Legge, der perfektionistische Produzent dieser Aufnahme mit dem Hang zum exzessiven Wiederholen jeder Unebenheit, war der Ehemann von Elisabeth Schwarzkopf.) Den Dirigenten Otto Klemperer wird es nicht gestört haben, er mochte nur Proben, Konzerte und Aufnahmen. Abhören war seine Sache nicht.

Ein akribischer Abhörer war dagegen Herbert von Karajan, dessen Aufnahmen der Matthäus-Passion ebenfalls eine Weltklasseangelegenheit, vor allem der Livemitschnitt aus dem Jahre 1950 wegen der unvergleichlichen Kathleen Ferrier und der in der Form ihres Lebens singenden Irmgard Seefried. In die Spitzenklasse gehört auch Eugen Jochum mit seiner berühmten Aufnahme in Amsterdam, was auch am Concertgebouw Orchestra liegt. Als Geheimtipp gilt die fantastische Aufnahme von Peter Schreier in der Doppelfunktion als Evangelist und Dirigent der Staatskapelle Dresden. In diese Aufnahme aus dem Jahr 1984 legte Schreier ein Leben voller Bach Erfahrungen. Es hat sich gelohnt für die Zuhörer. Schreiers Tempi sind klar und zügig. Wo Klemperer schwer und fast biblisch wirkt, empfindet man Schreier leicht und erdig. Unter den hier genannten Aufnahmen wird sich für jeden etwas finden lassen, was Ostern vielleicht ruhiger und bedächtiger macht. Wem eine Matthäus-Passion über fast vier Stunden (Klemperer) oder drei Stunden (Schreier) doch ein zu großer Brocken, der kann auf Auszüge oder die Chöre zurückgreifen. Die Chöre sind ein guter Einstieg. Es ist keine Schande, sich Bach langsam zu erobern. So oder so: Bach lohnt. Nicht nur zu Ostern.

FROHE OSTERN

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